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Rettungsschirm, Schuldenschnitt oder Austritt aus der Eurozone?

Wie die Euro-Krise bewältigt werden könnte, darüber haben sich Norbert Walter, ehemaliger Chefvolkswirt der Deutschen Bank, und der Finanzwissenschaftler Max Otte Gedanken gemacht. Während Walter einen Schuldenschnitt für Griechenland fordert, meint Otte, Schuldenstaaten müssten so schnell wie möglich aus der Eurozone austreten.

Von Christoph Birnbaum | 26.09.2011
    Otte, Wissenschaftler und erfolgreicher Fondsmanager zugleich, kann dabei immerhin für sich den Anspruch erheben, früher als viele andere Ökonomen vor der Krise unseres Finanzsystems laut und deutlich gewarnt zu haben. Für Otte stehen angesichts der milliardenschweren Rettungspakete und Schutzschirme in Europa die Schuldigen fest: die Banken!

    "Unser Geld geht nicht nach Griechenland, Irland oder Portugal – nein, es fließt wieder an die Banken, die sich ein weiteres Mal verzockt haben, diesmal mit griechischen Anleihen. Fakt ist: Es gibt überhaupt keine Euro-Krise. Wir stehen mitten in einer neuen Bankenkrise. Nutznießer sind wieder einmal Investmentbanken und Superreiche."

    "Wir müssen die Herrschaft der Finanzoligarchie beenden. Warten wir nicht länger", lautet deshalb auch sein Fazit. Gemeint sind damit Goldman Sachs und Kollegen in England und Amerika und in Deutschland vor allem: die Deutsche Bank. Gemeint ist damit aber auch eine Politik, die es den Finanzmärkten in der Vergangenheit bis heute zu einfach gemacht habe, wie Max Otte kritisiert:

    "Ein Schuldenschnitt für Griechenland und die defizitären Südländer und damit eine Beteiligung der Banken und großer Kapitalvermögen an der Behebung des selbstangerichteten Schadens sind unumgänglich, wenn unser Finanzsystem gesunden soll."

    Und Otte fordert noch mehr: Griechenland, Irland, Portugal und Spanien sollten notfalls auch aus der Eurozone entlassen werden können.

    "Noch heute verzichten viele Mitglieder der Europäischen Union auf den Euro, zum Beispiel Schweden, Dänemark, Polen und die Tschechische Republik. Und sie fahren gut damit."

    Was Europa deshalb in Zukunft vielmehr brauche, seien rigide Finanzmarktreformen: Mehr Eigenkapital bei Banken, eine europäische Ratingagentur und eine Finanztransaktionssteuer. Das alles findet sich bei Norbert Walter nicht so klar ausgesprochen. Wie könnte es auch anders sein. Norbert Walter ist als ehemaliger Chefvolkswirt der Deutschen Bank ja geradezu Teil des Systems, dass Otte für die Ursache der Krise hält. Deshalb steht für Walter auch fest, dass wir es bei der Krise nicht allein mit einem Marktversagen zu tun haben, sondern auch mit einem Staatsversagen. Er schreibt:

    "Es ist jedoch offenkundig, dass mangelnde Sorgfalt bei der makroökonomischen Steuerung, also bei der Geld- und Finanzpolitik, vorlag und dass es an Klugheit bei der staatlichen Regulierung der Finanzmärkte fehlte. Es gab sowohl Markt- als auch Staatsversagen zu beobachten."

    Erstaunlicherweise treffen sich aber beide Ökonomen in einem Punkt:

    "Wir müssen 'Die hohe Kunst der Umschuldung' wieder erlernen, aufbauend auch auf den Erfahrungen der lateinamerikanischen Schuldenkrise in den achtziger Jahren."

    … meinen sowohl Walter als auch Otte, um jenseits eines Staatsbankrotts auch Gläubiger wieder an den Risiken zu beteiligen.

    "Das Know-how ist vorhanden, es muss nur für Euroländer entsprechend aufbereitet werden."

