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Religion im Werk von Kurt Schwitters
"Der Kirchturm türmt"

Vor 100 Jahren, im Winter 1918/19, erfindet Kurt Schwitters seine eigene Kunst-Gattung: Merz. In seinen Texten und Collagen wimmelt es von religiösen Motiven: Kirchen stehen Kopf, ein "Rudel Engel" lobt den Herrn - und die Zehn Gebote ersetzt Schwitters durch sein berühmtestes Gedicht.

Ein Essay von Leonie Krutzinna und Christian Röther | 02.01.2019
    Kunst statt religiöser Symbole - das Grab von Kurt Schwitters auf dem Stadtfriedhof Engesohde in Hannover
    Kunst statt religiöser Symbole - das Grab von Kurt Schwitters auf dem Stadtfriedhof Engesohde in Hannover (Deutschlandradio / Christian Röther)
    "Ich bin der Herr, dein Gott. Du sollst nicht andere Götter haben neben mir."
    Hannover im Juni 1920. An Litfaßsäulen und Hauswänden prangen die Zehn Gebote, dazu eine weitere Ermahnung:
    "Irret euch nicht, Gott lässt sich nicht spotten!"
    Nicht erwähnt wird, dass dieser Satz ebenfalls aus der Bibel stammt, aus einem Paulusbrief. Hinter der Aktion stecken der Künstler Kurt Schwitters und sein Verleger. Acht Tage später lassen sie neben die Zehn Gebote ein Gedicht von Schwitters plakatieren: "An Anna Blume".
    "Oh Du, Geliebte meiner 27 Sinne, ich liebe Dir! / Du, Deiner, Dich Dir, ich Dir, Du mir, ---- wir? / Das gehört beiläufig nicht hierher!" (An Anna Blume, 1919)
    Die beiden Plakate sorgen für Aufruhr im Nachkriegs-Hannover und über die Stadtgrenzen hinaus. Der "Niedersächsische Volksbote" wettert:
    "Zwei Mächte ringen miteinander um die Volksseele. Hier Christentum und dort der Geist der Zersetzung."
    "Lass sie sagen, sie wissen nicht, wie der Kirchturm steht." (An Anna Blume, 1919)
    "Ich erlebe meine Gottähnlichkeit nun nicht mehr"
    Kurt Schwitters wird 1887 in Hannover geboren.
    "Leider etwas zu früh, denn ich erlebe meine Gottähnlichkeit nun nicht mehr." (Daten aus meinem Leben, 1926)
    Nach dem Abitur besucht er in Hannover die Kunstgewerbeschule, studiert dann an der Kunstakademie in Dresden. Im Ersten Weltkrieg muss er ein paar Monate Schreibtätigkeiten ausführen, bis man ihn für untauglich befindet.
    "Im Krieg da hat es furchtbar gegoren. Was ich von der Akademie mitgebracht habe, konnte ich nicht gebrauchen." (Kurt Schwitters, 1930)
    Eine Museumsmitarbeiterin geht am 02.06.2016 im Sprengel Museum in Hannover (Niedersachsen) an einem Bildschirm mit dem Konterfei des hannoverschen Künstlers Kurt Schwitters vorbei.
    Eine Fotografie im Sprengel Museum Hannover zeigt Kurt Schwitters (Deutschlandradio / Jana Demnitz)
    Vor dem Krieg malt Schwitters naturalistisch, er dichtet formkonventionell. Im Krieg jedoch verändert sich seine Kunst grundlegend, hin zum Experimentellen und Abstrakten. Oder wie Schwitters es ausdrückt:
    "Vom Abmalen zum Malen." (Kurt Schwitters, 1927)
    "Ich bin Maler. Ich nagle meine Bilder." (Schwitters zitiert nach Richard Huelsenbeck)
    Schwitters‘ Kunst überwindet – dem künstlerischen Zeitgeist entsprechend – die althergebrachte Ordnung.
    "Kirchen türmen, lastet steil! / Gluten Mensch wuchtet lasten Sonne" (Erhabenheit, 1919)
    Der Krieg ist für den Künstler auch privat eine Zeit der Umbrüche: 1915 heiraten Kurt Schwitters und Helma Fischer. Ein Jahr später wird ihr erster Sohn geboren, doch er stirbt bereits nach wenigen Tagen.
