Freitag, 19. April 2024

Archiv

Religion im israelischen Wahlkampf
"Ich kann mit allen Wahlsiegern leben"

In Israel wird am 9. April ein neues Parlament gewählt. "Die Religion spielt im Wahlkampf eine überraschend große Rolle", sagte der israelische Schriftsteller Chaim Noll im Dlf. Denn "möglicherweise entscheiden die religiösen Parteien die Koalitionsfähigkeit der einen oder anderen Seite."

Chaim Noll im Gespräch mit Andreas Main | 19.03.2019
Chaim Noll
Der israelische Autor Chaim Noll spricht im Dlf über die bevorstehende Wahl zur Knesset (Deutschlandradio/ Constanze Meyer)
Chaim Noll ist 1954 in Ost-Berlin als Hans Noll geboren. Er wuchs in einer atheistischen Familie auf - in der Nomenklatura der DDR. Sein Vater war der Schriftsteller Dieter Noll. Sein Sohn opponierte gegen ihn, gegen die Nationale Volksarmee und siedelte 1984 über nach West-Berlin. Nach Stationen in Rom zog er mit seiner Familie nach Israel, besann sich seiner jüdischen Wurzeln und wurde religiös. Seit 1998 ist er israelischer Staatsbürger und lebt im Süden des Landes - zunächst im Wüstenort Midreshet Sde Boker, dann in der Wüsten-Metropole Be’er Scheva und aktuell in Meitar. Mit Religionsfragen beschäftigte er sich unter anderem in seinem Roman "Die Synagoge", erschienen im Verbrecher-Verlag.
Andreas Main: Chaim Noll, welche Rolle spielt aus Ihrer Sicht die Religion bei der bevorstehenden Wahl zur Knesset, dem israelischen Parlament?
Chaim Noll: Eine überraschend große! Diesmal. Denn möglicherweise entscheiden die religiösen Parteien die Koalitionsfähigkeit der einen oder anderen Seite. So sieht es im Augenblick aus nach den Meinungsumfragen, dass tatsächlich die ultraorthodoxen Parteien, die sich ja wieder zu einem Wahlblock zusammengeschlossen haben, und die aus den Siedlerparteien hervorgegangenen nationalreligiösen Parteien eine ganz entscheidende Rolle spielen können.
Main: Die Frage wird also sein, wie stark die abschneiden, und ob die dann sozusagen genug Stimmen der Likud-Partei zuführen können?
Noll: Ja, wir wissen gar nicht, ob die Likud-Partei diesmal die Regierung bilden wird, denn nach den Umfragen liegt die Partei der Generäle, die von mehreren ehemaligen Generalstabschefs gegründet wurde, vorn und müsste dann nach dem Gesetz mit der Regierungsbildung beauftragt werden.
Ja, und dann entscheiden eben die Kleinparteien, ob sie genug Kleinparteien finden, um eine Koalition zu bilden. Wir haben dieses Mal die Situation, dass wir zwei große Blöcke haben, Likud auf der einen und auf der anderen Seite diese neue Partei, die sich Blau-Weiß nennt. Das ist ein Parteienzusammenschluss mit sehr vielen Generälen. Das ist ein bisschen beunruhigend, die Vorstellung, dass man eine Regierung hat, in der lauter ehemalige Generalstabschefs sitzen. Aber viele Leute finden das auch wieder sehr beruhigend, weil die Leute natürlich sehr viel von Sicherheit und so weiter verstehen. Die hat im Augenblick die meisten Stimmen nach den Umfragen, dann Likud.
Benny Gantz (2.v.l.) und Yair Lapid (3.v.l.) von der Partei der Generäle bei einem Pressetermin im Feburar 2019
Die Partei der Generäle liegt in den Umfragen derzeit vor Netanjahus Likud-Partei (imago stock&people/ UPI Photo)
Und dann gibt es eine ganze Reihe von Kleinparteien, und es liegt dann am Geschick bei den Koalitionsverhandlungen, wie viele von den Kleinparteien kriegt man in die Koalition.
"Die 700.000 Siedler wählen oft nationalreligiös"
Main: Wenn Sie sagen, dass die Religion in diesem Jahr eine relativ große Rolle spielt, dann setzt das ja ein bisschen voraus, dass Sie letzten Endes Religion identifizieren mit ultraorthodoxen Parteien und mit der nationalreligiösen Partei. Ist das nicht ein wenig auch eine Einschränkung von jüdischer Religion?
