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Religionsgeschichte
Wie gehen Religionen unter?

In der Religionsgeschichte ist oft die Rede von Siegern und Besiegten, wenn eine neue Religion eine alte ablöst. Doch so einfach ist es nicht, sagen Forscher. Zwar sahen viele Religionen sich als Sieger an, doch nach Religionen, die sich als Verlierer fühlten, suche man meist vergeblich.

Von Christian Röther | 10.01.2020
Die Akropolis in Athen
Wie gingen sie unter - die griechischen Götter? (imago / Arcaid Images)
Wie hat alles angefangen? Wie ist das Judentum entstanden, wie das Christentum, wie der Islam? Fragen, die in der Forschung schon oft gestellt wurden. Eine Forschergruppe im norwegischen Oslo hat die Frage jetzt umgedreht: Wie gehen Religionen unter?
"In dem Projekt haben wir versucht, Religionsgeschichte mal anders zu betrachten. Wir haben im Fach eine gewisse Faszination für Anfänge. Aber es gibt relativ wenig Interesse oder Forschungen zu dem Thema, wie Religionen eigentlich aufhören. Oder ob sie aufhören", sagt Michael Stausberg.
Stausberg ist Professor für Religionswissenschaft im norwegischen Bergen. Gemeinsam mit einem Kollegen, James Lewis aus Tromsø, hat er dieses Projekt ins Leben gerufen. Es heißt "The Demise of Religions" – also: der Untergang von Religionen.
"Die Perspektive der Besiegten"
Das Team traf sich ein Jahr lang in Oslo. Es bestand aus mehr als einem Dutzend internationaler Forscherinnen und Forschern. Sie diskutierten über Religionen aus aller Welt, die es schon lange nicht mehr gibt – oder die es bald vielleicht nicht mehr geben wird. Und sie stellten bisherige Forschungsmeinungen in Frage:
"Da wurde eben die Geschichte sehr oft geschrieben als die des Siegeszugs des Christentums oder der Islamisierung, wenn wir ein bisschen weiter Richtung Osten schauen. Aber es gab sehr wenig Interesse, sich sozusagen der Perspektive der – nennen wir sie mal ‚Besiegten‘ zu bemächtigen, und mal zu schauen: Wie würde sich die Geschichte darstellen aus deren Perspektive?"
"Stereotype Geschichtsschreibung"
Da hat die Wissenschaft allerdings ein ziemlich großes Problem mit den Quellen. Denn die stammen meist von den "Siegern" der Religionsgeschichte, und die sprechen oft polemisch und abwertend über ihre Vorgänger. Die historische Wahrheit sieht wahrscheinlich anders aus, doch die Erzählungen der Sieger wurden oft einfach von der Forschung übernommen, sagt Michael Stausberg:
"Da kann man halt auch schnell beobachten, dass die bestehende Geschichtsschreibung sich stereotyper Bewertungen bedient. Man spricht dann halt davon, dass die älteren Religionen nur noch leere Rituale waren, nicht mehr produktiv waren, den neuen Religionen nichts entgegenzustellen hatten."
"Dann kam eines Tages endlich das Christentum"
Aber wie war es wirklich, wie erlebten die Anhänger der vorherigen Religionen ihr Verschwinden? Das wollte im Rahmen des Projektes auch Janne Arp-Neumann herausfinden, und zwar für die Religion des Alten Ägypten. Janne Arp-Neumann arbeitet als Ägyptologin an der Universität Göttingen. Sie sagt: Auch über die altägyptische Religion herrschte in der Forschung lange die Meinung vor, dass es einen Verfallsprozess gegeben habe.
"Im Grunde ist das heute überholt, diese Idee. Und trotzdem ist immer noch die Annahme da, dass wir hier eine Verfallszeit haben. Lange haben die Menschen dann noch quasi im Vakuum so dahingelebt und ihre private Frömmigkeit gelebt, und dann kam eines Tages endlich das Christentum und hat da die Erfüllung gebracht. So ist bisher eigentlich immer noch die Meinung, die man so überwiegend lesen kann."
Also eine christlich gefärbte Forschungsmeinung. Sie ging davon aus, dass es schon lange, bevor sich das Christentum in Ägypten durchsetzte – im 5. Jahrhundert war das – dass es schon lange vorher zum Bruch in der ägyptischen Religionsgeschichte gekommen sei. Und zwar schon rund 2000 Jahre zuvor, in der Armana-Zeit, also im 14. Jahrhundert vor Christus.
"Die ägyptische Kultur hätte sich davon nicht wieder erholt"
Da wollte der Pharao Echnaton die ägyptische Religion grundlegend reformieren. Nicht mehr die vielen Göttinnen und Götter - wie Re, Amun oder Isis - sollten verehrt werden, sondern nur noch ein Gott: Aton. Auch Aton war - wie so viele ägyptische Götter - ein Sonnengott, aber er sollte nun eben der Einzige sein. Doch die Reform scheiterte, und viele Forscher sahen darin eine Art Todesurteil für die ägyptische Religion, erklärt Janne Arp-Neumann:
"Diese andere Form des Sonnengottes, die da erhoben wurde, und die Exklusivität, die damit verbunden war, wurde als radikaler Schritt begriffen. Und damit hat man eben den Beginn vom Ende markiert. Und da hat man die Idee gehabt, dass dieser Bruch der Armana-Zeit die Menschen so tief erschüttert hat – so ihren Glauben irgendwie erschüttert hat, dass die Menschen angefangen hätten, sich vermehrt vor allem an ihre eigenen Götter zu wenden. Und die ägyptische Kultur hätte sich davon nicht wieder erholt."