    "Glut blutet Gluten bluten Blut. Merz grünen Sturm hinan die Uhren. Der Kirchturm türmt ein Wüstling krallen Krallen." (Das große Dadagluten [Eine Leichenfeier.], 1920)
    "Ich nannte es Merz"
    Zum Kriegsende 1918 kommt der zweite Sohn zur Welt. Etwa zur gleichen Zeit gibt Schwitters seiner Kunst den Namen "Merz" – eine Silbe, die beim Collagieren entsteht.
    "Ich nannte es Merz, es war aber mein Gebet über den siegreichen Ausgang des Krieges, denn noch einmal hatte der Frieden wieder gesiegt." (Kurt Schwitters, 1930)
    Merz sprengt die Gattungsgrenzen von Literatur, Malerei, Typografie, Musik, Architektur. Und Merz ist für Schwitters mehr als Kunst:
    "Merz ist Weltanschauung." (Merz, 1924)
    "Jetzt nenne ich mich selbst MERZ." (Kurt Schwitters, 1927)
    "Kurt Merz Schwitters." (oft verwendete Unterschrift)
    "Merz ist befähigt, einmal, in einer noch unabschätzbaren Zukunft die ganze Welt zu einem gewaltigen Kunstwerk umzugestalten." ([Die Bedeutung des Merzgedankens in der Welt], 1923)
    Ein Auszug aus der "Ursonate" von Kurt Schwitters war in einer 2013 gezeigten Ausstellung in der Tate Britain in London zu sehen.
    Ein Auszug aus der "Ursonate" von Kurt Schwitters war in einer 2013 gezeigten Ausstellung in der Tate Britain in London zu sehen (imago/ZUMA Press)
    Nicht nur Kurt Schwitters hofft damals auf die erneuernde Kraft der Kunst. Der Erste Weltkrieg verschärft die Krise des Bürgertums, und eine Antwort darauf ist der Dadaismus: Er will progressiv sein und die überkommene Ordnung zerstören. Dabei bewegt er sich zwischen kindlicher Regression und provozierender Destruktion, indem er sich dem Sinngehalt der Sprache verweigert. Schwitters wird damals wie heute zum Dadaismus gezählt, widerspricht aber:
    "[Ich] gelte als Dadaist, ohne es zu sein."(Daten aus meinem Leben, 1926)
    "Merz hat nichts zu schaffen mit den Albernheiten von DADA." ([Merzfrühling], 1924)
    "[Es kommt] mir mehr auf das Bauen [an] als auf die Scherben" (Kurt Schwitters, 1930)
    "Die Wahrheit über Anna Blume. Halleluja!"
    Auf Krieg und Krise folgt für Schwitters der größte Erfolg in seiner Karriere als Künstler: 1919, sein Gedicht "An Anna Blume".
    "Man kann dich auch von hinten lesen, und du, du / Herrlichste von allen, du bist von hinten wie von vorne: / ‚a - n - n - a‘." (An Anna Blume, 1919)
    Anna Blume macht Schwitters bekannt im In- und Ausland. Er wird diskutiert, angefeindet und bewundert – offenbar ein erhebendes Gefühl. An einen Freund schreibt er mehrere Briefe mit pseudo-religiösem Pathos:
    "Geliebter Bruder in Anna!" (Brief an Christof Spengemann, 10.04.1920)
    "Geh hin in alle Welt und zeuge die Wahrheit, die einzige Wahrheit, die es gibt: die Wahrheit über Anna Blume. Halleluja!" (Brief an Christof Spengemann, 18.11.1920)
    Auch in anderen Texten erhebt Schwitters Anna Blume zur Göttin, zum neuen Jesus Christus:
    "Ein Mensch verlangt die Hinrichtung Anna Blumes. Hinrichten wuchtet Kreuzigung. Anna Blume kreuzigen hinrichtet Euch." (Hinrichtung, Merzgedicht 9, undatiert, um 1919)
    Will Schwitters das Christentum durch seine Kunst ablösen? Ist Merz – Schwitters neue Kunstform – die neue Religion? Noch eine weitere Schwitters-Arbeit lässt sich so deuten: ein Postkartenmotiv im Stil des Abendmahls, auf dem Tisch ein Buch, man hält es für die Bibel. Doch auch hier verbannt der Künstler die jüdisch-christliche Botschaft. Zu lesen ist auf der ‚Bibel‘ stattdessen:
    "Ich liebe dir / ANNA"
    "Das Sichversenken in Kunst kommt dem Gottesdienst gleich"
    "Man kann im Leben nur eine Sache vollkommen machen. Entweder es ist Religion, oder Kunst oder Sozialismus. Solche Dinge erfordern den Menschen ganz." (Brief an Christof Spengemann, 24.07.1946)
    Das schreibt Schwitters ein Jahr vor seinem Tod, und es liegt auf der Hand, für welche der drei Alternativen er sich entschieden hat.
