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Religion und Nationalsozialismus
Beten im KZ

Kann man nach Auschwitz noch von Gott reden oder gar beten? Einige sagen: Ja. Denn auch in Auschwitz wurde gebetet. Aber was genau war möglich? Welche Formen von Religiosität waren erlaubt in NS-Konzentrationslagern und Haftstätten? Das ist bislang wenig erforscht.

Von Thomas Klatt | 10.07.2019
Abbildung eines Rosenkranz
Rosenkranz, zwischen 1939 und 1945 im KZ Ravensbruck gefertigt. Sisal, Stahl, 101 cm (KZ Ravensbrück)
"Nach den Dienstvorschriften der Konzentrationslager ist kein explizites Verbot religiöser Praxis zu finden. Aber gleichwohl gibt es Bestimmungen, die die Praxis behindert haben. Es ist nämlich zum einen festgelegt, dass nicht mehr als drei Personen gemeinsam auf der Lagerstraße aufhalten durften, was ja schon mal gemeinschaftliches Gebet erschwert hat. Und das eben bei der Aufnahme ins Lager aller Privatbesitz abgenommen wurde, einschließlich Bibeln, Andachtsbilder, Gebetsriemen, kleine Kreuze und so weiter."
Berichtet Sabine Arend, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück. Sie zitiert aus den Erinnerungen der Katharina Katzenmaier, der späteren Nonne Theolinde, über ihre Einlieferung ins Lager.
"Die Marienmedaille hatte ich schon auf dem Transport in meine Zahnpasta-Tube vom hinteren Ende hereingeschmuggelt und bei der scharfen Kontrolle zu Beginn, bei der im Mund, zwischen den Zehen, zwischen den Fingern, hinter den Ohren nachgesehen wurde, kam niemand auf die Idee, die Zahnpasta-Tube zu kontrollieren. Die Medaille hat mir viel bedeutet in dieser Zeit."
Religion als Akt des Widerstandes
Rosenkränze wurden aus Brotresten, Beeren und Seilknoten gebastelt. Miniatur-Bilder zur Verehrung Marias wurden aus Zahnbürstenstielen geschnitzt. Die Ruhe der täglichen Abzählappelle nutzten viele zur persönlichen Andacht und zum Gebet. Etwa Katharina Staritz, die erste Vikarin der Evangelischen Kirche in Deutschland. Sie hatte sich für evangelische "Sternträger" eingesetzt, also für getaufte Juden. An ihrer Kirche, die sie vom Dienst suspendiert hatte, konnte sie irrewerden. Im Lager aber hielt sie weiterhin Gottesdienst. Heimlich auf der Lagerstraße, wo während des Freigangs mehr als drei Insassen für kurze Zeit beisammen sein durften.
"Dann mussten wir immer zu fünft in einer Reihe gehen. Aber es durfte nicht bekannt werden, was wir sprachen. Ich ging in der Mitte von drei Fünfer-Reihen. Lang konnte dieser Gottesdienst nicht sein. Die Hörerinnen waren meist aus Schwaben. Eine fiel dann ab aus Furcht, dass es bekannt werde, denn uns allen drohte der Bunker."
Blick über Stacheldraht auf die Gedenkstätte Ravensbrück, 100 Kilometer nördlich von Berlin. Im Hintergrund ist eine der Baracken zu sehen. Das Konzenttrationslager Ravensbrueck (KZ Ravensbrück ) war ein reichsdeutsches Konzentrationslager im damaligen brandenburgischen Templin - Uckermark. Es gilt als das größte Frauenkonzentrationslager des Deutschen Reiches. 
Durchhaltevermögen und Überlebenswillen hinter Stacheldraht: Viele inhaftierte Frauen im ehemaligen KZ Ravensbrück fanden Halt in ihrem Glauben (picture alliance/dpa/Walter Bieri/KEYSTONE)
Der Bunker, der dunkle nasse Sonder-Arrest, in dem das Grundwasser hochkam, hier in der Nähe des Sees. Religiöses Leben im Kleinen und Verborgenen aufrecht zu halten, war für viele Trost und Halt, aber auch Akt des Widerstandes, hatte man es doch geschafft, Glaubensdinge ins Lager zu schmuggeln. Aus den Erinnerungen der Polin Maria Dydynska.
"Im Herbst 1943 kam Christus selbst durch den Stacheldraht ins Lager Ravensbrück herein. Das von draußen hinein gebrachte Allerheiligste wurde die ganze Nacht durch im Block angebetet; und am Morgen empfing eine zahlreiche Gruppe der Blockinsassinnen die Kommunion. Am 9. November eilten Gruppen von Frauen in aller Frühe in der Dunkelheit noch vor dem Appell in die Richtung des Blocks, in dem eine Häftlingsnonne die Kommunion erteilte. Noch zwei Mal brachten die tapferen Kolleginnen Christus, unseren Herrn, ins Lager mit. Seitdem hatte die Lagerleitung Wind davon bekommen. Und obwohl die Untersuchung in die falsche Richtung gelenkt wurde, musste man mit den Gottesbesuchen aufhören."
