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Religionskritik - wie geht das richtig?
Christen zwischen Dünnhäutigkeit und Selbstkritik

Die Kirchen müssen sich selbstkritisch mit ihren Positionen auseinandersetzen und die Erkenntnisse der Wissenschaften anerkennen. Das forderten im Deutschlandfunk der katholische Theologe Professor Gerhard Kruip sowie der evangelische Wissenschaftspublizist Martin Urban. Beide wandten sich gegen Fundamentalisten und Traditionalisten in den eigenen Reihen.

Gerhard Kruip und Martin Urban im Gespräch mit Andreas Main | 21.09.2016
    Prof. Dr. Gerhard Kruip, Christliche Anthropologie und Sozialethik
    Gerhard Kruip, Professor für Christliche Anthropologie und Sozialethik in Mainz, plädiert für Offenheit gegenüber Kritik - wie auch der Wissenschaftspublizist Martin Urban. (Peter Pulkowski)
    Andreas Main: Herr Kruip, Sie sind Professor für Christliche Anthropologie und Sozialethik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Uni Mainz. Sie haben vor fünf Jahren ein Memorandum mitinitiiert, in dem 300 Theologen eine Reform ihrer Kirche forderten. Fünf Jahre später und mit einem Papst, der eher Ihrer Position entspricht als sein Vorgänger - hat sich das erledigt mit der Kritik an kirchlichen Zuständen?
    Gerhard Kruip: Nein, erledigt hat sich das nicht. Man muss allerdings gleichzeitig sagen, dass sehr viel in Gang gekommen ist. Viel mehr, als wir damals 2011 erhofft haben. Wir sind überrollt worden durch die Dynamik, die vielleicht zum Teil ein bisschen durch unser Memorandum ausgelöst worden ist, aber natürlich durch viele andere Kräfte in der Kirche, die unzufrieden waren mit den Verhältnissen, mit den Zuständen, mit der Praxis und die Veränderungen eingeklagt haben. Und es ist sehr erfreulich, dass Papst Franziskus eben zumindest die Möglichkeiten vergrößert hat, die Szenerie eröffnet hat, darüber auch offener zu diskutieren.
    Traditionslast abschütteln
    Main: Wo sehen Sie zurzeit wunde Punkte, die zentralen Schwachstellen?
    Kruip: Also ein ganz zentraler Schwachpunkt ist natürlich, dass die Praxis nicht der Botschaft entspricht, jedenfalls nicht so, wie man sich das wünschen würde. Die Botschaft sagt: Zuwendung zum Nächsten ist entscheidend, Option für die Armen, Eintreten für Gerechtigkeit. Es gibt viele Christen, die das tun, aber eben doch insgesamt zu wenig. Dazu ist die Welt zu ungerecht, als dass man damit zufrieden sein könnte, was bisher geschieht. Da gibt es noch sehr viel zu tun und auch sehr vieles an Institutionen, an Strukturen zu verändern. Und daraus abgeleitet muss man sich natürlich fragen, so wie die Kirche - die katholische Kirche, über die möchte ich zunächst sprechen - aufgestellt ist: Ist sie überhaupt in der Lage, das umzusetzen, was ihre Botschaft verlangt?
    Und da würde ich sagen, dass es da noch Probleme gibt, mit der starken hierarchischen Orientierung, mit dem Zölibat, mit der Verurteilung von Minderheiten mit anderer sexueller Orientierung und ähnlichen Dingen, da hat man eine Traditionslast, die man eigentlich abschütteln muss, um wirklich für die Armen und für Gerechtigkeit eintreten zu können.
    Die Kirchen spielen keine Rolle
    Main: Martin Urban, auch Sie wollen Ihre Kirche aufrütteln, in Ihrem Buch "Ach Gott, die Kirche. Protestantischer Fundamentalismus und 500 Jahre Reformation". Da fordern Sie ein eindeutiges Zurück zu Luther. Was stört Sie zurzeit am meisten an Ihrer Kirche?