    "Kunst ist immer geformter Ausdruck religiösen Erlebens." (Erklärung, 1920)
    Viele Aussagen von Kurt Schwitters scheinen die Kunst zur Kunstreligion zu überhöhen: die Kunst als metaphysisch-sinnstiftende Instanz.
    "Die Kunst ist eine geistige Funktion des Menschen mit dem Zwecke, ihn aus dem Chaos des Lebens ... zu erlösen." (Manifest Proletkunst, 1923)
    "Das Sichversenken in Kunst kommt dem Gottesdienst gleich in der Befreiung des Menschen von den Sorgen des Alltags." (Ich und meine Ziele, 1931)
    Seit dem 18. Jahrhundert werden Künstler in Deutschland teils gottgleich verehrt, als geniale Schöpfer heiliger Werke.
    "Beiliegende Kathedrale betrachte als Dein Eigentum, und lies oder höre darin Deine Merzmessen." (Brief an Roland Schacht, 27.11.1920)
    Eine Museumsmitarbeiterin geht am 17.11.2008 durch eine Rekonstruktion des Merzbaus des Künstlers Kurt Schwitters in der Ausstellung "Hannover in den Zwanzigern" im Sprengel Museum in Hannover.
    Eine Rekonstruktion der "Kathedrale des erotischen Elends" im Sprengel Museum Hannover (picture alliance / dpa / Peter Steffen)
    Manch ein Künstler inszenierte sich auch selbst als göttliches Genie. Mit dieser Selbstinszenierung spielt Schwitters – etwa, wenn er die Literatur- und Kunstkritik zurechtweist:
    "An alle Kritiker: … Bescheiden horche er ... auf die Stimme Gottes, der durch den Künstler aus dem Kunstwerk spricht. … Fromm falte der Kritiker seine Tintenfinger zum Gebete." (Tran Nr. 26. An alle Kritiker, 1922)
    Schwitters veralbert die Kunstreligion und metareflektiert sie – typisch für die Moderne. Auch seine Obsession für das Religiöse lässt sich so deuten: Er verarbeitet die Kunst- und Kulturgeschichte. Die Meister haben Madonnen gemalt, also merzt Schwitters mit der Mutter Gottes.
    "Wir malen das heilige Bild vom Menschen"
    Zugleich heiligt er seine Kunst, indem er zurückgreift auf religiöse Symbole, Themen und Motive. Sein Hauptwerk, ein Raumkunstwerk in seinem Wohnhaus, erhebt er zur Kathedrale – und nennt es "Kathedrale des erotischen Elends".
    "[Adam] dachte: ‚Wenn ich mir jetzt eine Zigarette anzünden könnte!‘, ohne sich darüber klar zu sein, dass es damals solche Genüsse noch nicht gab. … ‚Der Kaffee ist angerichtet!‘, flötete jetzt Eva mit süßer Stimme." (Geschichten aus dem Paradies, undatiert, um 1938)
    Auffallend häufig bearbeitet Schwitters das Paradies.
    "Für jedes Vergehen gibt es im Paradiese eine Strafe, und zwar sofort. Und darum passiert im Paradiese so selten etwas Böses, weil jedes Böse sich sofort selbst bestraft." (Der Hahnepeter, 1924)
    Schwitters "entformelt" die religiösen Motive aus ihren eigentlichen Kontexten und setzt sie neu zusammen. "Entformelung" ist ein künstlerisches Prinzip von Schwitters. Er bedient sich bei allem, was er in den Kopf und in die Finger bekommt – bis hin zu Abfall, den er auf der Straße findet.