Die Büste des Pharaos Echnaton im Museum in Luxor 
Der Pharao Echnaton ist auch als "Ketzerpharao" bekannt (picture alliance/dpa/Foto: Rech)
Seit Echnaton sei es also jahrhundertelang bergab gegangen, und dann hätte das Christentum eben leichtes Spiel gehabt. Dieser Forschungsmeinung stimmt Janne Arp-Neumann nicht zu.
"Ich trenne mich gerade von meiner Tradition"
Die Ägyptologin sieht das Ende der altägyptischen Religion stattdessen als einen Prozess an: ein sehr langsamer Prozess, in dem allmählich manche Elemente der Religion unwichtiger werden oder ganz verschwinden – und andere Elemente neu hinzukommen. Demnach hätte sich die altägyptische Religion langsam, aber stetig verändert.
Arp-Neumann: "Ohne dass sich das Individuum bewusst gewesen wäre: Ich trenne mich gerade von meiner Tradition. Sondern für das Individuum – denke ich – wird immer die Idee gewesen sein, dass es immer noch das Ägyptische, die Praxis ägyptischer Religion ist, an der man teilnimmt. So, wie sie gerade an diesem Zeitpunkt eben ist und an diesem Ort ist."
"Heidnische Überreste"
Und als sich die christlichen Ideen nach und nach in Ägypten verbreiteten, rissen die altägyptischen Traditionen nicht einfach ab. Wie Funde belegen, mumifizierte manch ein christlicher Ägypter auch weiterhin seine Toten, Christentum hin oder her.
Arp-Neumann: "Das, was man eben früher immer so als heidnische Überreste gesehen hat oder Überbleibsel – also das, was man noch sozusagen als ‚ägyptisch‘ identifizieren kann im frühen Christentum – das kann man eben auch anders denken: als den Faden, den roten Faden, der durchgeht. Und eben das, was nicht zurückgelassen wurde – oder noch nicht, während anderes zurückgelassen wurde."
Aus Sicht der vermeintlichen "Besiegten" gab es also gar keine Niederlage, und dementsprechend auch keinen Sieg des Christentums. Das Christentum erklärte sich zwar später selbst zum Sieger, und die westliche Forschung stimmte ein. Doch es gibt keine Quellen, die belegen, dass irgendjemand in Ägypten eine Niederlage empfunden hätte.
"Wenn eine Religion nur noch Weihnachten bedient wird"
Es war einfach ein langer Wandlungsprozess, meint Janne Arp-Neumann, und so sei es oft bei vermeintlich besiegten Religionen, sagt auch Projektleiter Michael Stausberg. Man finde so gut wie keine Belege dafür, dass die alten Römer oder Griechen oder Germanen oder wer auch immer – dass sie sich als Verlierer der Religionsgeschichte empfunden hätten.
Frau sitzt im Magdeburger Dom inmitten leerer Stuhlreihen und betet.
Auch das Christentum unterliegt einem Wandel (imago )
Das unterscheide die damalige von der heutigen Situation, in der zum Beispiel immer wieder vor dem Verlust des Christentums gewarnt wird. Christen also als die neuen Verlierer der Religionsgeschichte?
Stausberg: "Wenn also eine Religion nur noch sonntags oder Weihnachten bedient wird, oder man nicht mehr weiß, welche Heilige – jetzt im katholischen Kontext – sind für welchen Lebensbereich zuständig, dann sieht man da eben auch so eine Verengung der Anwendungsbereiche von Religion."
Die letzten zwei Shaker
Das müsse aber nicht zwangsläufig den Untergang bedeuten, sagt Michael Stausberg. Trotzdem seien es Indizien dafür, dass sich eine Religion verändere. Und Veränderungsprozesse können eben bis zum kompletten Verschwinden führen, wie es beispielsweise im Alten Ägypten war.
Allerdings wird das Christentum in absehbarer Zeit sicherlich nicht als Ganzes verschwinden. Es verschwinden aber immer mal wieder einzelne kleine Strömungen. Als nächstes könnten die Shaker dran sein, sagt Michael Stausberg. Die Shaker sind eine christliche Freikirche in den USA. Sie haben nur noch zwei Mitglieder.
"... denen auch ganz klar ist, dass sie sie Letzten sein werden. Was wir eben dann sehen: dass so eine Art 'Verkulturerbung' der Shaker stattfindet."
Religionen gehen nie so ganz
Das heißt: Die Siedlungen der Shaker werden zum Beispiel zu Museen umgestaltet, und daran wirken die letzten Shaker aktiv mit. Sie wollen also sicherstellen, dass die Nachwelt sich an sie erinnert. Wie wir heute auch noch die Religionen des alten Ägypten oder Rom oder Griechenland kennen, obwohl sie schon so lange nicht mehr praktiziert werden.
Aber, und das ist wohl auch ein Ergebnis, wenn man über den Untergang von Religionen nachdenkt: Religionen verschwinden eben nie komplett, sondern sie hinterlassen immer ihre Spuren, und sie prägen ihre Nachfolger.