    Martin Urban: Die evangelische Kirche - vor allem die lutherische - hat längst vergessen, dass sie auch Kirche der Aufklärung ist. Martin Luther verlangte einst, dass die Ratsherren in Deutschland Schulen bauen, damit die Leute die Bibel selbst lesen konnten, und nicht einfach nur glaubten, was ihnen der Pfarrer erzählte und was die Kirche lehrte. Auch sonst sollten sie lernen, zum Beispiel Mathematik. Die Kirchen heute interessieren sich nicht mehr dafür, ihre Lehren im Lichte wissenschaftlicher Erkenntnisse zu reflektieren oder gar zu reformieren. Die Gesellschaft interessiert das auch nicht mehr. Die Kirchen spielen deshalb in der intellektuellen gesellschaftlichen Diskussion unserer Zeit keine Rolle. Es gibt keinen neuen Thesenanschlag wie vor 499 Jahren in Wittenberg. Ich zitiere mal Walter Hollenweger, einst Exekutivsekretär beim Ökumenischen Rat der Kirchen, der sagt: Wir sind heute nur noch irrelevant.
    Leider liegt für dieses Bild keine Bildbeschreibung vor
    Der Publizist Martin Urban (dpa/Zucchi)
    Main: Sie sagen also, die Reformation sei weitgehend vergessen in den evangelischen Kirchen, obwohl sie im großen Stil gefeiert wird?
    Urban: Unter dem Aspekt, Erkenntnisse aufzunehmen und die eigene Lehre daraufhin neu zu justieren.
    Main: Herr Urban hat es eben schon formuliert, aus seiner Sicht sind die Kirchen irrelevant geworden, womöglich steht das ja auch in direktem Verhältnis dazu, dass aus meiner Sicht die Kritik an beiden Kirchen eher leiser wird, nur manchmal kurz aufploppt – im Fall der katholischen Kirche - und dann ist es wieder ruhig. Herr Kruip, können Sie diese These, können Sie damit etwas anfangen?
    Mehr Raum für Theologen
    Kruip: Ja, ich denke schon, dass es eine gewisse Ermüdung gibt bei bestimmten Themen, über die sehr, sehr lange intensiv gesprochen wurde und wo viele Beteiligte den Eindruck haben, es ist eigentlich alles gesagt, zum Beispiel beim Thema Schöpfungstheologie und Evolution. Trotzdem ist es aber so, dass die Gesellschaft sich ja verändert. Es werden neue Menschen geboren, die heranwachsen und sich mit den Themen auseinandersetzen, deswegen sind das Themen, die nicht ad acta gelegt werden können, sondern immer wieder neu thematisiert werden müssen.
    Und ich glaube auch, dass da theologisch noch einiges zu arbeiten ist, beim Thema freier Wille und Gehirnforschung, beim Thema Kosmologie, die Vielfalt von Universen, die es möglicherweise gibt, muss man theologisch auch irgendwie bedenken, natürlich die Evolution als Problem für die Schöpfungstheologie. Und da muss Theologie auch kreativer werden und damit sie das kann, – in der evangelischen Kirche gibt es das Problem nicht so stark, aber in der katholischen Kirche eben doch – muss vom Lehramt der Theologie auch mehr Raum gegeben werden, es muss viel mehr möglich sein als bisher, eben auch unkonventionelle Ideen zu thematisieren, zu diskutieren und das Lehramt der Kirche sollte viel mehr der Zunft der Theologie überlassen, festzustellen, was dann tragfähig ist und was nicht und nicht zu früh intervenieren.
    "Fundamentalisten dürfen alles sagen"
    Urban: Ich würde dazu sagen, kircheninterne Kritiker an den Hochschulen würden, wenn sie sagen, was sie selbst wissen, ihr Amt als Theologe aufs Spiel setzen. Kirchenverträge und Konkordat mit dem Staat sind gewichtiger als die grundgesetzlich garantierte Freiheit von Forschung und Lehre. Beispiele auf der katholischen Seite sind Hans Küng und Uta Ranke-Heinemann, auf der evangelischen Seite Gerd Lüdemann. Die Folge ist, dass die historisch-kritisch arbeitenden Theologen ganz leise geworden sind, und ich fürchte, sie haben Angst….