    "Wir malen mit dem sog. Dreck ..., der ehemals Ding und Ding und Ding war, malen ein Bild – das Bild des Glaubens an die Wiederauferstehung, an die Heimholung der Dinge, an die Verkündigung der großen Ordnung, in der all das, was lebte und starb, ein Ding war und Dreck wurde, seinen drecklosen Ort finden wird. … Wir malen das heilige Bild vom Menschen."
    So zitiert der Zeitgenosse Lothar Schreyer aus einer Rede von Kurt Schwitters. Unabhängig davon, ob Schwitters diese Sätze so, ähnlich oder gar nicht gesagt hat: Sie bringen sein "Merzgesamtkunstwerk" auf den Punkt. Aufgesammeltes, Aufgeschnapptes wird bei Schwitters zur heiligen Reliquie. Merz bedeutet: Die Auferstehung der Dinge aus dem Dreck, um als Kunst ewig zu leben.
    "Aus nichts schuf Gott die Welt. Meint ihr, dass der Mensch die Welt in nichts zurückschaffen muss?" (Zitiert nach Lothar Schreyer)
    Zugleich nimmt Schwitters dem Religiösen die Heiligkeit: Die Mutter Gottes ist für ihn nicht mehr oder weniger wert als ein Fahrschein, den er auf der Straße findet. Er klebt sie gleichberechtigt nebeneinander. Schwitters erniedrigt, was anderen heilig ist – und erhöht zugleich, was andere wegwerfen. Diesem künstlerischen Prinzip der Umkehrung folgend stellt er auch den Menschen über Gott:
    "Was der Mensch trennt, soll Gott nicht zusammenfügen." (Brief an Christof und Lusie Spengemann, 17.07.1946)
    "Wir sehen Gott in jedem Ding"
    Die religiösen Motive in Schwitters‘ Werk stammen fast ausschließlich aus dem Repertoire des Christentums. Nur selten bedient er sich bei anderen religiösen und mythologischen Traditionen – etwa wenn der römische Gott Amor seine Pfeile verschießt; oder wenn er mit Versatzstücken aus Judentum und Islam merzt.
    "Merz bedeutet Beziehungen schaffen, am liebsten zwischen allen Dingen der Welt." (Merz, 1924)
    Schwitters schafft auch Beziehungen zwischen Religion und Politik. In einem Bühnenstück bearbeitet er die beginnende Judenverfolgung.
    "Isaac Rotwein kommt herein … Rotwein ist zerbrochen, dass er nicht mehr liefern soll, Juden dürfen nicht mehr liefern. Nationale Front verlangt es. … Rotwein ab." (Johanna Paulsen: vom Morgen bis Mittag, undatiert, um 1933)
    "Wir sehen Gott in jedem Ding. / Sind wir auch arm, die Welt ist reich. / Und sind wir voll Verzweiflung: / Gott schuf die Welt, damit wir hoffen können." (Frühling, undatiert, um 1924-25; fast identisch: Hoffnung, 1934)
    Das klingt nicht nach experimenteller Merz-Dichtung, findet sich aber ebenfalls in Schwitters‘ Nachlass. Einige Passagen seiner Texte erinnern tatsächlich an fromme Kirchendichtungen.
    "Der Weg ist hell, wenn wir ihn gehen wie ein Kind an Gottes Hand." ([So ist der Weg], 1935)
    Eine religiöse Tendenz der Zwischenkriegszeit schreibt sich hier ein ins Werk: der Wunsch, an der Religion festhalten zu können – obwohl der Krieg in vielen Menschen Glaubenszweifel weckte.
    "... weil in die Kirchen doch niemand mehr hineingeht"
    "Aber der liebe Gott hat doch Geld, und er ist überall, warum nicht bei uns?" (Die gelbe Blume, undatiert, um 1935)
    Auch das findet sich bei Schwitters: die Krise von Glauben und Kirche. Vielleicht stehen die Kirchen in seinen Collagen deshalb so häufig auf dem Kopf.
    "Wenn das so weitergeht, werden wir in hundert Jahren nur noch Kirchtürme bauen, weil in die Kirchen doch niemand mehr hineingeht." (Hamburger Notizbuch, 1926)
    Handschriften von Kurt Schwitters sind im sogenannten "Hamburger Notizbuch" im Sprengel Museum in Hannover am 11.06.2012 zu sehen.