Taufen wurden improvisiert
Dass Gefangene aus dem KZ Ravensbrück Kontakt zu Priestern bekamen, liegt daran, dass sie dazu gezwungen wurden, in Außenlagern zu arbeiten. In diesen Außenlagern waren immer wieder auch gefangene Priester interniert, die Brot konsekrieren, also nach katholischer Lehre weihen konnten. Glaube und Widerständigkeit galten bis in den Tod. Im Leichenkeller gab es kurze Verabschiedungen und ein stilles Gebet. Heimlich steckten die Mitinsassen den Toten Wiesenblumen in die gefalteten Hände. Der Selbstbehauptungswille stand auch am Anfang des Lebens. Die im Lager Neugeborenen hätte nach katholischem Ritus ein geweihter Priester taufen sollen. Doch die Not machte erfinderisch. Leokadia Kopczrynska in ihrer Erinnerung.
"Nach dem Appell brachte mich die Blockälteste in den Geburtsraum. Dort gebar ich mein Kind. Beide Betten waren besetzt und ich wurde auf eine Pritsche gelegt. Ich hatte eine sehr schnelle Geburt. Es gab nur diese eine Schwester und die sprach sogar Polnisch. Sie sagte: "Gib dem Kind einen Namen!" Ich sagte "Barbara!" Sie hielt das Kind unter einen Wasserhahn, taufte es mit Wasser und gab ihm den Namen. "Nimm das Kind und geh!"
Bibeln für Kriegsgefangene
Die Zeugen Jehovas im Lager vollzogen sogar Ganzkörpertaufen in einem Wasserfass. Bei dieser Glaubensgemeinschaft herrschte besonders große Disziplin. Denn ihnen war nicht nur jeglicher Wehrdienst, sondern jede Arbeit für den Krieg verboten, weiß der Historiker Falk Bersch.
"An diesem Morgen dem 19. Dezember 1939 verweigerten 50 Zeugen Jehovas in der Nähstube in Ravensbrück die Arbeit, nachdem man sie aufgefordert hatte, für Soldaten an der Front als Liebesgaben zu Weihnachten Beutel zu nähen, womit wahrscheinlich Patronen- oder Pistolentäschchen gemeint waren. Lagerkommandant Max Koegel ließ sie hinter dem Zellenbau Aufstellung nehmen. Dann wollte er ein Exempel statuieren.
Er ließ die übrigen Zeugen Jehovas aus dem Lager antreten und erklärte, wer sich weigere, diese Beutel zu nähen, solle nach links treten. Bis auf drei traten alle Frauen, so eine Zeitzeugin, wie ein Mann nach links. Insgesamt verweigerten an diesem Morgen 400 Frauen die Arbeit. Damit haben sich zu diesem Zeitpunkt rund 40% der zu der Zeit in Ravensbrück inhaftierten Häftlinge den Forderungen der Lagerleitung widersetzt."
Anders in den Kriegsgefangenenlagern. Hier war nach der Genfer Konvention eine offene religiöse Betätigung möglich. Liturgische Geräte, Bibeln und Gebetbücher, Messwein oder Rosenkränze wurden über den CVJM und das Internationale Rote Kreuz ins Lager geliefert. Im Kriegsgefangenen-Mannschafts-Stammlager Stalag B Sandbostel etwa entfaltete sich ein christlich-katholisches Leben mit eigenem Gebetsraum, so Andreas Ehresmann von der "Gedenkstätte Lager Sandbostel".
Die ehemaligen Absonderungsbaracken des NS-Kriegsgefangenen- und KZ-Auffanglagers am 06.06.2013 im niedersächsischen Sandbostel, in denen heute Dämmstoffe produziert werden.
Die ehemaligen "Absonderungsbaracken" des NS-Kriegsgefangenen- und KZ-Auffanglagers Sandbostel im niedersächsischen Sandbostel (imago stock&people)
"Die ersten polnischen Kriegsgefangenen, die kurz nach dem deutschen Überfall nach Sandbostel kamen, begannen sogleich mit dem Aufbau einer Gemeinde. Der selbst sehr gläubige Wachmann Walter Dornhöfer beschreibt im Februar März auf dem Wachtturm sitzend in seinem Tagebuch bewundernd von den polnischen Katholiken: Allabendlich um etwa 21 Uhr singen sie in ihren Baracken ein Abendlied, morgens nach dem Aufstehen ein Morgenlied. In Andachten stehen sie in ihren Betten. So oft ich ihre Gesänge höre, muss ich mich fragen: Wäre das bei uns möglich?"