    Main: Naja, Kruip ist noch im Amt und ist nicht ganz leise.
    Urban: Ja, aber da geht es nicht um die grundlegenden Fragen. Fundamentalisten dürfen alles sagen. Wohingegen die kritischen Leute, denen es um die Neuauslegung der Lehre im Lichte auch der Naturwissenschaften und anderer Wissenschaften geht, die müssen Angst haben auch um ihre Lehrstühle.
    Kruip: Also ich glaube, dass diese Angst in den letzten Jahren sehr zurückgegangen ist, auch dank der Grundhaltung von Franziskus, sehr viel mehr Dialog zu erlauben und zu fördern. Also insofern würde ich sagen, die meisten Kolleginnen und Kollegen sind nicht übertrieben vorsichtig, wenn sie sich zu theologischen Fragen äußern. In der wissenschaftlichen Diskurswelt wird ohnehin sehr viel diskutiert, ohne dass es zum Einschreiten des Lehramtes gleich kommt. Aber es ist eben wichtig, dass diese Diskussion nicht nur unter Fachleuten geführt wird, sondern auch mit den Menschen in den Gemeinden, auch mit den sozusagen normalen Leuten, die nicht unbedingt ein Theologiestudium hinter sich haben, die müssen mitgenommen werden in diese theologischen Debatten, weil das wichtig ist für ihr eigenes Glaubensverständnis in heutiger Zeit. Da haben Theologen auch Fehler gemacht, weil sie zu zurückhaltend waren ihre vielleicht auch irritierenden Erkenntnisse tatsächlich auch an die kirchliche Basis heranzutragen.
    Angst vor Geschwätz
    Urban: Also auf evangelischer Seite ist es ganz sicher so, dass die Evangelikalen sehr laut sind und mittlerweile immer mächtiger in der Evangelischen Kirche geworden sind. Ein dezidierter Evangelikaler ist zum ersten Mal sogar lutherischer Landesbischof geworden in Sachsen, Carsten Rentzing. Da wird viel geschwätzt und die Amtskirche, habe ich den Eindruck, hat Angst vor dem Geschwätz, dem lauten Geschrei ihrer eigenen Fundamentalisten und hält sich schwer zurück, wenn es wirklich darum geht, in einen Diskurs mit den Wissenschaften einzutreten, mit ihren eigenen Theologen, die historisch-kritisch forschen, und erst recht mit den Naturwissenschaftlern. Sonst könnte man nicht mehr Wunderglauben verbreiten, wir können die Natur ja nicht ermessen, womit zugleich logischerweise jede Aussage, etwas sei übernatürlich, unsinnig ist. Solche Aussagen müssten reflektiert werden. Das passiert nicht – weder auf katholischer noch auf evangelischer Seite, die ja nicht so ausgeprägt den Wunderglauben hegt.
    Kruip: Also wir haben auf katholischer Seite tatsächlich auch ein ähnliches Problem, es ist eine gewissen Asymmetrie. Diejenigen, die sehr konservativ sind und sehr traditionalistisch, die können sich eben auf lehramtliche Äußerungen berufen, aus vergangener Zeit, die auch die Orthodoxie innerhalb der katholischen Kirche festgelegt haben, während die Kritiker dagegen anarbeiten müssen. Deswegen müsste die katholische Kirche auch lehramtlich die eigenen Positionen, die sie früher einmal vertreten hat, relativieren und hinterfragen, und man könnte sagen: öffnen, verflüssigen.
