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Religion und Gewalt
Von Wortgewalt bis Terror

Ob im Judentum, im Christentum oder im Islam - in heiligen Schriften ist Gewalt allgegenwärtig. Hat der Monotheismus zu mehr Radikalisierung geführt? Psychoanalytiker und Literaturwissenschaftler beleuchten Facetten von mentaler Gewalt und Sprachgewalt bis zu angemaßter Gewalt im Namen Gottes.

Von Dörte Hinrichs | 30.01.2020
Papst Franziskus während des Angelus-Gebets auf dem Petersplatz. Er steht am offenen Fenster und hebt die rechte Hand.
Bringt Religion Gewalt hervor oder erwächst umgekehrt Religion aus Gewalt oder stehen sich beide Phänomene entgegen? (imago/Evandro Inetti)
Die Frage nach dem Verhältnis von Religion und Gewalt ist so aktuell, so komplex und gleichzeitig in der Menschheitsgeschichte so omnipräsent, dass sie immer wieder neu nach wissenschaftlicher Durchdringung sucht. Für Tatjana Jesch, Professorin für Literaturwissenschaft an der Pädagogischen Hochschule Freiburg, also Grund genug, um darüber eine interdisziplinäre Diskussion anzuregen:
"Ausgehend von diesem religiös motivierten Terrorismus, den wir erlebt haben vielfach, ist es auch naheliegend, in der Geschichte zurückzuschauen und zu sehen, dass Religionen auch im christlichen Bereich jahrhundertelang von Gewaltexzessen begleitet gewesen sind. Und uns hatte interessiert, diesem Phänomen aus psychoanalytischer Sicht auf den Grund zu gehen, und indem wir auch die Literatur dazu befragen, als Medium kultureller Erfahrungen."
Wo beginnt Gewalt?
Es geht nicht nur um islamistischen Terror, der in der medialen Berichterstattung sehr präsent ist, manchen zu präsent, es geht um das Verhältnis von Judentum, Christentum und Islam zur Gewalt. Doch was ist überhaupt Gewalt? Darüber gehen die Meinungen auseinander:
"Ich habe eher einen weiteren Gewaltbegriff, weil ich denke, dass die Gewalt relativ früh beginnt. Und im Zusammenhang mit Religion beginnt sie, denke ich dort, wo religiöse Auffassungen, die ja mit Freud gesprochen eher verstandeswidrigen Charakter haben, anderen Menschen aufgezwungen werden."
Gewalt umfasst für Tatjana Jesch körperliche wie mentale Gewalt. In Westeuropa, wo die Religion eigentlich auf dem Rückzug begriffen sei, werde immer wieder betont, dass die christliche Religion nur mehr wenige Gewaltanteile habe.
"Wenn wir aber in die USA schauen, dann sehen wir eigentlich eine noch stärker den heiligen Texten im Wortlaut verpflichtete Art von Religiosität. Und die Parallele, die ich gesehen habe, ist einerseits die Phase in der Antike, in der das Christentum als eine Strömung des Judentums sich herausgebildet hat, also eine Phase, in der die Menschen in dem Gefühl lebten, die Apokalypse, der Weltuntergang stehe bevor, das Reich Gottes stehe, bevor. Und damit sei ein enormes grausames Strafgericht, aber eben auch die Aufrichtung der zuvor Unterdrückten verbunden. Und genau solche Vorstellungen kann man heutzutage in den USA auch wieder in ähnlicher emotionaler Beschaffenheit wiederfinden."
Christlicher Fundamentalismus in den USA
Die US-amerikanische Autorin Mary Miller hat das 2013 in ihrem Roman "Süßer König Jesus" aufgegriffen. Darin reist ein christlich-fundamentalistisches Ehepaar mit seinen beiden Teenagertöchtern nach Kalifornien, um dort dank der Zugehörigkeit zu den wenigen "Auserwählten", in den "Himmel" entrückt zu werden.