    Handschriften von Kurt Schwitters im sogenannten "Hamburger Notizbuch" im Sprengel Museum in Hannover (picture alliance / dpa / Peter Steffen)
    "Ich bin ein alter Kirchenvorbeigeher, weil ich das Gezeter nicht hören mag. … Wir wollen den Kampf gegen die amtlichen Vertreter der Kirche zugunsten des Christentums aufnehmen." (Wahrheit, 1939, mit Thorlof Höyer Finn)
    Als amtlichen Vertreter der Kirche lässt Schwitters etwa einen Pastor auftreten, der statt Kaffee lieber nach Wein verlangt – und außerdem ein Brandstifter zu sein scheint (Feuerschein, undatiert, ca. 1930-38).
    "Herr, nimm das Licht, das uns blendet und quält." (Oben und unten, 1929)
    "Gott wird im Konzentrationslager enden"
    Schwitters lässt Menschen sprechen, die sich von Gott verlassen fühlen und von der Kirche verraten – einer Kirche, die sich im Weltkrieg schuldig gemacht hat.
    "Selbst Kirche und Kunst stellen sich in den Dienst des Krieges … Da aber Kirche und Kunst auf beiden Seiten stehen, so segnen sie Freund und Feind. Es wäre Aufgabe der Kirche, den Krieg zu ächten und unmöglich zu machen." [Krieg ist die größte Schande], 1923)
    In der Weimarer Zeit und unter dem NS-Regime wird die Kirche politisch angegriffen – von rechts wie von links. Beides findet sich ebenfalls in Schwitters‘ Werk:
    "Die Zeit der Religion ist aus. … Der gute Sozialist kann nicht religiös sein. Die Menschheit, nicht die Gottheit, fordert seine ganze Kraft." (Religion oder Sozialismus, 1925)
    "Anstelle Gottes wird man in unserem Himmel Hitler verehren, und Gott wird im Konzentrationslager enden." (Die Familiengruft, 1946)
    "Auch im Kriege sollst Du nie einen Menschen töten"
    Und Schwitters selbst – war er religiös oder glaubte er ausschließlich an die Kunst? Die Schwitters-Forschung hat diese Frage nicht gestellt – oder zumindest nicht beantwortet. Vielleicht auch, weil persönliche Religiosität so gut wie keine Rolle spielt in seinen autobiografischen Texten. Ein Foto zeigt an der Wand in seinem Atelier ein Kreuz. Aber was bedeutet ein Kreuz?
    "Es ist die edelste Tat eines Menschen, selbst seinen Feinden zu vergeben." (Pflichtgefühl, 1927)
    Immer wieder blitzen in Schwitters‘ Werk solche Sätze auf. Sätze, die an die Ethik der Bergpredigt erinnern und die jüdisch-christliche Nächstenliebe. Schwitters vermerzt sie zu einer pazifistischen Botschaft:
    "Wir sollen nicht unsere Feinde bekämpfen, sondern unsere Fehler. Der Feind hat mehr Recht zu leben, als Du Recht haben kannst, ihn zu töten. … Auch im Kriege sollst Du nie einen Menschen töten, besonders aber nicht deinen Feind." (Krieg, 1923)
    "Außerdem möchte ich Sie daran erinnern, dass Liebe die Idee des Christentums ist." (Tran Nr. 15. Die Durchschnittserscheinung mit hellen Augen, 1920)
    "Gefangen erlebe ich Weihnachten"
    In den 30er Jahren trifft der Hass der Nationalsozialisten auch Schwitters und seine Kunst. Sie wird als "entartet" diffamiert. 1937 flieht Schwitters nach Norwegen, drei Jahre später weiter nach England. Dort wird er interniert, zusammen mit anderen Flüchtlingen aus Deutschland. An seine Frau in Hannover schreibt er:
    "Gefangen erlebe ich Weihnachten. Es ist eine Probe. Ich ging in unsere Kirche, ohne glauben zu können an Menschenliebe. Der grausame Krieg nimmt mir allen Glauben, außer den an mich selbst. Und an Dich, Mamma und unsere Kinder." (Brief an Helma Schwitters, 24.12.1940)
    "… mit dem Beten bin ich nicht so ganz einverstanden. Ich kann mir davon keinen Erfolg versprechen, da Gott ganz andere Sorgen hat. Im Ernst, solange man nicht alle Verpflichtungen in nächster Nähe erfüllt hat, ist ein Gebet als Bitte zwecklos. … Jedenfalls komme ich mehr und mehr ab von den Regeln der Kirche, und ich glaube, dass ich deshalb doch religiös bin." (Brief an Helma Schwitters, 25.09.1941)
    Dass Schwitters die Religion nicht vollends verworfen hat, zeigt sich auch in anderen Briefen aus dem Exil:
    "Liebe Mamma! … Dass Du für mich betest, ist sehr wichtig für mich. Mir fällt das sehr schwer." (Brief an Henriette Schwitters, 01.01.1946)
    "Liebes Frl. Hagenbach! … Ich arbeite jeden Tag drei Stunden, mehr kann ich nicht leisten. … Aber Gott wird mir helfen." (Brief an Marguerite Hagenbach, 02.09.1947)
    "Dieses ist das Paradies?"
