Mittwoch, 17. April 2024

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Rettung von Flüchtlingen
"Kapitäne sind verzweifelt"

Der Verband Deutscher Reeder fühlt sich von der Politik im Stich gelassen. Geschäftsführer Max Johns sagte im Deutschlandfunk, die Besatzungen vor allem kleinerer Schiffe seien überfordert, wenn sie immer wieder hunderte Flüchtlinge aus dem Mittelmeer retten müssten. Die Dimension der Flüchtlingsbewegungen sei unterschätzt worden.

Max Johns im Gespräch mit Dirk Müller | 21.04.2015
    Im hinteren Teil eines Frachtschiffes befinden sich Dutzende Flüchtlinge, hinter ihnen Stahlträger und einige kleinere Container.
    Flüchtlinge nach ihrer Rettung an Deck des Frachtschiffes "OOC Jaguar" der Reederei Opielok Offshore Carriers. Die deutschen Reeder fühlen sich von der Politik im Stich gelassen. (picture alliance / dpa / Opielok Offshore Carriers)
    Dirk Müller: Den Schlepperbanden das Handwerk legen, das ist ein Punkt, der jetzt ganz oben auf dem Forderungskatalog der europäischen Innenminister steht. Schlepper, die Hunderttausende, die Millionen verdienen mit dem Schicksal der Flüchtlinge. Sie organisieren eine Odyssee, die oft im Tod auf dem Meeresgrund endet. Ausgangspunkt der gefährlichen Überfahrten immer häufiger Libyen, ein Land, das keinen funktionierenden Staat mehr hat, ein Land, das keine funktionierende Polizei mehr hat. Für die italienischen Sicherheitsbehörden hat es nun Priorität, gegen die Schlepper im ganz großen Stil vorzugehen, wenn die anderen mitziehen.
    Die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union kommen an diesem Donnerstag, also übermorgen, zu einem Sondergipfel in Brüssel zusammen. Die Innen- und Außenminister haben gestern einen Zehn-Punkte-Aktionsplan verabschiedet. Es geht dabei unter anderem um eine bessere Seenotrettung von Flüchtlingen. Es geht dabei um mehr Schiffe, es geht um mehr Hubschrauber, aber auch darum, die kriminellen Schleuserbanden, wie eben gehört, endlich zu stoppen. Haben die europäischen Regierungen in der Vergangenheit versagt? Hat auch die Große Koalition das Thema Flüchtlinge und Mittelmeer bei Seite geschoben?
    Immer wieder an Rettungsaktionen beteiligt im Mittelmeer sind auch deutsche Schiffe, deutsche Tanker, deutsche Transportschiffe, Handelsschiffe, die unterwegs sind, zum Beispiel, um Bohrinseln zwischen Malta und der nordafrikanischen Küste zu versorgen. Unser Thema jetzt mit Max Johns, Geschäftsführer des Verbandes Deutscher Reeder. Guten Tag.
    Max Johns: Guten Tag.
    Müller: Herr Johns, ist für Sie Retten aus Seenot Alltag geworden?
    Johns: Ja. Für viele Schiffe, die im Mittelmeer unterwegs sind, die entweder im Transit sind, häufig von Gibraltar zum Suezkanal oder zurück, oder die dort in gewissen Gebieten operieren, ist es definitiv zum Alltag geworden.
    Müller: Und das können Sie leisten?
    Johns: Nein. Es ist völlig selbstverständlich, dass Schiffe Menschen, die in Seenot sind, Hilfe leisten. Aber es hat hier eine derartige Dimension erreicht, dass die Besatzungen stark überfordert sind inzwischen.
    "Können so viele Menschen an Bord gar nicht versorgen"
    Müller: Geben Sie uns ein paar Beispiele, Herr Johns.
