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Rétif de la Bretonne: "Monsieur Nicolas"
Erinnerungen eines manischen Erotomanen

Damenschuhe und die davon verhüllten Füße trieben ihn zum Äußersten: Rétif de la Bretonne gilt als der erste Phänomenologe des Fetischs. Doch in seinen Memoiren geht es nicht um den Siegeszug eines Sexualprotzes: "Monsieur Nicolas" handelt von der Verlegenheit, ein Mensch zu sein.

Von Walter van Rossum | 28.09.2017
    Der Schatten einer Frau und eines Mannes, der ihr eine Rose übergibt, sind an eine Wand geworfen.
    Am eigenen Beispiel erkundet und studiert Rétif das weite Feld des Begehrens (picture alliance / dpa / Jan-Philipp Strobel)
    "Ich schildere hier nicht mein Leben, sondern die Geschichte eines Menschen", erklärt Nicolas Rétif de la Bretonne in der Einleitung zu "Monsieur Nicolas", seiner so monumentalen wie hinreißenden Autobiografie - die gleich das ganze Genre erfinden und prägen wird. Die Moderne wird unaufhörlich Lebensgeschichten erzählen - um den Menschen zu verstehen. In jedem Individuum steckt die Menschheit. Verstehen wir uns, den sonderbaren Einzelfall, verstehen wir alle Menschen. Niemand hat Aufklärung am eigenen Lebendleib, Vivisektion bei vollem Bewusstsein, so konsequent betrieben wie Rétif. Aufklärung hieß für die historischen Aufklärer eben nicht Rationalisierung, nicht Herrschaft des Wissens, sondern Besichtigung des Lebenslabyrinths, Staunen über die eigene Unlösbarkeit.
    Rétifs Vorhaben scheint ein wenig vermessen, denn sein Leben stand schon unter ziemlich speziellen Sternen: Getrieben vom Begehren, jagt er sein Leben lang den Erlösungen der Lust nach. Mit anderen Worten: Rétif war ein manischer Erotomane, dem dann und wann auch die Gunst der Liebe zuteil wurde. Schon im zarten Alter von drei Jahren verlor er gewissermaßen seine Unschuld - so lässt er uns gleich eingangs von "Monsieur Nicolas" wissen:
    "Sonntags, sobald ich gegessen hatte, machte ich mich davon, zu meiner Schönen - weniger wegen der Leckereien als wegen der sehr lebhaften Zärtlichkeiten, mit denen mich Marie überhäufte, und um mich von ihr auf dem Arm zum Vespergottesdienst tragen zu lassen. [...] Marie küsste mich auf die Wangen und meine stets einladenden Lippen. Sie ging noch weiter, obgleich alles, was sie tat, in der größten Unschuld geschah: Sie schob ihre Hand unter mein Röckchen und machte sich ein Vergnügen daraus, mich durch Kitzeln zu reizen. Schließlich ging sie sogar noch weiter und verschlang mich mit ihren Küssen."
    Begehren als Heimsuchung
    Aus dem gekitzelten Knirps wird bald ein sagenhafter Verführer. Der kleine Monsieur Nicolas lässt keine Gelegenheit aus. Mit elf zeugt er seine erste Tochter - wie er erst später erfahren wird, dürfte er mit Mitte zwanzig bereits eine ganze Kinderschar hervorgebracht haben. Unwissentlich verliebt er sich in seine eigene Tochter, die erst zwölf Jahre alt ist und sich in Paris als Hure durchschlägt. Bevor er sie heiraten kann, stirbt sie in seinen Armen. Unzählige Madelaines, Maries oder Mimies bevölkern die Seiten seiner Lebensgeschichte, beängstigend hautnahe Geschichten von Liebe, Lust und Leidenschaft, oft genug dunkle Geschichten, tragisch, verstörend.
    Nur, wer könnte sich in der Autobiografie des so hinreißenden wie abscheulichen Pornografen - "Le Pornographe" war übrigens der Titel einer seiner Romane - wiedererkennen? Wir können es! Rétif de la Bretonne hat völlig recht mit seiner Behauptung: Über mich schreibend, beschreibe ich auch Dich. Er errichtet in seiner epischen Lebensgeschichte eine Figur, in der wir uns 250 Jahre später staunend - und oft genug: verlegen - wiederfinden, manchmal sogar erst entdecken. Wenige dürften auf seinem Spezialgebiet mit dem Autor mithalten können. Doch darum geht es nicht, nicht um den Siegeszug eines Sexualprotzes, der von Höhepunkt zu Höhepunkt eilt. Sein Buch "Monsieur Nicolas" handelt ausschließlich von der Verlegenheit, ein Mensch zu sein. Davon hat man schon gehört, aber man muss es mal bis ins hässliche Detail durchbuchstabieren. Mit solchen Details verschont Rétif weder sich noch seine Leser. Das Begehren, das ihn umtreibt, erfährt er als eine Art Heimsuchung: magisch und schmutzig. Er versteht es nicht und er versteht sich nicht. Die Kardinäle des Himmels und die Fürsten der Tugend lassen keinen Zweifel: alles Sünde. Mag sein. Doch Rétif spürt auch etwas heilig Überwältigendes, dem er sich nicht entziehen kann und das niemanden unberührt lässt.