"Und die große Zahl an Menschen, die das ernst nimmt, dem vertraut und glaubt, und sich also auf diese Apokalypse vorbereitet, das ist authentisches Geschehen in der US amerikanischen, jüngeren Geschichte, und das wird in diesem Roman aufgearbeitet. Und gleichzeitig sieht man, das ist aber auch eine Familienkonstellation, die nicht mehr so funktioniert, wie Freud sich das vorstellt, wie Freud sich eine patriarchalische Familie vorstellt."
Freuds Mythos vom Vatermord
Spannend sind hierbei die psychoanalytischen Bezüge zu Freud, der im Vatermord die Entstehung der Religion sieht: Die Söhne, so der Mythos, seien einst in patriarchalischen Ur-Horden vom Vater unterdrückt worden, töteten ihn und entwickelten daraufhin ein enormes Schuldgefühl. Überwältigt von diesem Schuldgefühl, stellten sie ihn auf ein Podest und vergötterten ihn. Doch diese Vergötterung, sie funktioniert im Roman nicht mehr:
"Dieser Vater hat zwar die Macht, seine Töchter religiös zu nötigen. Er versucht auch, Kontrolle über sie auszuüben, aber er ist gleichzeitig eine schwache Figur, die den Verführungen der Konsumgesellschaft ausgeliefert ist, die spielsüchtig ist, die Misserfolge erlebt im beruflichen Bereich, und diese Misserfolge aber nicht wirklich aufarbeitet, sondern versucht, zu überdecken durch die Zugehörigkeit zu einer evangelikalen Sekte, die das Gefühl vermittelt, doch einer ganz besonderen Gruppe anzugehören, nämlich der Gruppe der Auserwählten, die nach dieser Apokalypse in den Himmel aufsteigen wird."
Monotheismus als Akt der Gewalt
Doch woher kommt die Sehnsucht nach dem Paradies und wo nahm die Gewalt ihren Anfang? Jakob Hessing, aus Jerusalem angereister Literaturwissenschaftler, sieht in der Erfindung des Monotheismus einen ersten Akt der Gewalt:
"Also der Monotheismus ist die Verdrängung aller anderen Götter, das ist der einzige Gott, der die Wahrheit repräsentiert oder noch besser präsentiert. Und es gibt außerhalb dieses einen Gottes keine Wahrheit. Und in dem Moment, wo man so argumentiert. wird alles andere vernichtet. Und das ist ein Akt der Aggression."
Religion und Gewalt zeigen gerade in Jerusalem, dem historischen Zentrum des Monotheismus –ihre verheerenden Folgen, so Hessing.
Warum aber gibt es dieses Bedürfnis nach einem allmächtigen Gott, egal ob im Judentum, Christentum oder Islam? Und warum spielt Gewalt in religiösen Quellentexten so eine große Rolle?
"Das ist die berühmte Frage: was war zuerst da, das Ei oder die Henne? War der Brudermord der Grund, weshalb sich die Leute irgendein Übervater ausgedacht haben, der diese Brüder da zur Ordnung ruft? Oder war die Idee, dass man alle anderen Götter ausbootet und nur diesen einen Gott gelten lässt, der Punkt, an dem der Brudermord eingesetzt hat?"
Verherrlichung und Verteufelung
Die Autoren der heiligen Texte, so Hessing, hätten einen gordischen Knoten geknüpft, der das Menschliche mit dem Göttlichen und die Religion mit der Gewalt verknüpft. Zum Paradies gehöre eben auch die Schlange und die Vertreibung der Menschen aus dem Ort der Unschuld.
"Wenn ein Gott sozusagen die Wahrheit präsentiert, dann muss dieser Wahrheit ja eine Unwahrheit gegenüberstehen. Und dann gibt es sozusagen eine Spaltung in der Welt zwischen Plus und Minus, zwischen Gut und Böse. Und um Gott zu verherrlichen, muss gleichzeitig irgendetwas anderes heruntergemacht werden. Ich glaube, dass der Teufel in die Welt gebracht wurde, um Gott mächtiger, eindrucksvoller, schöner erscheinen zu lassen. Als Kontrastmittel."
