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Reste deutscher Kolonialgeschichte

Die Central Railway führt einmal quer durch Tansania und verbindet den Tanganjika-See mit der Küste am Indischen Ozean. Die Strecke folgt den alten Karawanen- und Sklavenrouten der Araber. Die Reise, für die der Entdecker und Missionar Doktor David Livingstone einst mehrere Monate benötigte, dauert heute zwei Tage.

Von Simon Kremer | 27.01.2013
    "Doktor Livingstone, nehme ich an?"

    Wer sonst hätte es sein sollen, außer der verschollen geglaubte Entdecker und Missionar Doktor David Livingstone? Der da, am 28. Oktober 1871, von Tropenkrankheiten gezeichnet, unter einem Mangobaum in einem verlassenen Nest am Rande des heutigen Tansanias saß und vom Reporter Sir Henry Morton Stanley gefunden wurde?

    Kaum ein Weißer hatte zuvor die Ufer des Tanganjika-Sees erreicht. Die Eisenbahn verband erst 50 Jahre später, kurz vor Beginn des Ersten Weltkriegs, den See mit der Küste am Indischen Ozean. Und folgte damit den alten Karawanen- und Sklavenrouten der Araber - einmal quer durch Tansania. 1250 Kilometer. Die Reise, für die Livingstone damals mehrere Monate benötigte, dauert heute zwei Tage.

    Aufbruchstimmung am Bahnhof in Dar es Salaam. Das Sicherheitspersonal hat die metallenen Schwingflügel geöffnet. Hunderte Zugreisende ergießen sich auf den Bahnsteig, halten ihre Koffer über den Köpfen. Sie schubsen und rempeln auf der Suche nach den besten Plätzen. Reservierungen gibt es kaum. Dazwischen sitzen alte Frauen auf dem Boden und verkaufen Brot und Wasser.

    Gemächlich schlendert Albert Magande die Waggons entlang, bis zur Mitte des Zuges. Er hat ein 1. Klasse-Ticket gekauft - für umgerechnet 30 Euro. Ein durchschnittlicher halber Monatslohn in Tansania. Während die Abschiedsszenen zwischen den Großfamilien stattfinden, setzt er sich auf die Pritsche in seinem Abteil.

    "Einer meiner Freunde hat beim Abschied geweint. Er hat mir gesagt, dass es zwar dauern wird, aber er will mich bestimmt besuchen in Tabora. Er war zwar noch nie da, aber ich freue mich schon drauf, wenn er vorbei kommt. "

    Auch die Familie lässt Albert erstmal zurück. Seine Firma hat ihn versetzt. Zwei Tagesreisen mit dem Zug von Dar es Salaam entfernt.

    Relativ pünktlich, mit nur 18 Minuten Verspätung, setzt sich der Zug in Bewegung. Der Zug rollt hinaus aus dem Bahnhof, hinaus aus der Stadt, aus der Metropole am Indischen Ozean. Vorbei an den Vororten und Wellblechhütten, vorbei an Fußball spielenden Jungs. Ohne Schuhe aber mit den Trikots ihrer Helden vom FC Barcelona, von Manchester United oder Real Madrid. Sie springen auf, als der Zug vorbei rollt und winken auf Wiedersehen. Die Städter selbst benutzen den Zug kaum.

    26. März 1866: Übrigens bereitet mir der Gedanke, unerforschtes Land zu bereisen, ein rein physisches Vergnügen. Eine der vornehmsten Wirkungen des Reisens ist die, dass es uns Vertrauen zur eigenen Kraft einflößt und unsere Geistesgegenwart stärkt.

    "Es sind Leute, wie die aus Kigoma oder aus den Provinzen, die den Zug nehmen, wo die Straßen noch immer schlecht sind. Das ist der Hauptgrund, überhaupt den Zug zu nehmen, obwohl er langsamer ist. Ein zweiter Grund ist, dass es immer noch Orte in Tansania gibt, wo es überhaupt keine Straßen gibt. Der Zug ist die einzige Möglichkeit, dorthin zu kommen. "

    Albert schiebt seinen Koffer unter die Pritsche, die auch gleichzeitig sein Bett ist. Das braune Leder ist aufgerissen, das Innenfutter quillt hervor. Erster Klasse reisen heißt in Tansania nur, sein Abteil nicht mit 50 anderen Menschen teilen zu müssen. Sondern nur mit einem.

    Alberts Mitbewohner für die nächsten zwei Tage ist Yussuf Malare. Er ist 48 und Bahnhofsvorsteher in einem der kleinen Bahnhöfe kurz vor dem Ziel in Kigoma. Er pflichtet Albert bei.

