Dienstag, 19. März 2024

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Religion und zeitgenössische Kultur
"Spiritualität durchaus präsent"

Der evangelische Wiener Theologe Ulrich Körtner findet in zeitgenössischer Kultur immer wieder Spuren des Religiösen. Ein Buch des Schriftstellers Martin Walser etwa habe ihn "sehr umgetrieben", sagte Körtner im Dlf. Theologisches Sprechen, das breite Kreise erreicht, bescheinigt er Wolfgang Huber und Klaas Huizing.

Ulrich Körtner im Gespräch mit Andreas Main | 12.08.2019
Eine Frau steht vor Bücherregalen.
Literatur an der Schnittstelle von Kultur und Religion: Tipps des Theologen Ulrich Körtner (imago stock&people / Westend61)
Andreas Main: Ulrich Körtner ist Wissenschaftler. Seine Publikationsliste ist lang, und er mischt sich aus einer theologischen Perspektive auch hin und wieder in die Debatten unserer Tage ein und eckt damit auch schon mal an. Ulrich Körtner ist Medizinethiker, er ist Professor für Systematische Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität in Wien. Zuletzt von ihm erschienen unter anderem "Für die Vernunft". Es ist ein Buch – wir hatten es auch im Programm – in dem er gegen die "Moralisierung und Emotionalisierung in Politik und Gesellschaft" argumentiert. Oder zuletzt das Buch "Luthers Provokation für die Gegenwart". Was treibt Ulrich Körtner um? Was liest er? Was liest er nicht? Welche Bücher, Filme, Ausstellungen an der Schnittstelle von Kultur und Religion kann ein Theologieprofessor empfehlen, vielleicht auch jenseits des klassischen Feuilletons? Diesen Versuch wollen wir wagen mit Ulrich Körtner. Ein Gespräch, das wir aufzeichnen beziehungsweise aufgezeichnet haben. Guten Morgen Herr Körtner.
Professor Ulrich Körtner (Bild: Hans Hochstöger)
Der Theologe Ulrich Körtner, Medizinethiker und Professor für Systematische Theologie an der Universität Wien (Hans Hochstöger)
Ulrich Körtner: Guten Morgen Herr Main.
Main: Herr Körtner, Sie sind zurzeit in einem Forschungssemester, lesen vermutlich gerade besonders viel. Was hat Sie zuletzt an Fachliteratur mit Religionsbezug so richtig umgehauen?
Körtner: Also, was mich wirklich sehr bewegt und beschäftigt hat, war Wolfgang Hubers Einführung in die Theologie Dietrich Bonhoeffers: "Dietrich Bonhoeffer: Auf dem Weg zur Freiheit" – das ist in diesem Jahr erschienen. Daran reizt mich sehr, dass er als einer der besten Bonhoeffer-Kenner es sich versagt, in den üblichen Ton der Bonhoeffer-Verehrung hineinzufallen. Also, er hat einen durchaus kritischen, manchmal auch distanzierten Blick auf Bonhoeffer.
Es gelingt ihm, diesen Menschen, seinen Lebensweg und seine Theologie historisch gut einzuordnen und deutlich zu machen, wo dieser Ausnahmetheologe an intellektuelle Grenzen stieß und warum wir gut beraten sind, nicht einfach nur irgendwelche Formeln von ihm zu wiederholen, nachzubeten, sondern zu überlegen, wie man an Bonhoeffer kritisch-konstruktiv anknüpfen kann, wo man sich aber vielleicht auch von ihm aus guten Gründen entfernen sollte. Also, das eine Lektüre, die mich am Beginn meines Forschungssemesters sehr motiviert hat.
Wolfgang Huber: "Dietrich Bonhoeffer: Auf dem Weg zur Freiheit"
2., durchgesehene Auflage, C.H.Beck München 2019.
336 Seiten, Hardcover 26,95 €, E-Book 21,99 €.
Main: Der ehemalige EKD-Ratsvorsitzende Wolfgang Huber, wie ist der in diesem Buch stilistisch einzuordnen?
