Dienstag, 16. April 2024

Archiv

Religionsgeschichte
"Der Wind weht, wo er will"

Als an Pfingsten der Heilige Geist auf die Erde kam, tobte ein heftiger Sturm. So berichtet es die Bibel. Auch in vielen anderen Religionen spielt der Wind eine wichtige Rolle. Weltweit glauben Menschen, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen Wind, Atem, Geist und Göttern.

Von Christian Röther | 10.06.2019
Regenwolken über den Randdünen am Nordstrand von Norderney
Wind weht schon lange durch die Geschichte der Religionen. Er wird gefürchtet und verehrt, besänftigt und zum Gott erhoben (imago stock&people / Priller & Maug)
"Als der Pfingsttag gekommen war, kam plötzlich vom Himmel her ein Brausen, ein heftiger Sturmwind." Aus der Apostelgeschichte.
Wind, eine Luftbewegung, ausgelöst durch Druckunterschiede. Wind weht auf der Erde seit Milliarden Jahren. Seit wenigen tausend Jahren nutzt der Mensch den Wind: mit Mühlen, mit Segeln.
"Sag: Woher kommt der Wind? Nie sieht man ihn selbst." Aus der Edda.
Mindestens genauso lange weht der Wind durch die Geschichte der Religionen, wie in der Bibel oder der Edda, einer Sammlung nordischer Sagen.
"Hræsvelgr heißt er, der am Himmelsrand sitzt, ein Riese in Adlergestalt; von seinen Flügeln – so sagt man – kommt der Wind über alle Menschen."
"Und alle werden erfüllt mit dem Heiligen Wind."
Wind kann dem Menschen dienen, kann sich aber auch zum Sturm erheben: das Haus niederreißen und das Schiff versenken.
Eine ambivalente, unzähmbare Kraft – die dem Menschen das Leben ermöglicht, als Atem. Wind verbindet den Menschen mit Umwelt und Universum. Er wird gefürchtet und verehrt, besänftigt und zum Gott erhoben.
Wind, Atem und Geist
"Im Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde. Und die Erde war Tohuwabohu, Irrsal und Wirrsal, wüst und leer. Finsternis über der Tiefe. Und über dem Chaos schwebte: der Geist Gottes, der Atem Gottes, der Wind Gottes."
Wind, Atem und Geist – drei mögliche Übersetzungen desselben hebräischen Wortes: Ruach. Ruach kommt in der Hebräischen Bibel fast 400 Mal vor, ist also von großer Bedeutung. Ruach kann Wind, Atem oder Geist heißen, und auch Energie oder Lebenskraft. Der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber übersetzte Ruach mit "Braus Gottes".
Zwei große Fischerboote mit hohen Masten und eingerollten Segeln befinden sich inmitten tosender Wellen.
Sturm und tosende Wellen auf See (dpa / Redkin / Sputnik)
Ruach muss nicht immer etwas Positives sein. Wie der Wind schaffen und zerstören kann, kann auch Ruach Gutes und Schlechtes bewirken.
"Ja, Wind säen sie, und Sturm ernten sie."
In der Bibel steht Ruach auch in Verbindung mit Lügen, Dämonen oder Unzucht.
"Siehe, ich will einen Verderben bringenden Wind erwecken."
Am Anfang der Bibel schwebt die hebräische Ruach – das Wort ist zumeist weiblich – der "Braus Gottes" schwebt über der noch unbewohnten Erde. Aber was genau ist nun diese Ruach Gottes?
Beleben und zerstören
"Wenn man das sagen könnte, wäre es nicht die Ruach", sagt Michael von Brück, Religionswissenschaftler. "Die Ruach ist ja auch ein Prinzip, was mit dem Atem verbunden ist. Was Menschen erfahren als das, was ihr Leben antreibt und das ganze Leben überhaupt erst möglich macht – und gleichzeitig doch eben nicht ganz greifbar ist. So wie eben das Leben von irgendwo herkommt und irgendwo hingeht und nicht so ganz greifbar ist."
Das Konzept der Ruach entsteht aus der Lebenserfahrung des Menschen, so Michael von Brück. Wind, Atem, Geist: Sie sind miteinander verbunden – auch wenn diese Verbindung nicht vollends begreifbar ist.