Noll: Na ja, das sind ja die entscheidenden Strömungen. Es gibt da noch eine Partei sephardisch-religiöser Juden, die Schas-Partei, wo wir aber alle nicht wissen, wie die abschneiden wird. Die hat sehr an Bedeutung verloren. Die entscheidenden religiösen Gruppen sind die ultraorthodoxen, die konstant immer ihre fünf, sechs Abgeordneten haben, und die Siedler, die ja nun inzwischen sehr, sehr viele Menschen sind.
Das ist etwas, was ein bisschen in Europa der Wahrnehmung entgangen ist, dass die Juden in den besetzten Gebieten, wie man in Europa sagt, sehr stark zugelegt haben an Zahl. Als wir herkamen, lebten dort 200.000 Juden. Jetzt sind es 700.000 mit Ost-Jerusalem. Und die stellen natürlich ein großes Wählerpotenzial dar; und die meisten von denen wählen eben naheliegenderweise Parteien, die ihre Siedlerinteressen vertreten. Das sind dann oft Nationalreligiöse.
Main: Aber was ist mit denen, die sich eher als liberal, aber vielleicht doch als religiös verstehen? Die haben offensichtlich gar keine – wie soll man sagen – keine Partei. Oder welche Rolle spielt diese Strömung in Israel?
Noll: Ja, das fängt an bei der Definition des Wortes "religiös".
Main: Darauf will ich hinaus. Das ist, finde ich, der entscheidende Punkt.
Noll: Das ist hier natürlich ganz anders als in Europa. Sie können davon ausgehen, dass hier ein großer Teil der Bevölkerung in einer Weise religiös ist, dass man in Europa schon religiös sagen würde. Hier aber noch nicht. Hier sagt man religiös erst, wenn jemand tatsächlich die Gebote hält, wenn er sich in seiner Lebensform einrichtet, den Schabbat zu halten, Koscher zu halten, die Feiertage zu begehen, in seinem Haus alle möglichen Einrichtungen zu treffen, um nach den Geboten zu leben. Das gilt hier als religiös.
Es gibt natürlich sehr viele Menschen, die - was man in Europa vielleicht gläubig nennen würde - die gläubig sind, aber sich nicht selbst in dem Sinne als Dati, als religiös betrachten und auch nicht einer religiösen Strömung anschließen, sondern dann als Einzelwähler irgendwo für sich wählen.
Und da gibt es Leute, die Links wählen und Leute, die Mitte oder Rechts wählen. Das ist dann jedem selbst überlassen. Aber die großen Interessengruppen, die sich durch die ultraorthodoxen Höfe einerseits, also die rabbinischen Höfe, und die Siedlerinteressen auf der anderen Seite ergeben, die geben den Ton an.
"Für mich ist jeder religiös, der an Gott glaubt"
Main: Sie sind in diesem Sinne Ihrer Definition religiös. Sie tragen Kippa, sind eindeutig erkennbar als religiöser Jude. Ist diese Definition aus Ihrer Sicht etwas zu eng? Im Englischen wird dann unterschieden zwischen religious jews und secular jews. Und das übersetzen wir dann in deutschen Medien mit religiösen Juden und säkularen Juden. Und da entsteht aus meiner Sicht doch auch ein Missverständnis. Wer ist für Sie ein religiöser Jude?
Noll: Persönlich gesehen – und jeder sieht es natürlich persönlich und das ist auch jedem selbst überlassen, wie er das sieht – sehr, sehr viele. Es gibt andere Leute, die sehen nicht so viele als religiös.
Ich kenne Menschen, die essen nicht im Haus ihrer Schwester, weil es ihnen dort nicht koscher genug ist. So was haben wir nie gemacht. Ich habe immer die Einheit des Volkes Israel wichtiger gefunden als solche kleinlichen Unterscheidungen, ob jemand in seinem Haus die Messer fleischig und milchig trennt oder ob sie zwei Kühlschränke haben oder was weiß ich. Hat mich nie interessiert.
Chaim Noll im Gespräch mit Andreas Main in der Wüste Negev in Israel
Chaim Noll im Gespräch mit Andreas Main (Deutschlandradio / Constanze Meyer)
Für mich ist jeder religiös, der an Gott glaubt. Wobei es im Judentum sehr offen ist, was wir darunter verstehen. Gott ist ja nicht präzisiert. Das ist ja gerade der jüdische Gottesbegriff, der eigentlich im Christentum nur von den Mystikern – also sagen wir Eckhart von Hochheim oder solchen Leuten – getroffen wird, die dann übrigens auch oft auf die Wüste als Metapher kamen. Eine Größe, die wir uns nicht vorstellen können, eigenschaftslos, geschlechtslos, alterslos und so weiter.