    Das ist in gewissen Punkten gelungen, zum Beispiel bei der Religionsfreiheit. Die katholische Kirche hat ja auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil sich zur Religionsfreiheit bekannt, im Gegensatz zu früheren Positionen, die sie hatte. Da hat sie also tatsächlich eine Veränderung ihrer eigenen lehramtlichen Position vorgenommen, aber das müsste bei einigen anderen Themen auch passieren, sonst haben auch die Bischöfe immer wieder das Problem, dass sie nur schwer gegen konservative Kräfte anargumentieren können, die sich auf vergangene lehramtliche Positionen berufen, die eigentlich längst überholt sind, aber weiterhin als offizielle Positionen in den Ring geworfen werden können.
    Positionen hinterfragen
    Main: Gerhard Kruip und Martin Urban, Sie beide kritisieren ihre jeweilige Kirche von innen, sie haben Erfahrung als Kirchenkritiker. Stellen Sie doch mal ein paar Regeln auf: Wann kann Kirchenkritik, Christentumskritik, Religionskritik, wann kann sie etwas bewirken, damit sie nicht verpufft?
    Kruip: Ich würde sagen, ein ganz wesentliches Moment ist natürlich, dass sie zwar auch vielleicht angeregt und unterstützt wird von Gedanken von außen, dass man sich aber immer auch bemüht, interne Kritik zu üben, also in Berufung auf ältere Traditionen, in Berufung auf biblische Texte, die Christen daran zu erinnern, dass eigentlich das, was man kritisiert oder das, was man erreichen möchte durch die Kritik, auch schon in der eigenen Geschichte, in der eigenen Tradition vorhanden war. Und da gibt es wirklich eine ganze Menge, was man historisch aufarbeiten kann, herausholen kann aus der Kirchengeschichte, um zu zeigen: Dies und jenes war schon einmal möglich, warum wird das heute unmöglich gemacht? Dies und jenes wurde schon einmal so gedacht. Warum sind wir heute so festgelegt, dass wir das nicht mehr denken können? Also in Bezug auf die eigene Tradition die eigene Tradition kritisch gegen die gegenwärtigen Positionen wenden, das ist – glaube ich – ein Mittel, was große Chancen hat letzten Endes.
    Wider die Einfältigen in den Kirchen
    Main: Urban, was ist für Sie gute Religionskritik?
    Urban: Also mir geht es um die Grundlagen, nicht um die Strukturen, wie auch in dem Memorandum, das erwähnt worden ist. Ich meine ganz schlicht, die Christen sollten den Pfarrer auf der Kanzel und womöglich ihren Bischof fragen: Woher weißt du das? Warum glaubst du das? Konfrontieren Sie ihn mit dem, was man heute über die Erkenntnisse der Wissenschaften in guten Sachbüchern und in seriösen Medien wie dem Deutschlandfunk erfahren kann! Sorgt, wenn ihr Zweifel habt, dafür, dass nicht nur die ganz einfältigen unter den Protestanten ihre Synodalen und damit ihre Bischöfe wählen – und die werden dann entsprechend.
    Regeln für gute Religionskritik
    Main: Vielleicht darf ich Sie beide bitten, den folgenden Satz einfach zu ergänzen, einfach den Relativsatz anzufügen. Herr Kruip, gute Religionskritik ist eine, die ...
    Kruip: ... die auf eigene Traditionen Bezug nimmt, auch versucht, neuere Erkenntnisse mit den eigenen Traditionen zu vermitteln, aber eben auch von außen Außenperspektiven aus den Naturwissenschaften, aus der Philosophie aufnimmt.
    Main: Herr Urban, Sie ergänzen?
    Urban: Gute Religionskritik versucht, sich selbst in Frage zu stellen, die Überlegungen der Jahrtausende in Frage zu stellen, im Lichte jeweils neuer Erkenntnisse, und den Mut zu haben, zu sagen: Das wissen wir nicht, das hoffen wir, aber sich weiterzuentwickeln und nicht stehen zu bleiben und zu sagen, das was zweitausend Jahre lang gültig war, das bleibt. Das kann man anders formulieren, so ist es nicht. Es muss auch grundsätzliche Fragestellungen geben können, die grundsätzlich zu neuen Erkenntnissen führen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.