"Der Wind ist einerseits, was alles belebt. Der aber auch, wenn er sehr stark ist, zerstören kann. Er ist das, was erneuert, was eben etwas wegfegt. Staub wegfegt und so weiter. Wir erleben das ja heute auch noch."
Michael von Brück am 29.05.2008 in seinem Büro in München. Michael von Brück (geboren 1949 in Dresden) ist evangelischer Theologe, Zen- und Yoga-Lehrer. Er leitet den Lehrstuhl für Religionswissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU).
Der Religionswissenschaftler Michael von Brück (imago stock&people / epd)
"Das Menschlein, wie des Grases sind seine Tage, wie die Blume des Feldes, so blüht‘s: Wenn der Wind drüber fährt, ist sie weg, und ihr Ort kennt sie nicht mehr." Aus Psalm 103.
"Gleichzeitig ist er das, was uns am Leben erhält, selbst wenn wir schlafen. Selbst wenn wir vielleicht in einem komatösen Zustand sind: Der Atem geht. Und ich kann auch nicht sagen, ich atme, sondern der Atem bewegt mich und damit mein Leben. Und diese Erfahrung ist natürlich denn sofort mit dem Göttlichen verbunden worden, mit dem Transzendenten."
"Herr Wind", der erste Windgott
Wenn Transzendenz und Atem aufeinandertreffen, dann entstehen: Windgeister, Wettergötter, Sturmgöttinnen. Rund um den Erdball sind seit Menschengedenken Gottheiten zuständig für Atem und Geist, Wetter und Wind.
Das beginnt vor rund 5.000 Jahren im alten Orient - so der heutige Kenntnisstand. Die Sumerer verehren Enlil, den ältesten heute noch bekannten Windgott. Enlil ist der höchste sumerische Gott. Sein Name bedeutet: "Herr Wind".
Wahrscheinlich hat Enlil ältere Vorgänger, doch erst die Sumerer erfinden die Keilschrift, sodass Enlils Geschichte überliefert wird. Das Gilgamesch-Epos berichtet, wie "Herr Wind" versucht, die Menschheit mit einer Sturmflut auszulöschen:
"Einen ganzen Tag lang walzte der Sturm das Land nieder. Rasend tobte er. Dann aber entfesselte der Ostwind die Sintflut. Wie ein Schlachtengemetzel brach die Wucht der Flut auf die Menschen ein."
Enlils verheerende Sturmflut war wohl Vorlage für die biblische Sintflut. Und Enlil wurde auch zum Vorbild vieler anderer Windgötter und Windgöttinnen.
Fujin, Vayu, Huracan
Die alten Griechen etwa unterschieden ihre Windgötter nach Himmelsrichtungen und Jahreszeiten, wie Boreas: der Gott des winterlichen Nordwindes.
Oft war der Wind Chefsache, so auch in Nordeuropa: Göttervater Odin herrschte über die Stürme. In Skandinavien heißen nächtliche Winterstürme teils bis heute "Odins wilde Jagd".
Mancher Seemann nennt einen Sturm noch heute "Windsbraut". So tauft man inzwischen auch Ferienwohnungen an Nord- und Ostsee. Früher war die Windsbraut ein nordischer Wettergeist.
Auf der anderen Seite der Erde heißt der Windgott Fujin – im japanischen Shinto. Fujin trägt einen Sack um die Schultern, aus dem er den Wind entweichen lässt.
Vayu, der indische Gott des Windes und der Luft, auf einem Eber sitzend
Vayu, der indische Gott des Windes (imago stock&people / Danita Delimont)
Bei den Maori auf Neuseeland ist der Gott Tāwhirimātea für den Wind zuständig. Seine Kinder tragen Namen wie "Wirbelwind" und "Sturmböe".
Auch Huracan, der Windgott der Maya, beschäftigt die Menschen bis heute: Huracan lebt sprachlich fort im "Orkan" und im "Hurricane".
Götter machen Wind. Oder: Wind macht Götter. Von der Macht des Windes zeugen viele Geschichten, Legenden und Mythen.