    Das Wohnhaus der Familie Schwitters in Hannover wird im Zweiten Weltkrieg bei einem Luftangriff komplett zerstört – und mit ihm ein großer Teil von Schwitters‘ Werk. Seine Frau stirbt an Krebs. Und auch seine Mutter stirbt kurz nach Kriegsende.
    Schwitters, der in England geblieben ist, erleidet einen Schlaganfall. Er bricht sich den Oberschenkel, ihn plagen Lähmungen, Blindheit, Asthma – und Geldnot, weil er kaum noch malen kann und Bilder verkaufen.
    "This time will lead me forward / To death / And God / And Paradise" (Handschrift im Nachlass von Edith Thomas, 1946)
    Collage von Kurt Schwitters im Londoner Tate Modern Museum 
    Eine Collage von Kurt Schwitters im Londoner Tate Britain Museum. (imago/ZUMA Press/Matt Cetti-Roberts )
    Schwitters spürt den Tod kommen – das deutet er in Briefen an. Doch so lange es geht, merzt er. In einem Prosatext – verfasst vermutlich wenige Monate, bevor er tatsächlich stirbt – trifft Schwitters auf Gott. Ein "Rudel Engel" lobt darin den Herrn. Der trägt einen langen venezianischen Überrock und einen bläulichen Bart.
    "‘Dieses ist das Paradies?‘, fragte ich dumm. ‚Nicht gerade das, aber es liegt in der Gegend. Es ist dieses genaugenommen eine Versuchsstation für unbemittelte Seelen.‘ … ‚Bist du auch Kunstmaler?‘, fragte ich. ‚Sieh mich an!‘ ‚Gern‘, sagt ich, und da schlabberte eine Troddel um seine Hüften." (In der Gegend des Paradieses, undatiert, um 1947)
    Auch im Angesicht Gottes und des Todes verliert Schwitters nicht seine aufrichtige Albernheit.
    "Merz ist das Lächeln am Grab und der Ernst bei heiteren Ereignissen." (Merzbuch 1. Die Kunst der Gegenwart ist die Zukunft der Kunst, 1926)
    "Kunst ist ein Urbegriff, erhaben wie die Gottheit"
    Kurt Schwitters stirbt am 8. Januar 1948 an Herzversagen.
    "Das Herz-Asthma hat sich in ein Merz-Asthma verwandelt." (Brief an Christof und Luise Spengemann, 25.06.1947)
    Er wird in England beerdigt nach dem Ritus der anglikanischen Kirche. Als Grabbeigabe erhält er eine seiner Plastiken. Später werden seine Überreste exhumiert und nach Hannover überführt.
    "Man kann ja nie wissen."
    Dieser Satz steht in Hannover auf Schwitters‘ Grabstein. Den krönt eine abstrakte Skulptur. Schwitters hatte das Original selbst geschaffen – nach dem Vorbild einer kleinen Blume, einer Herbstzeitlosen.
    Was sich hingegen nicht auf dem Grabstein findet: ein Kreuz oder ein anderes religiöses Symbol. Wie so oft bei Schwitters wird also auch hier die Religion abgelöst – durch seine Merzkunst.
    "Kunst ist ein Urbegriff, erhaben wie die Gottheit, unerklärlich wie das Leben, undefinierbar und zwecklos." (Merz, 1920)