"Komplexe theologische Sachverhalte verständlich darstellen"
Körtner: Er hat eine – ja, ich möchte es im guten Sinne sagen – sehr eingängige, sehr allgemeinverständliche Weise zu sprechen. Das gelingt ihm ja auch sonst in Büchern. Es ist durchaus ein Fachbuch, aber es richtet sich auch an ein breiteres interessiertes Publikum, ist also nicht nur für Fachleute wie mich geschrieben. Ich finde, das ist eine Stärke.
Und überhaupt, was mich beschäftigt, ich bezweifele, dass mir selbst das immer so gelingt, wir bräuchten heute mehr Theologen, die in der Lage sind, durchaus komplexe theologische Sachverhalte allgemeinverständlich darzustellen in einer Weise, dass wirklich ein breiteres Publikum erreicht wird. Ich denke da also zum Beispiel an Leute wie Helmut Thielicke oder Heinz Zahrnt auf evangelischer Seite.
Main: Das war alles im vergangenen Jahrtausend.
Körtner: Richtig. Oder ich denke an einen Hans Küng, der eben noch lebt, aber auch ein betagter Autor ist, aber weit über die Kreise der theologischen Fachzunft hinaus Menschen erreicht hat.
Der Theologe Wolfgang Huber
Der ehemalige EKD-Ratsvorsitzende Wolfgang Huber (Nicolas Hansen)
Main: Sehen Sie denn Junge oder Jüngere, die theologisch ernsthafte Literatur schreiben, die über den Wissenschaftsbetrieb hinausstrahlen? Also, haben Sie noch ein Beispiel neben Wolfgang Huber?
Körtner: Das gibt es. Und ich habe da jetzt jemanden im Blick, mit dem ich auch persönlich befreundet bin, der aus einer ganz anderen Schiene kommt. Ich denke nämlich hier an Klaas Huizing, der Professor für Systematische Theologie und Gegenwartsfragen in Würzburg ist, der gleichermaßen als Fachtheologe wie als Romancier erfolgreich ist.
"Es gelingt ihm, auch in Filmen, in Romanen Themen aufzuspüren, die eigentlich theologisch sind"
Er hat schon etliche Romane geschrieben. Einer der bekanntesten von ihm ist "Der Buchtrinker". Der ist jetzt schon einige Jahrzehnte alt. Eigentlich kommt da so alle ein bis zwei Jahre immer auch ein Roman. Also, er versucht gleichgewichtig das zu machen. Nun gibt es ja Leute, die immer gerne noch irgendwie in der Freizeit am Küchentisch Kriminalromane schreiben - oder so.
Klaas Huizing: "Scham und Ehre: Eine theologische Ethik"
Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2016.
544 Seiten, Hardcover 39,99 €, E-Book 32,99 €.
Huizing ist nicht diese Rubrik, sondern schon ein Kaliber, jemand, der auch Preise errungen hat, der also auch als Belletrist anerkannt ist. Und der hat also immer wieder sehr – finde ich – spannende Bücher geschrieben, etwa über Calvin oder ein Buch mit dem Titel "Scham und Ehre", ein dicker Wälzer, der sich aber ganz toll liest, weil es ihm gelingt, Themen der Ethik zu verschränken mit einer guten Beobachtungsgabe, was sich gegenwärtig in der Gesellschaft abspielt und was sich – das ist eben auch seine Stärke – in der Kultur, in der bildenden Kunst, in der Literatur, aber auch im Film abspielt.
Und es gelingt ihm immer wieder, auch in modernen Filmen, in modernen Romanen die Themen aufzuspüren, die eigentlich theologisch sind, und zwar auch dann, wenn sie nicht ausdrücklich als theologische deklariert sind.
Klaas Huizing: "Schluss mit Sünde! Warum wir eine neue Reformation brauchen"
Kreuz Verlag, Hamburg 2017.
125 Seiten, Hardcover 15,00 €, E-Book 11,99 €.
Main: Und das sagen Sie, obwohl Sie in bestimmten theologischen Punkten ein Antipode sind.
Körtner: Ja, also es gibt zum Beispiel ein Buch von Klaas Huizing mit dem knalligen Titel "Schluss mit Sünde", wo er meint, mit der ganzen traditionellen christlichen Sündenlehre – Stichwort Erbsündenlehre – abrechnen zu müssen.