"Vayu, der indische Gott des Windes, wird von anderen Göttern zu einem Wettstreit herausgefordert. Sie wollen herausfinden, wer von ihnen am stärksten ist. Dazu verlassen sie einer nach dem anderen den menschlichen Körper. So verliert der Mensch nacheinander das Gehör, das Sehen, die Bewegung, den Tastsinn. Aber immer lebt er weiter. Da verlässt der Windgott Vayu den Körper, und der Mensch stirbt. So erkennen die anderen Götter Vayus Stärke, und sie verneigen sich vor dem Herrn der Winde." Aus den indischen Upanishaden.
War Jahwe ein Windgott?
Die Liste der Windgötter ließe sich fortsetzen. Auch Jahwe, der Gott der Hebräischen Bibel, könnte seine Karriere als Windgott begonnen haben. Dann aber steigt Jahwe im Alten Israel erst zum höchsten Gott auf und dann zum einzigen. Ein Gotteskonzept, das nicht nur das Judentum prägt, sondern auch Christentum, Islam und andere monotheistische Religionen durchweht.
Zu Beginn jedoch wird Jahwe noch nicht als alleiniger Gott verehrt, sondern als einer unter vielen. Manche Wissenschaftler argumentieren, sein Name leite sich her aus dem Wortstamm für "wehen" und "stürmen". So könnte die Idee eines einzigartigen Schöpfergottes ihren Ursprung haben in einem lokalen Herrn der Winde: ein Sturmgott, der die Welt eroberte.
Nicht nur sprachlich ist Jahwe mit dem Wind verbunden. Die Bibel berichtet immer wieder, dass Gott im Sturm wirkt. Dazu passt auch, dass Jahwe von der Ruach begleitet wird, dem göttlichen Wind, Atem oder Geist.
Mit der Ruach gesellte sich ein abstrakteres Konzept zu den vielen Windgöttern, die ganz konkret und handfest die Welt durchpusten. Mit Jahwe und Ruach ergreift ein monotheistischer Hauch den Menschen: das absolute Geheimnis.
Yoga: Einatmen, ausatmen
Doch einzigartig ist die Ruach nicht. Im Gegenteil: In vielen Kulturen, Philosophien und Religionen finden sich ähnliche Konzepte. Etwa das indische Atman. Im Hinduismus bedeutet Atman "Atem", "Lebenshauch", "Seele". Ganz ähnlich Prana, das im Hinduismus ebenfalls von zentraler Bedeutung ist. Auch Prana wird übersetzt mit "Atem", oder mit "Lebensenergie".
"Wenn wir in die alten indischen Schriften schauen, dann ist Prana ein belebendes Prinzip, was sich auch im Atem manifestiert, auch im Blutkreislauf. Auch in den Metabolismen, der Verdauung zum Beispiel. Also überall dort, wo Energie wirkt und umgewandelt wird, sodass Lebensprozesse möglich sind."
Michael von Brück ist nicht nur Religionswissenschaftler. Sondern auch evangelischer Theologe, Zen-Lehrer und Yoga-Lehrer. Zen stammt ursprünglich aus dem Buddhismus, Yoga aus dem Hinduismus. Der Atem spielt hier eine zentrale Rolle – im Zen wie im Yoga.
Eine Frau beim Yoga-Kopfstand am See
Der Atem spielt im Zen und Yoga eine zentrale Rolle (imago / Westend61)
"Der Atem ist das Scharnier zwischen Bewusstem und Unbewusstem. Atem vollzieht sich die ganze Zeit. Wenn auch immer ich lebe, es atmet. Es atmet in mir. Ich kann aber gleichzeitig auch den Atem bewusst gestalten. Das heißt, ich kann kurz atmen, ich kann lang atmen, ich kann gleichmäßig atmen, ich kann jacheln, hecheln. Und all diese verschiedenen Atemformen haben Wirkung, haben eine Wirkungsbreite. Sie erzeugen geistige Zustände, emotionale Zustände, auch Konzentrationen oder Nicht-Konzentrationen. Wie jeder weiß, der in Prüfungssituationen oder Angstsituationen gewesen ist: Da geht plötzlich der Atem anders. Und wenn man den Atem auch dann wieder kontrollieren kann und beruhigen kann, beruhigen sich auch die Emotionen."