    Am eigenen Beispiel erkundet, sondiert, studiert Rétif das weite Feld des Begehrens wie ein nur geträumtes und doch traumatisches Land. Ist es Lust oder Liebe schon? Er beherrscht die Rhetorik der Tugend und benutzt sie als Instrument der Verführung. Minutiös lässt er uns teilhaben an seinen Intrigen und Kniffen, an den rohen Übergriffen und den langen Perioden purlauterer Verehrung. Es wäre leicht, ihn zu verdammen. Er tut es selbst, aber er rechnet mit unserer Komplizenschaft. Die Rechnung geht auf: Alles, was ihn umtreibt, war immer da und ist noch da. Lag zu seiner Zeit in der Luft, wie es heute unser Sauerstoff ist. Wir haben uns nur hinter dem Jargon der Aufklärung in Sicherheit gebracht. Irgendwie glauben wir allen Ernstes, seit Gott tot ist und sich alle elf Minuten jemand auf Parship verliebt, hätten wir die Sache im Griff. Der Eros mag Routine geworden sein und gerne als Busenwunder auftreten. Doch die grelle Benutzeroberfläche tarnt nur die Tiefe.
    "Mein Leser, du hast gesehen, dass ich nichts verschleiere. Denn oft hast du deine eigenen Ansichten in den meinen wiedergefunden; deine Schwächen und deine Tugenden in meinen Tugenden und Schwächen. Oft habe ich dich vor deinen eigenen Augen enthüllt, indem ich mich selbst enthüllt habe. Und was die Erlebnisse angeht, die dir nicht widerfahren sind - habe ich dir nicht oft etwas erzählt, das du in Gedanken auch schon selbst getan hast?"
    Nicolas Edmé Rétif: Vom Geheimtipp zum Klassiker
    Nicolas Edmé Rétif wird 1734 als achtes von 14 Kindern eines einigermaßen wohlhabenden Bauern in der Nähe von Auxerre im Burgund geboren. Nachdem er sich selbst Lesen und Schreiben beigebracht hat, lernt er das Druckerhandwerk. Schließlich landet er in Paris, wo er zu schreiben beginnt. Seine Romane und Traktate sind so erfolgreich, dass er bald zu den wenigen Schriftstellern gehört, die vom Verkauf ihrer Bücher leben können. 1783 beginnt er mit der Niederschrift seiner Lebensgeschichte "Monsieur Nicolas", die am Ende über 4000 Druckseiten umfassen wird. Er nennt sie sein wichtigstes Werk, doch ausgerechnet dieses Buch geht in den Wirren der großen Revolution unter. Nachdem es zwei Jahrhunderte lang als eine Art Geheimtipp der Literaturgeschichte kursierte, erschien endlich 1989 eine erste vollständige und umfangreich kommentierte Ausgabe dieses Buches in der berühmten Bibliothèque de la Pleiade: die Weihe zum Klassiker.
    Kongeniale Übersetzung von Reinhard Kaiser
    Von Anfang an lesen wir "Monsieur Nicolas", als sei es auf Deutsch geschrieben. Man kann nur staunen, mit welcher Präzision und Einfühlsamkeit Reinhard Kaiser den Tonfällen des Originals folgt: dem Komödiantischen wie Tragischen, der Prosa und den Dialogen. Überdies hat Reinhard Kaiser es geschafft, die Übersetzung auf ein Drittel des Originals zu kürzen, ohne dass man das je merkte. Äußerst hilfreich auch seine sparsamen Kommentare - zumal die Übersetzungen aus dem Lateinischen, denn Rétif pflegte die größten Schweinereien lateinisch auszusprechen. Nebenbei lernen wir, dass im 18. Jahrhundert Lustbarkeiten jeglicher Art als eine Art Breitensport betrieben wurden.
    Kaiser gelingt es, Rétifs Sprache auch in der deutschen Übersetzung eine Art unbestimmtes Alter zu verleihen. Nicht zuletzt dadurch gerät der Leser in grübelndes Staunen. Unverkennbar lesen wir einerseits eine Geschichte, die vor fast 300 Jahren ihren Lauf nimmt, andererseits hat diese Geschichte eine Präsenz, eine Frische, dass man gelegentlich denkt, da müssten wir erst noch hinkommen. Es gäbe viele Gründe, diesem Buch eine weitaus bedeutendere Stelle in der Literaturgeschichte zuzuweisen, als das heute geschieht. "Monsieur Nicolas oder Das enthüllte Menschenherz" bietet Anlass zu einer umfangreichen literarischen Würdigung. Doch das Erstaunlichste an dieser Autobiografie ist das Epos des modernen Individuums, das Rétif de la Bretonne am eigenen Beispiel erzählt und wie es vielleicht nie wieder erzählt wurde. Es ist die Geschichte des modernen Menschen, der sich in einer Art kalkulierenden Umnachtung selbst hervorbringt, ohne sich je selbst zu verstehen. Rétif gilt als der erste Phänomenologe des Fetischs. In seinem Fall waren es Damenschuhe und die davon verhüllten Füße, die ihn zum Äußersten trieben. Doch man könnte natürlich sein ganzes Begehren als eine Art Fetisch betrachten. Nicht zu vergessen, sein zweiter Fetisch: das Schreiben, dem er sich ähnlich rastlos hingab. Der Fetisch ist ein unvordenklicher Zweck, dem man alle Mittel opfert. Ein nicht mehr befragter Sinn, der unsere Handlungen sinnhaft anstiftet. Das mag eine Goldmedaille sein, ewige Jugend, unermesslicher Reichtum, die Wonne der Familie, ein Eigenheim oder pausenlose Orgien - einerlei, den hochkomplexen Blindflug unseres Lebens hat Rétif de la Bretonne so beschrieben, dass wir glatt noch mal darüber nachdenken müssen.
    Rétif de la Bretonne: "Monsieur Nicolas oder Das enthüllte Menschenherz"
    Galiani, Berlin 2017. 720 Seiten, 38 Euro