Ich glaube, dass das ein Kardinalfehler ist. Ich glaube, wenn wir nicht in einer guten Weise es verstehen, von Sünde zu sprechen – und damit meine ich nicht, Menschen einseitig schlecht zu machen, sondern gewissermaßen das Menschliche am Menschen mit diesem Sündenthema in Verbindung zu bringen – ich glaube, dann werden wir letztlich über den christlichen Glauben nicht mehr viel zu sagen haben.
Der Schrifsteller und Theologe Klaas Huizing schaut in die Kamera
Der Schrifsteller und Theologe Klaas Huizing (privat)
Aber ich sehe das so: Ich habe meine Theologie. Ich versuche auch, meine Pointen zu setzen und denke, es ist gut, wenn jeder mit Engagement, mit der Überzeugung, selbst natürlich recht zu haben, seine Sachen vertritt. Und dass diese Dinge sich dann auch schön im Raum begegnen können und wie Luther gesagt hat: "Lasst eben dann die Gedanken aufeinanderplatzen." Und das kann durchaus ja auch produktiv sein.
Martin Walser: "Über Rechtfertigung, eine Versuchung"
5. Auflage, Rowohlt Buchverlag, Reinbeck bei Hamburg 2012.
112 Seiten, Hardcover 16,95 €, E-Book 9,99 €.
Main: Jetzt mal weg von den Theologie-Profs. Welches populäre Sachbuch mit deutlichen Religionsbezügen aus den vergangenen Jahren hat Sie so richtig bewegt?
Körtner: Also, jetzt ganz aktuell fällt mir da gerade nichts ein, was mich so richtig umgehauen hat. Aber was mich wirklich sehr umgetrieben hat, das war das Buch von Martin Walser. Martin Walser: "Über Rechtfertigung, eine Versuchung", 2012. Warum hat mich das so umgehauen?
Nun, Walser ist ja von Hause aus katholisch, würde sich heute wohl sicher nicht im traditionellen Sinne als einen gläubigen Menschen bezeichnen. Aber er vertritt in diesem Buch unter anderem die These, dass Gott heutzutage fehlt. Er schreibt dann: Gott fehlt – Punkt – mir – Punkt. Er rechnet auch mit Atheisten oder Agnostikern ab, die so locker-flockig in Talkshows über den Tod oder die Abwesenheit Gottes oder abschätzig über Religion reden. Und er macht deutlich, was eigentlich verlorengeht, wenn man nicht mehr von Gott zu reden weiß, oder wenn auch die Frage nach Gott eigentlich verloren ist.
Der Schriftsteller Martin Walser
Der Schriftsteller Martin Walser (dpa picture alliance/ Felix Kästle)
Was mich im positiven Sinne elektrisiert hat, war, dass sich Walser in diesem Buch mit dem jungen Karl Barth auseinandergesetzt hat. Insofern schlage ich jetzt auch einen Bogen von 2012 in die Gegenwart 2019, denn wir haben jetzt ein großes Karl-Barth-Jahr, wo daran erinnert wird, dass vor genau 100 Jahren die erste Auflage von Karl Barths "Römerbrief" erschienen ist, eine scheinbar ganz unwissenschaftliche Auslegung des Römerbriefes. Ich sage "scheinbar", weil sie nicht mit dem üblichen Wust an Fußnoten auskommt, in einer ganz expressionistischen Sprache geschrieben ist, also so, wie es in der Zeit damals en vogue war, also, wie man es auch bei Ernst Bloch - "Sprengmythos der Befreiung" - und anderen Autoren vorfinden kann. Also, ein Stück theologischer Expressionismus.