Gebetsfahnen: Gebete wehen in die Welt
Im Atem sind Wind und Geist verbunden – nicht nur im indischen Prana. Auch das chinesische Chi bedeutet Atem, Luft, Kraft oder Energie. In Japan ist das Konzept als Ki bekannt, in Korea als Gi. Etwas ganz Ähnliches kennt auch der tibetische Buddhismus.
"Dort ist bei allen geistigen Vorgängen immer ein sogenannter Lung dabei. Lung, das heißt wirklich: Wind."
Die enge Verbindung von Geist und Wind im tibetischen Buddhismus zeigt sich an den Gebetsrädern oder Gebetsmühlen, angetrieben auch vom Wind. Und an den Gebetsflaggen, Windpferde genannt: Sie sind bunt, etwa so groß wie Servietten und wehen inzwischen nicht mehr nur in Tibet, sondern auch in vielen deutschen Vorgärten.
Tibetanische Gebetsfahnen vor Ausläufern des Himalya-Gebirges
Tibetanische Gebetsfahnen (imago stock&people)
"Die Gebete, die auf eine solche Fahne oder ein solches Gebetsrad geschrieben sind, die sollen dann durch den Wind in die Welt getragen werden."
So soll der Wind dem Menschen helfen auf seinem Weg ins Nirwana. Nirwana, das ist das Ziel des buddhistischen Daseins: der Ausstieg aus dem Kreislauf des Leidens. Und Wind durchweht auch die Idee vom Nirwana: Es lässt sich übersetzen mit "Verwehen".
"Zwei Mönche stritten über die Tempel-Flagge, die über dem Klostertor im Wind flatterte. Der eine sagte: Die Flagge bewegt sich. Nein, erwiderte der andere: Der Wind bewegt sich. So stritten sie und konnten sich nicht einigen. Da kam Meister Huineng vorbei und sagte zu den Mönchen: Weder die Flagge bewegt sich noch der Wind. Nur euer Geist bewegt sich." Anekdote aus dem Zen-Buddhismus.
"Was ist die Farbe des Windes?"
"Who has seen the wind? Neither you nor I. But when the trees bow down their heads, the wind is passing by." Yoko Ono – Who has seen the wind? (1969)
Wer hat den Wind gesehen, will Yoko Ono wissen. Und gibt die Antwort gleich selbst:
"Niemand hat den Wind je gesehen. Doch wenn die Bäume ihre Köpfe neigen, dann zieht der Wind vorbei."
Seit Jahrtausenden geht der Wind den Menschen durch den Kopf – doch sie kriegen ihn nie ganz zu fassen. Wind animiert die Menschheit zu komplexen philosophischen und religiösen Überlegungen. Und zu ganz einfachen Fragen:
"Was ist die Farbe des Windes?"
Auch dieser Satz stammt aus dem Zen-Buddhismus. Ein Koan: eine scheinbar simple Aussage, die tatsächlich aber mit Logik nicht zu bewältigen ist.
"Was ist die Farbe des Windes?"
Feinstoffliche Wirklichkeit
Dass so viele Religionen und Philosophien einen Zusammenhang zwischen Wind, Atem, Leben, Geist, Seele erkennen, erklärt sich Michael von Brück so:
"Die Menschen in diesen Kulturen empfinden: Die Wirklichkeit, mit der wir es zu tun haben, ist nicht nur und keineswegs primär diese materielle, stoffliche Welt, die wir anfassen können und auf die wir klopfen können."
Ein wehender Schleier.
Wind und Geist: Beide sind nicht unmittelbar sichtbar, aber spürbar (imago)
Sondern es gebe mehr als Materie. Der materiellen, der grobstofflichen Welt gegenüber stehe eine feinstoffliche. Und diese feinstoffliche Welt könne man nicht sehen und nicht anfassen – und trotzdem sei sie da. Das Feinstoffliche sei eine Wirklichkeitsform, …
"… die dann immer noch natürlich in irgendeiner Weise sinnlich erfahren wird, sonst wäre sie gar nicht erfahrbar, aber nicht so fest an Raum und Zeit und an unsere feststehenden Kategorien überhaupt gebunden ist."