    Johns: Auf einem normalen Handelsschiff sind maximal 25 Mann Besatzung. Das sind auf kleineren Schiffen häufig auch zwölf Mann. Und auf solchen Schiffen werden häufig jetzt 100, 200, bis zu 350 Menschen aus Seenot gerettet, oder auch nicht gerettet. Wir sprechen ja meistens nur über die, die gerettet werden. Über all die, die ertrinken und verschwinden, wird sehr wenig gesprochen. Und ganz wenige Menschen können so viele Menschen ganz praktisch zunächst kaum retten und dann auch an Bord gar nicht versorgen.
    Müller: Proviant, Wasser, Decken - wie machen Sie das? Halten Sie das prophylaktisch vor?
    Johns: Nein, das ist nicht möglich, weil es unvorhersehbar ist, wer wann wo wen rettet. Natürlich hat man einige Rettungsmittel an Bord, aber eine zwölfköpfige Besatzung hat nicht für 350 Menschen Nahrungsmittel, Medikamente, Dolmetscher und Ärzte dabei, weil man versucht, nur das Allernötigste zu tun und dann sehr schnell diese Menschen an Land zu bringen. Mehr kann man da nicht tun.
    Müller: Was sagen die Kapitäne zur Situation?
    Johns: Die Kapitäne sind in höchstem Einsatz, 24 Stunden, und versuchen, da etwas zu tun, sind aber verzweifelt und fühlen sich im Moment sehr alleine gelassen, weil die Situation im letzten Oktober, als die italienische Aktion Mare Nostrum beendet wurde, in die europäische Aktion übergangen ist, die Triton, seitdem ein deutliches Ansteigen der Flüchtlinge spüren.
    Johns: Tote mit Ansage
    Müller: Mare Nostrum war also aus Ihrer Sicht zumindest der richtige Weg, der richtige Schritt, um die Situation besser zu managen?
    Johns: Ja. Ich glaube, man muss ganz deutlich daran erinnern, dass die italienische Regierung etwas ganz, ganz Außerordentliches da geleistet hat. Mit der Aktion Mare Nostrum, die ja vor allem auf den Schultern von Italien ruhte, sind viele zehntausend Flüchtlinge gerettet worden, auch vor dem sicheren Tod gerettet worden. Italien hat mit langer Ansage gesagt, so geht es nicht weiter, wir können das nicht alleine schaffen, und dann ist diese, aus unserer Sicht etwas halbherzige EU-Aktion Triton daraus geworden. Das Ganze ist durch den Winter verdeckt worden, weil im Winter sehr wenige Flüchtlinge über das Mittelmeer kommen, und es war mit klarer Ansage und sehr vorhersehbar, dass jetzt im Frühjahr, wenn es etwas wärmer wird und die Wellen sich etwas beruhigen, ein ganz starker Anstieg zu verspüren ist, und genau das erleben wir jetzt und deswegen gibt es jetzt mit klarer Ansage viele hundert Tote jede Woche.
    Müller: Herr Johns, wenn wir das richtig nachgelesen haben, haben die Reeder sich ja bemüht, in Berlin mit der Bundesregierung, auch in Brüssel mit der Europäischen Union ins Gespräch zu kommen. Es betrifft ja nicht nur deutsche Handelsschiffe, sondern europäische oder Handelsschiffe weltweit. Sind Sie von der Politik trotz dieser vielen Versuche, trotz der vielen Gespräche im Stich gelassen worden?
    Johns: Nein. Ich glaube, so kann man das nicht sagen. Das Echo und die Reaktionen, die seit Freitag jetzt passieren, sind, glaube ich, ein sehr guter Weg. Sicher sind viele Monate versäumt worden, da hätte viel schneller viel mehr passieren müssen. Aber ich glaube, es lohnt sich jetzt nicht, darüber zu diskutieren, sondern jetzt muss man sehen, dass auch bei dem Gipfel der Staats- und Regierungschefs schnell ein greifbares Ergebnis herauskommt. Dann kann man sich in einigen Monaten damit beschäftigen, was man vielleicht versäumt hat. Aber jetzt geht es um die konkreten Maßnahmen und da kann man in der Tat sehr konkrete Dinge ergreifen, um jeden Tag Menschen zu retten.