Es gibt keine Möglichkeit einer Figuration wie im Christentum. Von daher gibt es sehr viele Menschen, die auf irgendeine Weise glauben, es muss ja eben nicht eine bestimmte Figur sein, sondern es ist eine offene Frage. Die sind dann in meinen Augen auch religiös.
Wen wählt ein guter Jude?
Main: Das würde – mal ganz platt gefragt – dann die Konsequenz aus meiner Sicht haben, dass Sie auf keinen Fall sagen würden, eine gute Jüdin oder ein guter Jude kann nur Netanjahus Likud oder eine der religiösen oder nationalreligiösen Parteien rechts davon wählen?
Noll: Nein, so was ist Unsinn. Ein guter Jude ist jeder, der bereit ist, hier in diesem Land zu leben und etwas für das Land zu tun und hier zu arbeiten, seine Kinder zur Armee zu schicken, selbst zur Armee zu gehen. Da gibt es absurde Vorstellungen auch in sehr strikt religiösen Kreisen, die dann die Leistung der anderen einfach nicht anerkennen, die auf ihre Weise hier genauso beitragen, wie die, die eine Kippa aufhaben. Das spielt keine Rolle.
Wahlempfehlungen der Rabbiner?
Main: Sie sind in der DDR in einer sehr atheistischen Familie aufgewachsen. Sie kennen nicht das, was viele unserer Hörerinnen und Hörer wohl erlebt haben dürften, die im Westen aufgewachsen sind. Da gab es nämlich immer rund um Bundestagswahlen sogenannte, nein, es waren keine Wahlempfehlungen, aber man hörte dann in Kirchen – sofern man in diese ging –, was man zu wählen hat, übertrieben formuliert. Wie sieht es hier aus? Rabbiner oder Oberrabbiner, mischen die sich ein im Wahlkampf?
Noll: Ja, die mischen sich ein in verschiedenem Grad. Die ultraorthodoxen Wähler werden tatsächlich von ihren Rabbinern instruiert, wen sie wählen sollen. Da sie ihren Rabbinern in allen Fragen folgen, wählen sie dann auch die Parteien, die die Rabbiner ihnen sagen. Deshalb kann man auch die Wählerschaft der Ultraorthodoxen vorher schon berechnen - ungefähr. Man weiß: Soundsoviele Knesset-Abgebordnete kommen da immer heraus, weil diese und jene ultraorthodoxen Höfe ihre Wähler sozusagen geschlossen schicken und die wählen die dann auch. Sonst ist es sehr viel komplizierter.
Da gibt es auch sehr unterschiedliche Meinungen bei den Rabbinern. Die Rabbiner sind ja zum Glück überwiegend verschiedener Meinung, nicht? Und die haben auch verschiedene politische Interessen. Da gibt es welche, die gehen zur Likud und da gibt es welche, die gehen zur religiösen Partei. Aber es gibt auch Rabbiner in der Awoda oder in linken Parteien. Da kann sich dann jeder seins suchen.
"Israel ist kompliziert, hier gehen Dinge andere Wege"
Main: Aber von der Tendenz her kann man sagen, säkular gleich Tel Aviv, gleich links und Jerusalem gleich religious, gleich religiös, gleich rechts?
Noll: Funktioniert nicht. Dazu ist Israel zu kompliziert. Hier gehen die Dinge andere Wege. Und die Menschen machen hier eigentlich weitgehend, was sie persönlich für richtig halten. Wenn sie nicht in einem ultraorthodoxen Hof organisiert sind oder auf andere Form gebunden, dann macht hier jeder am Wahltag, was er will.
"Einmischung durch Staatsrabbiner - so schlimm ist es nicht"
Main: Und hört eben auch nicht auf das Oberrabbinat. Chaim Noll, Schriftsteller in Israel. Wir sitzen in der Wüste. Dass Israel der demokratischste Staat in der Region ist und dass drum herum lange nichts kommt, was annähernd so demokratisch ist - also wir sitzen hier in einer Oase der Demokratie - das wird wohl niemand leugnen. Dennoch, um noch mal aufs Oberrabbinat zu kommen, würden Sie den Einfluss des Oberrabbinats zurückdrängen wollen im Sinne einer stärkeren Trennung von Staat und Synagoge?