Walser hat auch wirklich faszinierenderweise die Aktualität Karl Barths, genauer gesagt des frühen Karl Barth, in Erinnerung gerufen. Das hat mich deshalb so beschäftigt, weil er dann den Bogen schlägt von Barth zu Nietzsche. Und da muss man wieder wissen, Nietzsche hatte einen Freund, das war Franz Overbeck. Franz Overbeck war Neutestamentler und Kirchenhistoriker in Basel, hat sich später gegen Ende seines Lebens als nicht mehr gläubiger Mensch verstanden, hat einen denkbar kritischen Blick auf die moderne Theologie seiner Zeit gerichtet und hat ganz provozierende Aussagen über den Zustand der damaligen Theologie formuliert, also gemeint, echte Christlichkeit und Modernität könnten eigentlich nicht zusammenpassen. Aber er schlägt sich auf die Seite der Modernität. Und Barth hat dann eben sich auch stark auf Overbeck bezogen, meinte, er sei so was wie ein heidnischer Zeuge der Auferstehung. Und das kommt eben bei Walser wieder vor.
Und mich hat es deshalb so gepackt, weil ich 1990 ein Büchlein geschrieben habe mit dem Titel "Theologie in dürftiger Zeit". Das ist eine Anspielung an Heidegger, der über Hölderlin geschrieben hat – "Denker in dürftiger Zeit". Und das ist bei mir so ein Cantus firmus meines theologischen Nachdenkens geblieben. Da fand ich es faszinierend, dass also ein Schriftsteller wie Martin Walser mit einer solchen Leidenschaft sozusagen eine Form von negativer Theologie treibt und dabei eben eine sehr tiefgründige Zeitanalyse, was das Religiöse und auch die Metaphysik in der Gegenwart betrifft, formuliert hat.
Daniel Wisser: "Königin der Berge"
Jung & Jung, Salzburg 2018.
394 Seiten, Hardcover 24,00 €, E-Book 19,99 €.
Main: Ulrich Körtner, Theologieprofessor, im Deutschlandfunk, in der Sendung "Tag für Tag – Aus Religion und Gesellschaft". Herr Körtner, lassen Sie uns jetzt noch populärer werden. Gibt es aktuelle Romane mit Religionsbezügen, die Sie beeindruckt haben?
Körtner: Ja, wenn Sie so wollen, negativ, also mit negativen Religionsbezügen. Und zwar habe ich gelesen von Daniel Wisser, "Königin der Berge", 2018 erschienen. Wisser ist auch für diesen Buchtitel prämiert worden. Es geht in diesem Buch um einen MS-Patienten, also einen Menschen, der an Multipler Sklerose leidet, so im mittleren Alter ist, inzwischen schon bettlägerig geworden ist oder jedenfalls an den Rollstuhl – wie sagt man dann so gerne – gefesselt ist. Oder manche würden dann sagen: rollstuhlpflichtig – so in der Medizinersprache.
Er lebt in einer Pflegeeinrichtung in Wien und hat vor, sich das Leben zu nehmen, macht auch ein paar Anläufe, die aber scheitern. Sein Plan ist, in die Schweiz zu gehen und dort mit Hilfe einer der Sterbehilfeorganisationen sich das Leben zu nehmen.
Daniel Wisser, Schriftsteller und Musiker, am 10.10.2018 auf der Frankfurter Buchmesse 2018.
Der Schriftsteller und Musiker Daniel Wisser (imago stock&people / Sven Simon)
Die Art und Weise, wie hier über diese Krankheit geredet wird, wie auch über medizinethische Probleme, wie auch über dieses Thema Suizid, Suizid-Beihilfe hier gehandelt wird, finde ich faszinierend, weil es einerseits sehr bissig ist, andererseits aber auch voller Ironie. Es gibt viele Szenen, wo man, finde ich, als Leser einfach auch nur lachen kann. Dennoch wird dieses Thema sehr ernst behandelt.
Religion spielt hier insofern eine Rolle, als immer wieder an verschiedenen Stellen klar wird: Dieser Mensch glaubt nicht an Gott und hat auch mit Religion also wirklich so gar nichts am Hut.
Faszinierend ist das Buch für mich auch deshalb, weil der Autor Erfahrungen verarbeitet hat aus seiner Zivildienstzeit in einer Wiener Einrichtung, die es also tatsächlich gibt, in der auch meine Frau eine Zeit lang oder etliche Jahre gearbeitet hat auf einer MS-Station oder genauer gesagt auf der MS-Tagesstation. Also, insofern hat das für mich auch noch einen sehr starken lokalen Background.
Main: Und persönlichen Bezug.