Viel Freiräume für Muslime
Selbst Muslime durften ihre Religion im Kriegsgefangenlager ausüben: "Muslimen war es durchaus erlaubt, ihre Gebete auszuführen, was ich durchaus erstaunlich finde. Und sie konnten auch einen Imam bestimmen. Der französische Lagerschreiber beschreibt es, dass es in der Tat aus den asiatischen Sowjetrepubliken, insbesondere bei den Usbeken, Turkmenen und Tadschiken eine große Anzahl von Muslimen gab, die ihren Glauben praktizierten und dass er in seinem Lagerteil den Ruf des Muezzin hören konnte. Es gibt Indizien darauf, dass in der Lagerküche auf muslimische Kriegsgefangene oder Gläubige bei den Essgewohnheiten Rücksicht genommen wurde, das heißt dass kein Schweinefleisch verwendet wurde zum Beispiel."
Ob Muslimen demonstrativ mehr Freiräume zugestanden wurden, um neue Allianzen mit Muslimen im Krieg schmieden zu können, ist eines der noch unerforschten Kapitel über die Religionsausübung in deutschen Lagern. Und auch für jüdische Soldaten und Offiziere galt nach der Genfer Konvention der Schutz des Glaubens.
"Denn trotz der antisemitischen Weltanschauung des Nationalsozialismus waren Juden in den Kriegsgefangenenlagern, solange sie nicht in der Roten Armee kämpften, relativ sicher. Die meisten von ihnen hat der Kriegsgefangenenstatus geschützt - und die haben auch den Nationalsozialismus überlebt."
Beten im Angesicht des Todes
Ganz anders dagegen die Hölle von Auschwitz-Birkenau. Jüdisches Leben gab es hier oft nur für Tage, manchmal nur noch Stunden, wie es Leyb Langfus berichtet. Er war Häftling im Sonderkommando und musste den Selektierten beim Auskleiden helfen, die vergasten Leichen einsammeln und diese im Krematorium verbrennen, bis die Gefangenen im Sonderkommando schließlich selbst nach Monaten der Zuarbeit für die Nazis von den Nazis getötet wurden. Leyb Langfus hielt fest, wie im Grauen gebetet wurde:
"Rabbi Fridman steht nackt wie der Rest der Deportierten in dem Auskleideraum und spricht zu dem SS-Oberscharführer. Er sagt ihm, dass die Nazis für ihre Taten gerichtet werden und dass das jüdische Volk nicht von den Nazis vernichtet wird. Daraufhin bedeckt er sein Haupt und ruft das Sch'ma Israel zusammen mit den Anwesenden mit großer Begeisterung."
zitiert Christin Zühlke vom Zentrum für Antisemitismusforschung an der TU Berlin den Zeitzeugen. Kurz vor ihrem Tod beten alle gemeinsam das jüdische Hauptgebet Sch'ma Israel. Ein Trost? Die letzte Behauptung der religiösen Identität, die die Schergen nicht nehmen konnten? Eine andere Szene beschreibt Leyb Langfus so.
"Zwei ungarische Juden, die einen Sonderkommando-Häftling fragen, ob sie das Widduj, das Sündenbekenntnis, das zum Beispiel kurz vor dem erwarteten Tod gesprochen wird, sprechen sollen und er antwortet mit: Ja! Daraufhin nehmen sie eine Flasche Alkohol heraus und trinken voller Freude Le'chaim – auf das Leben. Sie wollen den Sonderkommando-Häftling überzeugen mitzutrinken, doch dieser schämt sich. Sie geben ihm daraufhin den Auftrag, zum einen zu überleben und zum anderen Rache zu üben. Er bricht in Tränen aus, rennt zum Krematorium und weint stundenlang. Dann sagt er: Freunde, genug Juden verbrannt, lasst uns alles zerstören und zusammen Kiddusch HaShem begehen."
Jüdisches Märtyrertum als letzte Option
Die Heiligung Gottes, das Leben für Gott ist das Ziel. Das Märtyrertum ist kein jüdisches Ideal, sondern nur die letzte Option angesichts des sicheren Todes. Es waren auch jüdische Aufständische aus den Sonderkommandos, die am 7. Oktober 1944 in Auschwitz den Aufstand wagten. Daran erinnert Holocaust-Forscherin Christin Zühlke.
"So wurden Wachen und SS-Männer getötet, die Gaskammern in Brand gesetzt und die Krematorien gesprengt, was die Massenvernichtung für kurze Zeit gestoppt hatte."
Verschiedenste Facetten der Religionsausübung und -behauptung in deutschen Lagern. Es bedarf aber noch ein erhebliches Maß an Forschung und Aktenstudium, um sich ein Gesamtbild machen zu können.