    … lautet Walters Fazit. Keinesfalls dürften die Rettungsschirme, Bürgschaften und sonstige Hilfszusagen zu einer Dauerlösung in Europa werden, andernfalls würde die "EWWU", die "Europäische Wirtschafts- und Währungsunion", zu einer "Schulden- und Transferunion" mutieren. Das würde am Ende auch die starken Länder in der Eurozone überfordern, warnt er:

    "Dem Europagedanken würde damit Schaden zugefügt. Mit einer solchen Schwächung der Starken wäre in einer EWWU auf Dauer auch den Schwachen nicht gedient."

    Wo aber Max Otte den Ausstieg einzelner Euro-Länder als letzten Ausweg sieht, zögert Norbert Walter:

    "Das Auseinanderbrechen der Währungsunion ist deshalb nicht angezeigt. Es ist das Gegenteil einer sachgerechten Lösung."

    Überhaupt geht Walters Ansatz aber sehr viel weiter als Ottes Streitlust: Norbert Walters Buch ist nicht nur ein Plädoyer für den Euro und für einen großen einheitlichen Währungs- und Wirtschaftsraum, der es in Zeiten der Globalisierung mit dem amerikanischen Dollar und dem chinesischen Renminbi aufnehmen kann und auch geradezu muss. Es ist auch ein flammender Appell, die Vielfalt und Kreativität europäischer Wirtschaft und Kultur in Zeiten wachsender Europaskepsis nicht aus den Augen zu verlieren. "Die Welt beneidet uns um Europa", ist das Credo des früheren Deutschbankers. In Asien und im Nahen Osten blicke man neidisch auf den alten Kontinent und seine Fähigkeit, auch widerstreitende Interessen politisch zu bündeln und friedlich-schiedlich zu regeln. Nicht umsonst seien es gerade europäische Städte, die zum Beispiel immer wieder in internationalen Rankings zu den lebenswertesten Metropolen der Welt gehörten.

    "Es ist schon eigentümlich zu beobachten, wie häufig man im Integrationsraum Europa die Nettovorteile der EU und der EWWU übersieht und gleichzeitig die Bewunderung für die Fähigkeit Europas zur Integration wahrnimmt, die es insbesondere im Nahen Osten und in Asien gibt."

    Und Walter sieht auch in der Zukunft viele solcher Vorteile in Europa – zum Beispiel auf dem Gebiet der Stadt- und Verkehrsplanung und vor allem im Umweltschutz, in dem Europa technologisch führend sei. Walter ist überzeugt: Hier wird der alte Kontinent - und ganz besonders auch Deutschland - in den nächsten Jahren noch viele "Pioniergewinne" einfahren, auch wenn der EU mitunter der Blick für das wirklich Wichtige abhandenzukommen scheint."

    "Es gab und gibt aber auch immer wieder Fälle von fragwürdiger EU-Regulierung. So haben die Europäer die Erfahrung gemacht, dass die EU Kompetenzen beansprucht hat, die von der standardisierten Krümmung der Salatgurken bis zu Produktstandards im Bereich der Beleuchtung reichen. Hier gibt es neben sinnvoller Regulierung auch Übertreibungen."

    Wo Max Otte also erfrischend polemisiert, verkürzt und reichlich zuspitzt und damit auch zum Widerspruch anregt, wägt Norbert Walter vorsichtig- bisweilen fast ein wenig zu staatstragend ab. Eigentlich aber wünschte man sich für das "Projekt Europa" in diesen Tagen von einem Autor wie Norbert Walter genau die gleiche Streitlust, die ein Autor wie Max Otte bei der Suche nach den Schuldigen der Finanzkrise an den Tag legt.

    Max Otte: Stoppt das Euro-Desaster!
    Ullstein Verlag 2011
    47 Seiten, 3,99 Euro
    ISBN: 978-3-550-08896-4

    Norbert Walter: Europa. Warum unser Kontinent es wert ist, dass wir um ihn kämpfen.
    Campus Verlag 2011
    256 Seiten, 24,99 Euro
    ISBN: 978-3-593-39238-7


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