Körtner: Also, einen persönlichen Bezug, genau.
"Es gibt nicht nur Schwarz und Weiß"
Main: Würden Sie denn sagen, dass dieses belletristische Werk Ihre Sichtweise auf den assistierten Suizid verändert hat? Oder hat es Ihre Überlegungen eher bestätigt?
Körtner: Es hat meinen Blick, muss ich ehrlich sagen, nicht grundsätzlich verändert. Ich schätze an dem Buch aber, dass es möglich macht – und dafür bin ich auch immer zu haben, auch, wenn ich zum Beispiel gegen eine generelle Legalisierung der Suizid-Beihilfe bin, bin ich immer dafür zu haben, dass man über dieses Thema offen spricht und vor allem nicht so tut, als ob etwa Palliativmedizin und Palliativ-Care die alleinige und schon völlig umfassend hinreichende Antwort auf das ganze Problem von Suizid-Wünschen sind. So sehr ich selbst also Palliativ-Care und Palliativmedizin unterstütze, also die Hospizbewegung, so sehr ist mir bewusst, es gibt Menschen, die sagen: "Toll, dass es das alles gibt, aber von meinem Selbstbild her kann/will ich so nicht weiterleben, wie ich jetzt lebe."
Ich würde es immer als meine Aufgabe - auch als ehemaliger Seelsorger - ansehen, Menschen zum Leben, zum Weiterleben zu ermutigen. Aber es ist mir klar, es gibt auch Situationen, wo sich ein letztes Urteil von Außenstehenden verbietet.
Um noch mal auch auf jüngste Entscheide von deutschen Gerichten zu kommen: Der Bundesgerichtshof hat ja kürzlich in zwei Fällen Ärzte freigesprochen, die Suizid-Beihilfe geleistet haben. Ich bin der Ansicht, auch ärztliche Beihilfe darf/sollte nicht zum Normalfall werden.
Aber es gibt nicht nur Schwarz und Weiß. Es gibt auch Grauzonen. Und auch, wenn ich als reflektierter Theologe und als jemand, der im Moment gesund ist, vielleicht gut reden hat, sage, ich finde es nicht richtig, Suizid-Beihilfe zu legalisieren, erkenne ich an, dass es Grenzfälle gibt. Und darum finde ich es gut, wenn durch Bücher wie diesen Roman auch diese Diskussion in einer nicht platten, sondern wirklich vielschichtigen und hintergründigen Weise weiter angestoßen wird.
Robert Gernhardt: "Die Blusen des Böhmen: Geschichten, Bilder, Geschichten in Bildern und Bilder aus der Geschichte"
3. Auflage, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2018.
240 Seiten, Taschenbuch 12,00 €, E-Book 9,99 €.
Main: Mal ein anderes Genre. Wie sieht es bei Ihnen, Herr Professor Körtner, mit Gedichten aus? Haben Sie da einen Zugang?
Körtner: Durchaus. Wobei, also, ich habe Zugang zu manchen Dichtern, die – sagen wir mal – sehr ernste Gedichte schreiben, so wie zum Beispiel Rose Ausländer. Ja, also von der habe ich viel gelesen. Das hat mich immer auch stark beeindruckt, wie sie mit Sprache umzugehen vermag.
Ich bin selbst aber auch, also, ich sage mal, selber auch als Mensch ein eher immer wieder auch zur Ironie Neigender. Und darum: Einer der größten Dichter für mich ist eigentlich Robert Gernhardt mit seinen Erzählungen, auch mit seinen Gedichten.