    "Es sind die einfachen Leute, die Dorfbewohner oder kleinen Händler, die den Zug nehmen. "

    Die von den Deutschen gebaute Bahnstrecke verläuft entlang der alten Karawanenrouten quer durch das Land. Neben der Central Railway gibt es nur noch eine Strecke ins südliche Nachbarland Sambia. Trotz aller Technik ist die Bahn immer noch eine Lebensader für viele Tansanier.

    Viele Menschen wohnen weit draußen, weit entfernt von allem. Sie haben so ihre eigenen Methoden entwickelt, wie sie zur nächsten Straße oder eben zur nächsten Bahn kommen. Sie nehmen heute Motorräder, Fahrräder. Manche gehen aber auch zu Fuß. Bis zu zehn Kilometer weit.

    Der Zug springt über die Gleise. Die Wasserflasche, die Albert auf den Boden gestellt hatte, kippt um und rollt durchs Abteil. Er lässt sie liegen. Denn Albert weiß, dass der Zug in den nächsten zwei Tagen noch oft springen wird.

    Dann rollt der Zug in die Dämmerung, hinein in einen etwas zu kitschigen Sonnenuntergang. Im Gang, an den Schiebefenstern, stehen die Fahrgäste und strecken ihre Köpfe in den leichten Wind. Die schwarzen Gesichter leuchten tief orange.

    Dann wird der Zug langsamer, noch langsamer, als er ohnehin schon fährt. In der Ferne blinken ein paar Lichter. Ein Bahnhof. Ein paar Menschen steigen aus, ein paar springen auf. Frauen und Kinder halten Schalen mit frischen Früchten und mit Bambusrohr zu den Fenstern hoch. Albert Magande angelt sich ein Bündel Bananen und wirft der Frau ein paar Scheine zu.

    "Die Leute leben hier tatsächlich davon, dass der Zug vorbeikommt. Das ist ihr Geschäft. Das Klima ist nicht so gut hier und um an Geld zu kommen, müssen sie sich auf den Zug verlassen. So leben die Menschen hier an der Bahnstrecke. "

    Zwei Mal in der Woche fährt der Zug von Dar es Salaam nach Kigoma. Zwei mal in der Woche fährt er zurück. Vier Mal pro Woche ist also Markttag für die Menschen entlang der Bahnstrecke. Hinzu kommt der Güterverkehr, der unregelmäßig fährt. Und manchmal anhält, manchmal aber auch nicht.

    "Natürlich ist das ein hartes Leben. Aber am Ende überleben sie doch. Es gibt ja auch keinen anderen Weg. Irgendwas müssen sie machen, um zu überleben."

    26. April 1866: Wir erreichten gestern Narri, wo wir einen Tag bleiben wollen, um Lebensmittel aufzukaufen. Die Leute von Narri treiben schwunghaften Handel mit Mehl, Eiern, Geflügel und Honig. Die Frauen hier im Dorf sind äußerst unzivilisiert.

    Draußen ist es dunkel. Die erste Nacht im Zug. Albert und Yussuf haben die bereit gelegten Laken über die Pritschen geworfen. Ein Sicherheitsbeamter kommt hinein und weist die beiden an, das Fenster zu verriegeln.

    "Hier sind Diebe. Manchmal klettern sie oben über das Dach, besonders in der Nacht. In den Bahnhöfen springen sie auf."

    Albert schnappt sich zwei Holzpflöcke, die unter der Matratze liegen und schiebt sie vor das Fenster und verriegelt es.

    "Wenn das Fenster offen ist, dann können sie es aufschieben und einfach ins Abteil greifen und etwas klauen."

    Anhalten.

    Einkaufen.

    Weiterfahren.

    Anhalten.

    Einkaufen.

    Weiterfahren.

    Anhalten.

    Einkaufen.

    Weiterfahren.

    Knapp 70 Mal hält der Zug auf seiner Fahrt von Dar es Salaam zum Tanganyika-See. Egal ob am Tag oder mitten in der Nacht. Die Fahrt ist unfassbar ermüdend.

    Und sie macht hungrig. Albert geht in den Speisewagen, der direkt an den Waggon der ersten Klasse angrenzt. Die Fenster sind nach unten geschoben. Die Blümchentapete versprüht alten Sozialistencharme.

    Die Auswahl ist begrenzt. Reis mit Bohnen. Dazu wahlweise frittiertes Hähnchen oder frittierter Fisch. Albert bestellt das Hähnchen. Am Tisch daneben sitzt ein junger Mann mit schlabbrigem Pullover und Basecap. George Mbaki. Der 35-Jährige zerknackt mit den Zähnen die Knochen seines Hähnchens. Er kommt aus Tabora, einer Stadt auf halber Strecke.