Gründung des Staates Israel als messianisches Ereignis
Auch die Entstehung des Staates Israel führt Jakob Hessing auf einen Kontrast zurück: den zwischen fast vollständiger Vernichtung und göttlicher Verheißung:
"Ich bin der Meinung, dass der Staat Israel nie anerkannt worden wäre auf einer internationalen Basis, wenn es vorher nicht die Shoah gegeben hätte. Die Juden wurden derartig misshandelt, dass sogar die Antisemiten begriffen haben, so geht das nicht, und die müssen jetzt irgendeine Entschädigung bekommen. Und so ist dieser Staat entstanden. Für die die meisten Juden ist die Staatsgründung ein messianisches Ereignis. Gott hat uns sozusagen Jahrtausende im Exil erhalten, damit wir wieder in unsere von Gott verheißene Heimat zurückkehren können. Und dann haben wir also diesen Staat, der funktioniert, aber mehr mit Ach und Krach, und meistens funktioniert er gar nicht. Und Amos Oz gehört zu der Generation der Schriftsteller, die nach der Staatsgründung angefangen haben zu schreiben. Und diese erste staatliche israelische Literatur ist eine Literatur der Enttäuschung."
Eine Enttäuschung, ein Verrat, den Amos Oz 2014 in seinem letzten Roman "Judas" aufgegriffen hat. Himmel oder Hölle, Gut oder Böse, Richtig oder Falsch – es bedarf offensichtlich immer dieser Antagonismen, um das Profil von Religionen zu schärfen, und damit die Gläubigen ein Identitätsgefühl entwickeln.
Identitätsformen und Gewalt
Hier setzt der Basler Psychoanalytiker Prof. Joachim Küchenhoff an:
"Inwieweit hat Identitätsbildung auch etwas mit Gewalt zu tun? Ich ecke oft damit an, wenn ich das sage, weil Identität ist doch auch erstrebenswert, das ist doch etwas Gutes, wie kannst du das denn mit Gewalt zusammenbringen, das ist doch unmöglich? Und ich denke, es hat etwas davon, nämlich, wenn eine dieser Bestandteile für eine Identität, wie ich sie sehe, sich vereinseitigt, und dann entsteht Gewalt, und das kann ich als Psychoanalytiker erst mal bei den einzelnen Personen sehen. Ich kann es aber auch in sozialen und gesellschaftlichen Kontexten beobachten."
Küchenhoff unterscheidet zwischen exklusiver, inklusiver und intensiver Identität.
"Ich muss mich abgrenzen von anderen, um mich selbst zu finden. Aber wenn die Abgrenzung zur Ausgrenzung führt, dann wird es ein Problem. Dann ist diese exklusive Identität, einseitig. Ich habe dagegen gestellt, das, was ich mit dem Begriff der inklusiven Identität beschrieben habe. Also das kann man das Nichtidentische, oder das Fremde, oder das Andere nennen, dass das inkludiert, eingeschlossen werden muss, in das Bild, das ich von mir habe."
Genau darin liegt eine entscheidende Herausforderung: Diese Ambivalenz zwischen dem Eigenen und dem Fremden, zwischen Religion und Nichtreligion, zwischen eigener und fremder Religion, zu ertragen - und nicht mit Gewalt darauf zu antworten. Identität aus psychoanalytischer Sicht, so Küchenhoff, lebe dadurch, dass sie sich selbst in Frage stellt. Identität und Nicht-Identität stünden in einem produktiven Wechselspiel zueinander. Neben dieser Dynamik habe Identität aber auch ein Potential, da sich erst in der Lebenspraxis bewährt, hier kommt die sogenannte intensive Identität ins Spiel:
"Es ist ja nicht einfach eine Vorstellung von mir selber, die relevant ist, sondern es geht auch darum, wie bewährt sich das also, was mache ich daraus? Wie handle ich? Und manchmal ist es so, dass ich erst rauskriege, wer ich bin, indem ich sehe oder reflektiere, was hab ich denn da gemacht? Und was hab ich dort gemacht? Also, Identität ist in diesem Sinne auch intensiv, weil sie handlungsanleitend ist und mein Leben oder meine Lebensführung bestimmt."