Es gibt zum Beispiel eine wunderbare kleine Geschichte aus der Trilogie "Die Blusen des Böhmen". Da gibt es also eine Geschichte, wo er erzählt aus Frankreich in der Zeit der Scholastik, wie dort an der theologischen Fakultät der Streit entbrennt: Wie viele Engel haben Platz auf einer Nadelspitze? Und es gibt dann drei Parteien. Die einen sagen, einer. Der andere sagt, unendlich viele. Und der nächste sagt, keiner. Und das wird immer auch aus den theologischen Büchern der damaligen Zeit – Thomas von Aquin und was nicht alles – begründet. Und der Dekan sagt dann eines Tages: "So, bitte mal alle Streitparteien in den Raum und jetzt passt mal auf." Er nimmt eine Nadel, steckt sie in die Ritze des Tisches, faltet die Hände, betet und es kommen Engel. Es setzt sich einer auf die Nadelspitze, ein zweiter, ein dritter, ein vierter versucht es, rutscht aber ab, versucht es noch einmal, rutscht wieder ab, gibt es auf. Die drei Engel schweben dort und dann entfernen sie sich. "So", sagt der Dekan nach einer Weile des Schweigens, "der Streit ist damit entschieden. Es sind drei Engel, keiner mehr, keiner weniger." Dann sagen diese Streitparteien: "Hm, das waren aber merkwürdige Engel." Und dann geht der Streit wieder los. Und dann sagt der Dekan: "Aber es ist doch klar, dass …" Und dann sagen die: "Klar ist nur eins, dass das keine Engel waren." Und, weil sie sich zum ersten Mal einig sind, gehen sie zum Großinquisitor und eine Woche später sieht man den schönsten Scheiterhaufen brennen, der je in Paris gebrannt hat.
Robert Gernhardt
Der Schriftsteller, Lyriker und Karikaturist Robert Gernhardt (picture alliance/dpa/Foto: Bernd Thissen)
Diese Geschichte erzähle ich immer am Beginn einer Anfängervorlesung für Theologie-Studierende, die in die Dogmatik eingeführt werden sollen. Das ist nämlich keine Blödelei, sondern eine ganz ernste Geschichte im Grunde, weil sie nämlich hinweist auf die prekäre gewaltförmige Seite von Theologie oder die Gewaltgeschichte des Christentums, die Gewaltgeschichte auch von Theologie, die Unterdrückung von Andersdenkenden. Dass man sich damit immer wieder auch unter heutigen Bedingungen selbstkritisch auseinandersetzen muss, halte ich für wichtig.
Ansonsten hinreißend, Gernhardts Gedichte, am schönsten seine Reflexion über Sonette. Er hat ein wunderbares Sonett geschrieben mit dem Titel "Materialien" zu einer Kritik der bekanntesten Gedichtform italienischen Ursprungs. Und es beginnt:
"Sonette finde ich so was von beschissen,
so eng, rigide, irgendwie nicht gut.
Es macht mich ehrlich richtig krank zu wissen,
dass wer Sonette schreibt."
Und so geht das dann immer weiter.
Main: Es ist ein Sonett?!
Körtner: Ein Sonett, ja, ein formvollendetes Sonett zum Thema: "Sonette finde ich so was von beschissen." Wunderbar.
"Religion ist in Kunst präsent"
Main: Abschließend, inwieweit haben Sie den Eindruck, dass Schriftsteller, Dichter, bildende Künstler, Musiker, sagen wir mal Kulturmenschen, offen sind für Religionsthemen und diese eben auch auf je eigene Art bearbeiten? Oder sind das Ausnahmeerscheinungen?
Körtner: Ich glaube, dass das Thema Religion – oder manche würden heute vielleicht sagen Spiritualität – durchaus in der Kunst, auch in der Dichtung, Belletristik, Lyrik und so weiter präsent ist. Aber wir haben heute ja eine viel größere Unbestimmtheit. Und deshalb fand ich zum Beispiel den Walser damals so faszinierend. Denn es ist heute oft vielleicht das Thema Religiosität, Spiritualität in einer sehr unbestimmten Weise oder auch in Form einer Suchbewegung präsent, vielleicht auch nur in einer Form von ironischer Gebrochenheit. Was ich weniger wahrnehme, das ist, dass sich Schriftsteller wirklich dezidiert und auch in die Tiefe gehend mit dem Christentum noch auseinandersetzen. Das gilt also für die Belletristik genauso wie auch für die Philosophie.
Da ist es übrigens interessanterweise so, ich denke da an einen Autor, wie den Turiner Philosophen Gianni Vattimo, der sich so selbst als Halbgläubigen bezeichnet, der zu denen gehört, die so in jüngerer Zeit mit die faszinierendsten Texte zum Christentum oder zu Paulus geschrieben haben, also, gerade nicht aus einer strenggläubigen christlichen Position heraus sich diesen eminenten Autoren, der abendländischen Geistesgeschichte noch mal zuwendet: Paulus aus Kleinasien, also der heutigen Türkei.