Noll: Ich halte den nicht für besorgniserregend. Es gibt natürlich immer wieder Fälle, wo man sich ein bisschen ärgert über die Einmischung vonseiten des Staatsrabbinats. Es gibt ja hier ein Staatsrabbinat, das dann eben Entscheidungen trifft in Fragen, in halachischen Lebensfragen, Hochzeit, Beerdigung. Da gibt es dann immer wieder Augenblicke, wo man denkt, das geht sie eigentlich nichts an und … schön, aber so schlimm ist es nicht.
Es ist nicht irgendwie bedrückend. Man muss sich auch nicht danach richten. Ja, wer nicht mit dem Segen eines Rabbiners heiraten will, kann ins Ausland gehen und das dort machen. Niemand ist gezwungen, sich den Weisungen des hiesigen Rabbinats zu unterwerfen. Das ist eine ganz freiwillige Entscheidung.
David Lau, Oberrabbiner des Staates Israel im November 2013 in Berlin. (Foto: Maurizio Gambarini / dpa)
David Lau, aschkenasischer Oberrabbiner in Israel (dpa / Maurizio Gambarini)
Main: Sie haben Alija gemacht als Deutscher, als Berliner, als Jude, der nach Israel ausgewandert ist und dann auch noch in Wüstenorte, um es mal so zu formulieren. Damit stehen Sie im Kontrast zu jenen, die eher, ja, in Tel Aviv einem hedonistischen Lebensentwurf frönen. Wie ist es für Sie, um es mal auch vielleicht für Hörer und Hörerinnen in Deutschland verständlich zu machen, wie wichtig ist Ihnen diese Kombination aus Nationalem und Religiösem?
Noll: Ja, das Religiöse ist eigentlich, wenn man genau hinschaut, im Judentum per se national in dem Sinne, dass das Leben hier im Land auch von der Lage der Gebote her als die höchste Lebensform gilt. Nach halachischen Gesichtspunkten ist ein Jude, der hier in Israel lebt … erfüllt mehr Mitzwot, schon durch seine Anwesenheit …
Main: Also, gute Taten?
Noll: Ja, Gebotserfüllungen sind hier mehr möglich, sodass von daher das Religiöse stark mit dem Land und der Nation verbunden ist. Aber das muss nicht so sein. Sie können auch viele andere Formen finden.
"Nicht jeder Jude kann und muss in Israel leben"
Main: Denn an dem Punkt springen Ihnen sonst auch reformerisch gesinnte Juden in der Diaspora, die ihre Gemeinden pflegen, im Zweifelsfall an den Hals und widersprechen ihnen.
Noll: Na ja, widersprechen können sie kaum. Es ist tatsächlich so, dass nach der religiösen Gesetzeslage, nach den Tora-Gesetzen viele Gebote nur hier im Land erfüllt werden können. Wenn man wirklich sehr aufs Religiöse aus ist, müsste man eigentlich hier leben. Ein sehr, sehr religiöser, toratreuer Jude - für den ist eigentlich das Leben in Israel die Krönung, denn hier kann er am meisten Gebote erfüllen.
Aber nun kann nicht jeder hier leben und es muss auch nicht jeder hier leben. Und wir wissen auch aus der Geschichte, dass die Stärke Israels eigentlich immer bestanden hat in der Polarität von Land und Diaspora. Es hat in der Geschichte auch Situationen gegeben, wo die Diaspora die hier lebenden Juden gerettet hat. Im Jahr 70 zum Beispiel sind 100.000 versklavte Juden, die aus Judäa deportiert wurden von den Römern, dann von den Diaspora-Gemeinden gekauft worden und damit aus der Sklaverei befreit.
Wir haben Erinnerungen aus der Geschichte, wie wichtig auch die Diaspora ist. Deshalb wird auch kein Israeli sich gegenüber Diaspora-Juden hinstellen, außer vielleicht sehr beschränkte Leute, und sagen, ich bin ein besserer Mensch als ihr. Sie haben dort ihrs zu tun - und wir machen hier unsers. Aber nach der religiösen Gesetzeslage ist es tatsächlich so, dass das Leben hier im Land sozusagen die Krönung und die Vollendung des Religiösen darstellt.