Diese feinstoffliche Welt ist naturwissenschaftlich nicht nachzuweisen. Sie existiert im Glauben. In ihr berühren sich der Wind und der Geist: Beide sind nicht sichtbar, aber spürbar. Beide sind flatterhaft und ständig in Bewegung. Wind und Geist: Sie haben keinen Ort und keine Zeit. Wind kann nicht nicht sein. Im Gegenteil: Wind ist allgegenwärtig – das glauben Menschen auch von Gott.
Vielleicht erklären diese Gemeinsamkeiten die vielen gemeinsamen Namen von Wind, Atem, Leben, Geist oder Seele: Indisch: Prana. Chinesisch: Chi. Tibetisch: Lung. Und eben die hebräische Ruach, wie sie so oft in der Bibel beschrieben wird.
"Windhauch, Windhauch, sagte Kohelet. Windhauch, Windhauch, das ist alles Windhauch. Welchen Vorteil hat der Mensch von all seinem Besitz, für den er sich anstrengt unter der Sonne? Eine Generation geht, eine andere kommt. Die Erde steht in Ewigkeit. Die Sonne, die aufging und wieder unterging, atemlos jagt sie zurück an den Ort, wo sie wieder aufgeht. Er weht nach Süden, dreht nach Norden, dreht, dreht, weht, der Wind. Weil er sich immerzu dreht, kehrt er zurück, der Wind. Ich beobachtete alle Taten, die unter der Sonne getan wurden. Das Ergebnis: Das ist alles Windhauch und Luftgespinst." Aus dem Buch Kohelet.
Hagion Pneuma: der Heilige Geist
Sich vom Judentum abgrenzend entsteht vor 2.000 Jahren das Christentum in einem Kulturraum, der griechisch geprägt ist: sprachlich, kulturell, philosophisch. So wird das Neue Testament nicht auf Hebräisch verfasst, wie die älteren Bücher der Bibel, sondern auf Griechisch. Und so trifft die hebräische Ruach auf das griechische Pneuma.
Auch Pneuma bedeutet Atem, Windhauch oder Geist. Die griechische Philosophie kennt Pneuma schon lange vor Jesu Geburt. Und es spielt dann auch eine zentrale Rolle im Neuen Testament:
"Der Wind weht, wo er will, und du hörst sein Sausen wohl; aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er fährt. So ist es bei jedem, der aus dem Geist geboren ist."
Das hebräische Ruach und das griechische Pneuma verbinden sich zu einem grundlegenden theologischen Konzept des Christentums: Hagion Pneuma – der Heilige Geist.
"Der Geist, der frei ist, der überall weht, der eben nicht gebunden ist an Sprache, nicht gebunden ist an Rasse, auch nicht gebunden ist an eine bestimmte Religion – der Geist ist frei. Und es ist sozusagen die göttliche Schöpfungsenergie, um eine neue Schöpfung – wie Paulus es ausdrückt – eine καινὴ κτίσις herbeizuführen. Diese neue Schöpfung ist nicht einfach ein neues Universum mit neuen Sternen und so weiter, sondern eine neue geistige Realität."
Pfingsten: der Wind und die Gründung der Kirche
Der Geist Gottes wirkt in der Welt, so die religiöse Vorstellung. Seinen größten Auftritt hat er an Pfingsten. Da kommt der Heilige Geist herab auf die Apostel. Oder ist es der Atem Gottes, oder der Heilige Wind? Die Apostelgeschichte wählt jedenfalls stürmische Worte:
"Als der Pfingsttag gekommen war, befanden sich alle Apostel am gleichen Ort. Da kam plötzlich vom Himmel her ein Brausen, wie ein heftiger Wind, und durchströmte das ganze Haus. Alle wurden erfüllt mit dem Heiligen Geist und sie begannen, in fremden Sprachen zu predigen, wie der Geist es ihnen eingab – wie der Wind es ihnen eingab."
Das Gemälde eines südschwäbischen Meisters um 1480 mit dem sakralen Thema: "Die Ausgießung des Heiligen Geistes". Die Gläubigen werden durch eine Taube mit dem heiligen Geist erfüllt. 