Die Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff zu Gast im Studio von Deutschlandradio Kultur.
Die Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff zu Gast im Studio von Deutschlandradio Kultur. (Deutschlandradio - Andreas Buron)
Oder eine Autorin wie Sibylle Lewitscharoff. Die setzt sich ganz dezidiert etwa mit Luther als Wortkünstler, aber eben auch als Theologen auseinander. Das haben wir heute eher nur in Ausnahmefällen.
Main: Wie erklären Sie sich dieses Phänomen?
Körtner: Nun, es ist eben so – gut, das wird dann sehr schwafelig, wenn man sagt, ja, wir haben einen allgemeinen Trend der Säkularisierung. Wir haben eine Pluralisierung von Religion, eine Individualisierung von Religion. Aber es ist eben ein Phänomen, dass die persönliche Bindung an Christentum und Kirche in der Gesellschaft abnimmt. Und das schlägt sich dann eben auch auf die individuellen Künstlerbiografien nieder.
"Ich möchte nicht einer Re-Verzauberung das Wort reden"
Main: Andere sprechen von der Verzauberung der Welt.
Körtner: Ja, die Verzauberung, das ist immer so eine Sache. Also, ich finde, es ist doch auch ein Fortschritt kultur- und geistesgeschichtlich gewesen, dass es in gewisser Weise eine Entzauberung der Welt gab. Und Verzauberung, das ist für mich ein eher negatives Wort, weil es klingt so, als ob man nun eben eine säkulare Welt nachträglich mit ein bisschen Magie wieder märchenhaft machen will.
Ich möchte nicht der Verzauberung oder einer neuen Re-Verzauberung oder was das Wort reden, sondern bin selbst sehr dafür, dass wir ein nüchternes Christentum haben, das in seiner Nüchternheit durchaus emotional berührend sein kann, also sozusagen in seiner Schlichtheit.
Da komme ich noch mal auf dieses Motto "Theologie in dürftiger Zeit" zurück. Was mich beschäftigt: Es treibt mich um, was Bonhoeffer in dem berühmten Brief zum Tauftag seines Patenkindes Rüdiger Bethge geschrieben hat, nämlich, dass wir ganz auf die Anfänge des Verstehens zurückgeworfen sind und dass große Begriffe wie Tod, Auferstehung, Sünde, Vergebung, Wiedergeburt uns so ferngerückt sind, dass wir kaum wagen können, davon zu reden. Das "Wir", das ich jetzt hier gerade ausgesprochen habe, ist erst mal Zitat von Bonhoeffer.
In einer veränderten Zeit haben wir im Grunde immer noch mit den gleichen Problemen zu kämpfen. Und ich meine wahrzunehmen in Theologie und Kirche, dass diese Sprachnot groß ist, oft aber durch sehr oberflächliche Aktionen und flotte Sprüche eher übertüncht wird.
Also, das, was Hugo von Hofmannsthal seinerzeit in dem "Brief des Lord Chandos" darstellte, seine eigene dichterische Krise, wo er diesen Lord Chandos sagen lässt, dass ihm die Worte wie modrige Pilze im Munde verfaulen, ich glaube, das ist etwas, mit dem wir in Theologie und Kirche auch zu tun haben. Und da bin ich dann dankbar für alle Schriftsteller oder sonstigen Künstler, die vielleicht auch durch einen querdenkenden Blick auf das Christentum noch mal – wie soll ich sagen – neue Funken aus der Tradition schlagen und einem selbst damit dann vielleicht auch das eine oder andere Licht aufsetzen.
Main: Kultur und Religion, kulturelle Glanzlichter aus theologischer Perspektive. Einschätzungen und Empfehlungen waren das von Ulrich Körtner, Ethiker und Professor für Systematische Theologie an der evangelisch-theologischen Fakultät der Uni in Wien. Herr Körtner, danke für den Besuch im ORF-Studio, danke vielmals.
Körtner: Bitte, gern.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.