Verbreitete Haltung: "Die in Tel Aviv tun nichts für den Süden"
Main: Leben hier im Land, das bedeutet an diesem konkreten Ort, an dem wir sitzen: Leben in der Wüste unter einem blauen Himmel am Rande eines Kraters, von dem aus wir bis nach Jordanien gucken können. Dieses Land, diese Wüste, macht das sogar was mit der Wahlentscheidung?
Noll: Das weiß ich nicht. Aber vielleicht doch insoweit, dass in Be’er Scheva und hier im Süden etwas rechter gewählt wird als in Tel Aviv und in Haifa. So weit würde ich gehen, dass hier die Wahlergebnisse für Likud und solche Parteien natürlich in Be’er Scheva besonders durch die Russen … dann liegt es auch daran, dass sich der Süden lange vernachlässigt gefühlt hat. Awoda-Regierungen haben wenig für den Süden getan. Das muss man mal sagen. Ich bin schon lange …
Chaim Noll
Der Süden Israels habe sich lange vernachlässigt gefühlt, sagte Noll im Dlf (Deutschlandradio / Andreas Main)
Main: Also, die Arbeiterpartei?
Noll: Ja. Linke Regierungen haben wenig für den Süden getan. Der Likud hat zwar auch nicht viel für den Süden getan, aber auf anderem Wege hatten dann die Leute das Gefühl, die in Tel Aviv machen nichts für uns. Es ist ein Problem immer noch von der Struktur des Landes, dass sich tatsächlich in diesem Merkaz, wie wir das nennen, also im Zentrum des Landes, in diesem Großraum Tel Aviv, dreieinhalb Millionen Menschen drängen. Und die leben da sehr eng und gedrängt in Hochhäusern, während hier unten riesige Flächen noch unbewohnt sind und von daher auch die Förderungen und Gelder hier unten spärlich eintrafen. Da war lange Rivalität.
In letzter Zeit hat sich das stark geändert und der Süden wird enorm ausgebaut – schon, weil das Zentrum des Landes eigentlich voll ist, man dort die Häuserpreise nicht mehr bezahlen kann. Sie können in Tel Aviv kein Haus mehr bezahlen. Sie können dort eine Zwei-Zimmer-Wohnung vielleicht … also, so ein Haus, wie das, in dem wir jetzt hier sitzen, dafür kriegen Sie in Tel Aviv noch eine Ein-Zimmer-Wohnung oder so bei dem Preis. Und das ist auch ein Grund, warum viele Leute in den Süden gehen und die Interessen des Südens annehmen, ja. Die sind anders als die in Tel Aviv.
"Ich kann mit allen Wahlsiegern leben"
Main: Abschließend, für Sie als religiöser Jude, als Schriftsteller, als Einwanderer, ist das für Sie jetzt eine Schicksalswahl - oder können Sie mit allen potenziellen politischen Wahlsiegern leben?
Noll: Ich kann mit allen Wahlsiegern leben. Und es waren schon schwierigere Wahlen hier. Als Schicksalswahl in dem Sinne habe ich es nie verstanden, weil ich eigentlich ganz sicher war, dass am Ende immer eine Regierung rauskommt, die den Interessen des Landes dient. Und welche Partei das auch immer ist, die Leute sind alle hier aufgewachsen. Also, die Tonangebenden - die waren hier bei der Armee, die haben für das Land etwas getan. Ich vertraue denen eigentlich allen. Also, ich vertraue auch linken Parteien, auch, wenn ich sie nicht wähle. Und, wenn die an die Macht kommen, dann macht mir das auch nichts.
"Netanjahu hat verkrustete Strukturen aufgebrochen"
Main: Nehmen wir mal an, Premier Netanjahu hätte es am 09. April – flapsig formuliert – er hätte es hinter sich und er würde abgewählt, welches Zeugnis würden Sie ihm ausstellen?
Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu während einer wöchentlichen Kabinettssitzung im Oktober 2018
Der israelische Ministerpräsident Netanjahu (EPA Pool / AP / Abir Sultan)
Noll: Er hat in einer entscheidenden Situation sehr viel für dieses Land getan. Das war während der Intifada. Ich glaube, seine entscheidende Leistung war als Finanzminister unter Scharon. Damals hat er die verkrusteten Strukturen der Awoda-Partei, die auf Gewerkschafts- und Genossenschaftsprinzipien, also noch auf halb sozialistischen Strukturen basierten, aufgebrochen und damit die Start-up-Kultur in Israel möglich gemacht, die uns dann letztlich wirtschaftlich gerettet hat.