Das Gemälde "Die Ausgießung des Heiligen Geistes" eines südschwäbischen Meisters um 1480 (dpa / Schnoerrer)
An Pfingsten hat der Wind also wesentlich dazu beigetragen, dass eine neue Religion entstehen konnte – so könnte man die Erzählung interpretieren. Denn im Christentum gilt das Pfingstwunder als Gründung der Kirche.
Treibende Kraft der Religionsgeschichte
Nicht nur die Kirche wurde im Sturm geboren. Der Wind hat ungezählte Götter groß gemacht und ist selbst zum göttlichen Prinzip aufgestiegen, zur Lebensenergie, zur Hauchseele. Von Amerika bis Neuseeland, vom Hinduismus bis ins Christentum: Weltweit hat der Wind religionsgeschichtliche Spuren hinterlassen. Ist Wind also eine treibende Kraft der Religionsgeschichte?
"Ich denke, ja. Nun kenne ich jetzt natürlich nicht alle Religionen, und natürlich ist das auch eine Sache, die unterschiedliche Gewichtungen hat. Keine Religion gleicht der anderen. Aber schauen Sie: Unser menschlicher Körper und unsere menschliche Existenz ist für Jahrzehntausende, vielleicht sogar für Jahrhunderttausende in diesen grundlegenden physiologischen Funktionen gleich geblieben. Und ob wir jetzt in Afrika – auch heute – oder in Südamerika oder in Europa leben: Wir haben den gleichen Körper. Und wir haben alle diese Erfahrung des Atems. Und wir haben diese Erfahrung, dass wir abhängig sind vom Atem, dass der Atem durch uns hindurchgeht."
Im Atemholen sind zweierlei Gnaden:
Die Luft einziehen, sich ihrer entladen;
Jenes bedrängt, dieses erfrischt;
So wunderbar ist das Leben gemischt.
Du danke Gott, wenn er dich presst,
Und dank ihm, wenn er dich wieder entlässt.
Aus Goethes West-östlichem Divan.
"Wir sind im Atem mit allem anderen Leben verbunden"
"Wir sind aber im Atem – und das ist jetzt noch ein wichtiger Gesichtspunkt, der im Zen zum Beispiel eine Rolle spielt – wir sind im Atem mit allem anderen Leben verbunden, und zwar sehr intim."
Michael von Brück: Religionswissenschaftler, Theologe, Yoga- und Zen-Lehrer.
"Denn die Luft, die ich jetzt ausatme, die atmen Sie ein. Und die Luft, die Sie ausatmen, die atme ich ein. Und wenn jetzt noch Tiere hier wären oder Pflanzen, dann sind wir abhängig in diesem sehr intimen Austausch. Die Luft geht sehr tief. Ich sage meinen Schülern oft, dieses Atem-Austauschen geht noch tiefer, ist fast noch intimer als sexueller Austausch."
Silhouette einer Frau unter einem Sternenhimmel in den Bergen
Der Atem wird zum Symbol für die universelle Verbindung mit der Welt (imago)
Ist der Wind in der Geschichte der Religionen also deshalb so bedeutsam geworden, weil er als Atem der Welt erkannt wurde, als Atem Gottes? Der Atem-Austausch mit allem und jedem, mit Freundin und Feind – dieser Atemtausch kann laut Michael von Brück zu einer höheren Erkenntnis führen:
"Alle Lebewesen sind wechselseitig voneinander abhängig."
Der universelle Zusammenhang von allem mit allem
Um diese Abhängigkeit zu verdeutlichen, nutzt Michael von Brück eine Idee des Theologen Friedrich Schleiermacher: das menschliche "Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit".
"Dieses Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit von einer allem zugrundeliegenden Kraft – manche nennen die Gott, andere nennen sie Prana, andere nennen sie – was weiß ich. Aber es gibt dieses Empfinden: Leben kommt aus einem solchen universalen Zusammenhang. Die gesamte Evolution des Lebens, einschließlich der geistigen Evolution, hat diese Wurzel, aus der wir alle miteinander verbunden sind."
Der Wind, er weht immer und überall, selbst im Menschen. So wird er zum Symbol für diese universelle Verbindung von allem mit allem.
"Ich glaube, das ist ein Grundmotiv, das Menschen dazu gebracht hat und auch noch bringt, ja, Pfingsten zu feiern und überhaupt religiöse Symbole auf sich wirken zu lassen."