    "Ich arbeite bei meinem Vater in der Firma. Aber der hatte einen Schlaganfall und ist jetzt in Dar es Salaam im Krankenhaus, weil die Ärzte bei uns nicht so gut sind. Also habe ich die Zeit genutzt, bin nach Dar es Salaam, habe meinen Vater besucht und noch ein paar Ersatzteile gekauft, die wir für eine Maschine brauchen. Die kriegen wir in Tabora ja sonst nicht. "

    26. März 1866: Und dabei ist Afrika ein wahres Paradies für den gesunden Appetit. Beschwerlich wird die Sache nur, wenn, wie es zuweilen geschieht - nur Markknochen und Elefantenfüße zur Verfügung stehen.

    George spuckt beim Sprechen die Hähnchenstückchen quer über den Tisch. Der Wagen rumpelt. Seine Colaflasche kippt um. Reis und Hähnchen schmecken jetzt klebrig-süß. Er frisst trotzdem genüsslich weiter mit beiden Händen.

    "Den Hinweg habe ich mit dem Bus gemacht, das ist um einiges schneller. Aber jetzt beim Rückweg... - ich wollte auch mal ein bisschen ausspannen. Wenn Du mit dem Zug fährst, dann siehst Du mal verschiedene Sachen, verschiedene Regionen des Landes, die man sonst nicht sieht."

    George sitzt allein an seinem Vierertisch. Überhaupt sind nur wenige andere Gäste im Abteil. Albert ist schon wieder zurück zu seiner Pritsche gegangen. Den meisten sind die umgerechnet drei Euro fürs Essen zu teuer. Sie haben sich vorher mit Brot versorgt oder warten auf den Halt am nächsten Vormittag, wenn der Zug Saranda erreicht.

    Der Ort wird bei den Reisenden auch "Hilton" genannt. Mehrere hundert Meter werden dann die brutzelnden Pfannen aneinandergereiht stehen. Darin: Hühner, Suppen, Lamm, Reis, Kartoffeln, Erbsen, Mais.

    "Busse fahren die Strecke direkt. Aber mit dem Zug kommst Du an Dodoma vorbei, ab Singida. An Orten wie Manjoni, Tigi, Saranda. Da kannst Du aussteigen und Hühnchen essen. Frisches Hühnchen aus Saranda, verstehst Du?"

    Zug fahren in Tansania ist eine Safari im eigentlich Wortsinn. Eine Reise. Nicht mehr, und nicht weniger.

    Dunkelheit umschließt die 14 Waggons des Zuges. Die Sterne haben sich wie eine Decke über den Himmel gelegt, sie berühren die Erde, so weit kann man über die strauchige Savanne schauen. Sonst sehen die Fahrgäste wenig vom Land. Der Großteil der Strecke liegt in der Nacht. Sie sehen dann nichts von den dichten Wäldern, von den sumpfigen Steppen. Sie sehen meist nur Sträucher, Savanne und die Felsen des Rift Valley, der Wiege der Menschheit.

    Albert sitzt in der gleichen Kleidung, in der eingestiegen ist, auf der Pritsche und wischt sich durch die Augen. Er sieht übernächtigt aus.

    "Der Zug ist die ganze Zeit gehüpft. Ich glaube die Gleise sind verbogen oder gewellt. Er hüpft die ganze Zeit."

    Von der deutschen Wertarbeit ist nur noch wenig zu spüren. Auch wenn auf den Schienen noch ein Stempel in deutscher Sprache prangt: Hoesch 1910.

    "Die Bahn ist vor ein paar Jahren privatisiert worden, eine chinesische Firma hatte sie aufgekauft. In der Zeit ist die Strecke nicht gut gewartet worden. Jetzt hat die Regierung die Bahn wieder übernommen und sie fangen an die Strecke zu überholen. Langsam, langsam. "

    Langsam, langsam ächzt die Lokomotive auch das Rift Valley hinauf, von dem man sagt, dass von hier aus der Homo Sapiens in die Welt marschiert ist. Die meiste Zeit der Strecke fährt die Bahn schon nicht schneller als 30 Kilometer pro Stunde, jetzt schleicht sie fast. Aber es ist auch eine betagte Lok, weiß Bahnwärter Yussuf. 40 Jahre ist sie alt, fast so alt wie er selbst. Seitdem hat es keine neue mehr gegeben.

    "Wir haben nicht mehr genug Loks. Wir haben nicht genug Waggons. Das ist das Problem. Wir hatten früher so viele Züge, als ich bei der Bahn angefangen habe. Dieser Passagierzug zum Beispiel, der ist früher drei Mal pro Woche gefahren. Jetzt sind es zwei Mal. Und die Güterzüge sind früher vier oder fünf Mal in der Woche gefahren. Jetzt ist es vielleicht noch einer. "

    Der Zug rollt weiter. Vorbei an Sträuchern und Savannen. In den Bäumen hängen ausgehöhlte Baumstücken. Bienennester für Honig. Ein paar Kilometer weiter rollt der Zug an einer Salzmine vorbei. Bei Kilometer 780 geht die Sonne zum zweiten Mal während der Fahrt unter. In Dar es Salaam, wo die Fahrt begann, ist es da schon dunkel. Wenig später verkaufen die Dorfbewohner beim nächsten Halt ihre Spezialitäten. Nicht mehr Bananen und Früchte, sondern abgepackte Salzblöcke und Honig in Schnapsflaschen. Jeder Halt bringt neue Spezialitäten hervor. Jeder Halt ein neuer tansanischer Stamm.