Während der Intifada haben wir hier draußen gelebt. Es war eine sehr arme Zeit. Israel war sehr arm. Es gab eine schlimme Wirtschaftskrise. Das Land hatte sich auch, wie viele mittelöstliche Länder, zu sehr auf den Tourismus verlassen. Der brach dann zusammen. Der war fast bei null, aufgrund der ständigen Terroranschläge. In dieser Zeit sind viele junge Leute arbeitslos geworden – auch Absolventen. Und da war es dann entscheidend, ob die Möglichkeiten für sie, selbst Firmen zu gründen, ob da viel Bürokratie im Weg stand. Also, das hat Netanjahu damals aus dem Weg geräumt. Er hat es für Start-ups sehr leicht gemacht.
Wir haben das wirklich hier im Süden erlebt. Be’er Scheva ist heute eine Hightech-Stadt, und zwar in der Zeit geworden, seit Netanjahu Finanzminister ist. Das muss man sagen. Also, das war, glaube ich, sein größtes Verdienst.
Dann ist er offenbar ein sehr geschickter Außenpolitiker. Er hat Israel außenpolitisch enorm vorangebracht. Er hat die Beziehung mit China, Indien, Afrika sehr ausgebaut. Wir müssen nicht immer nach Europa schauen. Also, die Beziehungen sind immer etwas ambivalent, um nicht zu sagen, gelegentlich schlecht. Aber die Beziehungen zu anderen Erdteilen hat Netanjahu, also zum Beispiel zu Afrika, enorm ausgebaut. Und das bedeutet für die israelische Wirtschaft riesige Aufträge, denn da gibt es natürlich viel zu tun. Angefangen von Bewässerung bis zu anderen Dingen. Also, er hat Israel wirtschaftlich sehr vorangebracht. Das ist ja auch, worauf er sich immer beruft.
Aber er hat natürlich jetzt zehn Jahre lang regiert. Da hat eigentlich niemand etwas dagegen, wenn es mal jemand anders versucht.
"Die einen werden reich - die anderen nicht"
Main: Und egal, wer es wird, was wird aus Ihrer Sicht das große Thema für eine künftige Regierung?
Noll: Die Sicherheit, nach wie vor. Die Ökonomie läuft sehr gut. Das ist jetzt nicht so das Problem im Augenblick. Die Sicherheit und die soziale Gerechtigkeit. Das sind zwei sehr wichtige Dinge.
Das Land ist reich geworden. Damit entstehen soziale Ungerechtigkeiten. Die entstehen komischerweise immer nur, wenn Geld da ist. Wenn alle arm sind, geht es noch. Aber jetzt werden die einen reich und die anderen nicht. Sie haben hier also total unterbezahlte Berufe. Lehrer werden hier sehr schlecht bezahlt. Und andererseits verdienen junge Hightech-Leute riesige Summen und werden reich, sehr schnell. Da entstehen soziale Spannungen. Das muss abgebaut werden. Ein Problem ist der Immobilienmarkt nach wie vor und die Preise. Wir haben enorme Preissteigerung. Die Immobilienpreise steigen vor allem wegen der großen Nachfrage ausländischer Juden. Da sind vor allem die französischen Juden jetzt das Hauptproblem, die hier in großer Menge Immobilien kaufen. Aus Angst und Unsicherheit in ihrem Land fühlen sie sich bedroht.
In der Nähe der jüdischen Siedlung Ariel im Westjordanland spricht eine Palästinenserin mit einem israelischen Soldaten  
Sicherheit und soziale Gerechtigkeit - nach dem Wahlkampf die zentralen Themen für die neue Regierung, so Chaim Noll. (AFP)
Das ist auch Europas Versagen, das wir hier spüren, dass sich die Juden in Europa nicht mehr sicher fühlen. Das merken wir dann hier sofort auf dem Immobilienmarkt. Das hat dann zur Folge, dass viele junge Israelis sich eben keine Wohnung mehr kaufen können, wie das früher möglich war. Und da entstehen dann natürlich Spannungen und so. Da muss sich die Regierung kümmern. Und das andere ist das ewige Thema der Sicherheit der Landesverteidigung. Insofern ist eine Partei, in der mehrere Generalstabschefs zusammen sind, dann für dieses Thema erst mal die richtige Partei. Aber man muss darauf achten, dass sie sich auch um die soziale Frage kümmern.
Main: Chaim Noll, danke Ihnen für dieses Gespräch hier in der Wüste Negev.
Noll: Sehr schön, ich freue mich sehr.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.