    "Dimension ist unterschätzt worden"
    Müller: Da möchte ich doch noch mal nachfragen. Sie sagen, seit Freitag. Gut, das ist jetzt eine Art Kommentierungswelle oder Aktionismus, sagen auch viele. Die Fakten, die Sie eben beschrieben haben, diese Rettungsaktionen, die sind ja nicht erst seit Freitag, sondern seit Monaten, und Mare Nostrum wurde damals ja auch von vielen Parteien, von den Grünen, von der Linkspartei, aber auch europaweit kritisiert, ihr dürft das nicht einstellen. Trotzdem hat die Europäische Union beziehungsweise dann auch Italien das ganze Programm eingestellt, viel kleiner gefahren mit viel weniger Personal, wie Sie eben gesagt haben, wenn ich Sie richtig verstanden habe, nochmals zur Dramatisierung der Situation beigetragen. Anders herum gefragt: Haben Sie das Gefühl gehabt in den vergangenen Jahren, dass die Politik die Dimension dieser ganzen Entwicklung erkannt hat?
    Johns: Die Dimension ist sicher unterschätzt worden. Ich glaube, jeder Mensch und auch Politiker können sich unter reinen Zahlen wahrscheinlich zu wenig vorstellen. Handelsschiffe haben im letzten Jahr alleine 40.000 Menschen aus ganz akuter Seenot gerettet, die Aktion Mare Nostrum ungefähr 150.000 Menschen, die sonst sofort ertrunken wären. Aber diese abstrakten Zahlen gehen an den meisten Menschen direkt vorbei, wenn man nicht die Menschen sieht, die ertrinken, wenn man Schiffe sieht, die untergehen, und das ist jetzt in den letzten Tagen passiert und dadurch sind viele Menschen aufgerüttelt worden.
    Müller: Aber selbst das wird dem Innenminister jetzt nicht gelingen, Menschen vor Ort zu sehen in dieser Form. 40.000 Menschen, das ist ja die offizielle Zahl, mit der die Reeder auch argumentieren, haben Sie gerettet in den vergangenen Jahren. Dennoch gehen Sie nicht so weit zu sagen, die Politik hat uns da nicht unterstützt und hat Fehler gemacht?
    Johns: Nicht ausreichend. Aber es ist auch nicht ganz einfach, und ich glaube, die Bundeskanzlerin hat in dem Stück eben ja auch gesagt, dass man einen ganzen Maßnahmenkatalog ergreifen muss. Das erste Vordringliche ist jetzt, Menschen direkt vor dem Ertrinken zu bewahren. Aber man muss natürlich auch eine ganze Menge politische Aktionen darum herum bauen, versuchen, Menschen davor zu bewahren, auf die unsicheren Schiffe zu gehen, und so weiter. Da muss man eine ganze Menge tun. Das hätte man in der Tat vor einem dreiviertel Jahr schon tun können.
    Müller: Wenn wir nach vorne blicken - es geht jetzt um zehn Punkte, die zunächst mal beschlossen worden sind, vorgesehen worden sind von den Innen- und Außenministern gestern. Jetzt geht das Ganze am Donnerstag dann mit den Staats- und Regierungschefs weiter. Sind das die richtigen Punkte, die weiterhelfen können?
    Johns: Ja, das sind die richtigen Punkte. Die müssen nur auch wirklich mit Leben jetzt erfüllt werden. Die Erklärung reicht nicht, sondern es müssen tatsächlich viele Schiffe zur Verfügung gestellt werden, die auch in der Lage sind, wirklich Menschen zu retten, zu betreuen, medizinisch zu versorgen. Wenn diese alle zehn Punkte tatsächlich greifen, ja, dann wird das sehr weit reichen. Aber eine ganz wesentliche Frage wird dann sein: Wird genug Geld zur Verfügung gestellt werden? Wird genug Material, werden genug helfende Menschen zur Verfügung gestellt? Dann kann das funktionieren.