    "Dabei spielen die Stämme eigentlich keine große Rolle mehr. Deswegen habe ich auch gesagt, dass ich mich mehr als Tansanier sehe, denn als Nyamwezi. Ich komme eigentlich aus dem Norden und arbeite doch im Westen in Kigoma. Und das gibt auch keine Probleme. Ja, die Stämme gibt es noch, aber sie spielen keine große Rolle mehr. "

    Bei Kilometer 1116 gibt der Motor der Lokomotive dann doch noch auf, knapp 100 Kilometer vor dem Ziel. Die Bahn hält mitten im Nirgendwo.

    Yussuf steigt aus und schlendert den Zug entlang nach vorn. Ein großer Pulk rennt an ihm vorbei Richtung Lok. Männer. Die Frauen und Kinder nutzen die kurze Pause und verschwinden in den Büschen ringsum. Sie waschen sich kurz als Alibi mit abgepacktem Wasser, spülen den Mund aus. Nach zwei Tagen riecht es schon entsprechend im Zug. Auch die Toiletten sind kaum noch zu benutzen, ohnehin sind es eigentlich nur abgetrennte Löcher im Boden.
    "Eigentlich ist Zugfahren sehr sicher. Wenn man sich die Nachrichten anschaut, da sind allein in den letzten Monaten fünf schwere Unfälle passiert. Aber der letzte Unfall von einem Personenzug war im Jahr 2003. "

    Liegenbleiben gehört dazu. Nicht umsonst heißt es, dass die Zugfahrt zwischen 36 und 50 Stunden dauert. Nach einer knappen Stunde kommt Yussuf zurück.

    "Ein bestimmtes Stahlteil an der Lok war kaputt. Wir haben das jetzt einfach abgemacht. Ja, wir fahren jetzt ohne das Teil. Das ist möglich. Natürlich ist das möglich. Gar kein Problem. "

    Kein Problem. Da ist es wieder, dieses Hakuna Matata, das man überall hört. Kaputte Mechanik? Hakuna Matata. Ein Unfall? Hakuna Matata. Korruption in der Regierung? Hakuna Matata. Die Tansanier lachen die Probleme einfach weg.

    Es geht immer weiter. Und jetzt geht es bergab. Die letzte Etappe hinunter nach Kigoma. Von Dar es Salaam aus ist der Zug kontinuierlich höher geklettert, vom Indischen Ozean hoch auf mehr als 1.300 Meter. Jetzt schlängelt sich der Zug die letzten Kilometer hinunter. In der Ferne blitzt der Tanganyika-See blau in der Mittagssonne. Aus den Fenstern fliegt der Müll, fliegen Plastikflaschen, werden Kindertöpfchen ausgeschüttet.

    Den Berg hinunter liegen Felsblöcke, wie hingestreut in die rote Erde. Dazwischen Palmengruppen. Je näher der Zug dem See kommt, umso grüner wird die Landschaft. Die letzten Kilometer verläuft parallel zu den Schienen eine neu gebaute Straße. Der Bus aus Dar es Salaam hätte 14 Stunden gebraucht, fast drei Mal so schnell.

    Auf den Gängen im Zug herrscht dichtes Gedränge. Er ist jetzt schon auf Niveau des Sees. Dann biegt er um eine Kurve und steht plötzlich vor dem kolossalen Bahnhof von Kigoma.
    Der Abschied von Albert und Yussuf ist kurz.

    Genau wie die Begrüßung von Stanley, als er vor mehr als 100 Jahren Livingstone in der Nähe des Tanganyika-Sees fand.

    14. Februar: Tanganyika erreicht.

    Von Tropenkrankheiten gezeichnet, unter einem Mangobaum sitzend.

    "Doktor Livingstone nehme ich an?"

    Wer sonst hätte es sein sollen, außer dem verschollen geglaubten Entdecker und Missionar? Die Eisenbahn erreichte den See erst gut 50 Jahre später. Am 31. Januar 1914.

    Die Zeit scheint stehen geblieben, so sehr fällt das von den deutschen gebaute Bahnhofsgebäude aus der Zeit. Die große Uhr an der Front zeigt 7:30 Uhr. Dabei ist es drei Uhr nachmittags. Stunden später wird sie noch die gleiche Zeit anzeigen. Aber welche Rolle spielt das noch?