Europäische Glaubenskriege und staatliche Gewalt
Prof. Wolfgang Essbach nahm aus soziologischer Sicht die Gewaltforschung in den Fokus, die Gewalt in erster Linie als ein Machtphänomen begreift. Und er erinnerte vor allem an die institutionelle Macht von Staaten und deren Gewaltmonopol:
"Dieser moderne Flächenstaat entsteht in Europa, und das ist eigentlich der tragende Punkt für Jahrhunderte gewesen, entsteht in Glaubenskriegen, in Kriegen um den rechten Glauben. Es entsteht dort auch eine moderne Form des Christentums, der Konfessionalismus, der dann bestimmte Glaubensweisen, bestimmte dogmatische Fixierungen, bestimmte rituelle Fixierungen festschreibt, und zwar mit den Mitteln staatlicher Gewalt. Es gibt katholische Staaten, und es gibt protestantische Staaten, und lange Zeit war es nicht möglich, einen katholischen Glauben und Praxis aufzuführen in protestantischen Staaten, vice versa."
Dieser Prozess habe in Europa zur Verfeindung der Konfessionen geführt, die inzwischen weitgehend abgeklungen seien, so der Freiburger Soziologe:
"Aber in anderen Ländern, wo wir noch keinen funktionierenden Flächenstaat mit einem Gewaltmonopol haben, wo noch um Territorien gekämpft wird, Vergrößerungen Verkleinerungen von Territorien, dort findet der Prozess von Glaubenskriegen im Grunde so ähnlich statt, wie wir das vor 500 Jahren in Europa gehabt haben."
Ringen um den Gewalt-Begriff
Eßbach plädiert für einen engen Religionsbegriff und einen weiten Gewaltbegriff, denn:
"Es hat einen anheizenden Effekt, wenn ich jedes Übel, was mir begegnet, als Gewalt bezeichne. Deshalb lieber ein enger Gewaltbegriff, er dient zur Hegung auch von Gewaltphänomenen und ein weiter Religionsbegriff, der tolerantere Einstellungen ermöglicht."
Doch das bleibt nicht unwidersprochen. Philipp Stoellger, Professor für Systematische Theologie an der Uni Heidelberg plädiert für einen weiten Gewaltbegriff:
"Denn Gewalt ist nicht nur die physische Gewalt oder die tödliche, sondern Gewalt ist gerade hier im Kontext natürlich auch psychische Gewalt. Das heißt, wer sich verletzt fühlt, hat darin sein eigenes Recht, erst einmal den, der ihn verletzt hat, als Gewalttäter namhaft zu machen. Und das Problem, was nun kommt, ist, das kann inflationiert werden. Jeder, der sich verletzt fühlt, ist deswegen noch lange nicht berechtigt, den anderen als Gewalttäter zu beschimpfen, denn Verletzungen können auch versehentlich vorkommen. Aber das ist erst mal wichtig, nicht nur physische, sondern auch psychische und auch Sprachgewalt, ein herabsetzendes Wort, eine Beschimpfung kann Gewalt sein."
Urteilende Sprache und Sprachgewalt
Die Macht der Worte, das Gewaltpotential der Sprache, sei nicht zu unterschätzen, so Stoellger. Er bezieht sich dabei auch auf den Philosophen Walter Benjamin:
"Benjamin meinte, dass Sprache paradiesisch mal gewaltfrei war: Name, Du, aber erst, wenn man urteilt: Das ist gut, das ist böse, du bist fremd, ich bin ich. Wenn solche Urteile einsetzen, meinte Benjamin, geschieht der Sündenfall. Der Sündenfall ist die verurteilende Sprache."
Die Berliner Psychoanalytikerin Tülay Özbek legte Wert auf die Feststellung, dass Gewalttätigkeit aus der Art und Weise entsteht, wie an einem Glaubenssystem festgehalten werde. In ihrem Vortrag über "Gewalt im Namen des Islam" zitierte sie den britischen Psychoanalytiker Ron Britton. Seine These drückt in gewisser Hinsicht auch die Quintessenz der Freiburger Tagung aus:
"Nicht was jemand glaubt, sondern wie er es glaubt, entscheidet darüber, ob es zu Destruktivität kommt oder nicht; entscheidend ist nicht, was man liest, sondern wie man es liest, sei es nun die hebräische Bibel, die christliche Bibel, der Koran oder das Kapital."