    Priorität: Menschenleben retten
    Müller: Das ist alles darin vorgesehen, mehr Schiffe, das haben Sie gesagt, mehr Hubschrauber, mehr Sicherheitskräfte, ausgebildete Sicherheitskräfte. Aber mit Ursachenbekämpfung, monieren jetzt die Kritiker, hat das ja alles nichts zu tun. Reicht das aus?
    Johns: Erst mal geht es darum, Menschenleben zu retten. Das ist das Vordringliche und das ist auch das, was die Kapitäne und die Matrosen an Bord unserer Schiffe im Moment am allermeisten bewegt. Die Ursachenbekämpfung ist dann derartig gravierend, ob dann die EU dafür reicht, oder ob das im Rahmen der Vereinten Nationen geschehen muss. Das ist dann ein viel, viel größeres Rad. Aber erst mal müssen wir jetzt jeden Tag sehen, dass nicht mehr Menschen ertrinken.
    Müller: Jetzt gibt es Kritiker - Herr Johns, Sie kennen sich da aus in der Situation -, die da sagen, wenn wir so was Ähnliches auflegen wieder wie Mare Nostrum, danach sieht es ja im Moment aus, mehr Personal, mehr Geld, Material, einfach viel mehr Schiffe wieder präsent machen im Mittelmeer, die Flüchtlinge aufnehmen können, wenn was passiert, das ist das gefundene Fressen für die Schlepper, so die These, weil die Schlepper können jetzt wieder ungehindert oder noch mehr und ohne schlechtes Gewissen zu haben einfach irgendwelche angeschlagenen, schrottreifen Fischerboote mit den Flüchtlingen aufs Meer schicken. Ist da was dran?
    Johns: Wir halten das für falsch. Wir halten das möglicherweise auch für sehr zynisch. Wir konnten nicht erkennen, dass der Flüchtlingsstrom nachgelassen hat, als Mare Nostrum zurückgefahren wurde. Im Gegenteil: Der Flüchtlingsstrom ist massiv angestiegen, und man kann nicht auf dem Leben der Menschen kalkulieren und sagen, wir lassen mal ganz viele ertrinken, in der Hoffnung, dass dann weniger kommen. Das ist für uns undenkbar.
    Müller: Es geht ja um die Perspektive der Schleuser.
    Johns: Ja. Aber wenn man das auf Kosten der Menschen macht, die jetzt ertrinken, ist das keine Handlungsoption, finden wir. Man muss die Menschen jetzt retten. Ob dann der Flüchtlingsstrom weiter ansteigt oder nicht, ist ein sehr, sehr theoretisches Argument, denn jetzt ist genau das Gegenteil geschehen und trotzdem ist der Flüchtlingsstrom angestiegen. Das heißt, offensichtlich hat das überhaupt nicht gewirkt. Deswegen geht es jetzt darum, wie wir es sonst auf See auch tun, Menschenleben retten und dann sich ernsthafte Gedanken um die Verhinderung von weiteren Flüchtlingen zu machen.
    Zahl der Flüchtlinge wird nicht sinken
    Müller: In Gesprächen mit den Kapitänen - letzte Frage -, die es ja dann offenbar auch nicht ausgeschlossen haben, dass es diese Motivation und diese Zielperspektive gibt der Schleuser, die da sagen, wir setzen ganz bewusst auf eine zivile Bergung. Also ein bisschen Gefahr könnte dahinter schon stecken?
    Johns: Ja, aber das ist natürlich auch jetzt, denn die Handelsschiffe sind ja immer da. Wir werden ja nicht den Handelsschiffsverkehr im Mittelmeer einstellen deswegen, sondern die Handelsschiffe sind da. Das heißt, die Option, ein schiffbrüchiges Boot genau in die Route eines Handelsschiffes zu ziehen oder zu fahren, die bleibt und dadurch wird auch die Zahl der Flüchtlinge nicht sinken.
    Müller: Bei uns heute Mittag im Deutschlandfunk Max Johns, Geschäftsführer des Verbandes der Deutschen Reeder. Vielen Dank für das Gespräch, Ihnen noch einen guten Tag.
    Johns: Herzlichen Dank.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.