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Revolutionär im Denken

Obwohl stets umstritten, zählt das Freudsche Werk zu jenen intellektuellen Leistungen, die das 20. Jahrhundert entscheidend mitgeprägt haben. Sein bleibender Verdienst liegt wohl darin, dass er die Wissenschaft vom Unbewussten nicht auf den ärztlich-klinischen Aspekt beschränkte, sondern sie auf allgemeine kulturell-gesellschaftliche Phänomene ausdehnte. Heute vor 150 Jahren wurde Sigmund Freud in Freiberg in Mähren geboren.

Von Hans-Martin Lohmann | 06.05.2006
    Den größten Teil seines Lebens verbrachte Sigmund Freud in Wien, wo er als niedergelassener Nervenarzt die Grundzüge dessen entwickelte, was unter dem Namen Psychoanalyse Karriere machen und Weltruhm erlangen sollte. Ein Jahr vor seinem Tod, 1938, wurde er aus der Stadt, der er in einer Art Hassliebe verbunden war und die er einmal sogar als "Gefängnis" bezeichnet hatte, auf Grund der politischen Verhältnisse und weil er Jude war vertrieben.

    "Im Alter von 82 Jahren verließ ich infolge der deutschen Invasion mein Heim in Wien und kam nach England, wo ich mein Leben in Freiheit zu enden hoffe. My name is Sigmund Freud."

    Die Geburtsstunde der Psychoanalyse schlug im Jahr 1900, als Freud sein bahnbrechendes Werk "Die Traumdeutung" veröffentlichte. In diesem Grundlagenwerk der Psychoanalyse entfaltete Freud die wesentlichen Elemente einer Theorie des Unbewussten, die davon ausgeht, dass der Mensch trotz aller erworbenen Bewusstheit und Rationalität ein wünschendes und fantasierendes Tier ist, das immer dann zum Vorschein kommt, wenn äußere Zensur- und Verbotsschranken aufgehoben sind - zum Beispiel im Traum. Träumend darf all das gedacht, gesagt und agiert werden, was im Wachzustand den Anforderungen des Realitätsprinzips zum Opfer fällt. Auch mit seinen folgenden Veröffentlichungen, "Zur Psychopathologie des Alltagslebens" von 1901 und "Der Witz und seine Beziehung zum unbewussten" von 1905, blieb Freud konsequent auf dieser Spur. Ähnlich wie der Traum, so sein Postulat, verraten auch die unscheinbaren Fehlleistungen im Alltag ebenso wie der gelungene Witz etwas von dem, was das wünschende und fantasierende Tier namens Mensch umtreibt.

    In den 1905 publizierten "Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie" konnte Freud nachweisen, dass bereits beim Kind leibliche und psychische Bedürfnisse virulent sind, die man als sexuell bezeichnen muss, womit er massiv gegen die Vorstellung vom sexuell "unschuldigen Kind" - ein Lieblingsgedanke des bürgerlichen 19. Jahrhunderts - vorging. Mit seinen revolutionären Neuerungen erwarb sich Freud freilich nicht nur Anhänger, sondern auch einflussreiche Gegner vor allem in ärztlichen Kreisen: Noch 1910 dekretierte der Geheime Medizinalrat Wilhelm Weygandt: Freuds Lehre sei eine "Sache der Polizei".

    Die eigentliche und bleibende Leistung Freuds liegt wahrscheinlich darin, dass er die Wissenschaft vom Unbewussten nicht auf den ärztlich-klinischen Aspekt beschränkte, sondern sie auf die Erkenntnis und Durchdringung allgemeiner kulturell-gesellschaftlicher Phänomene ausdehnte. Schriften wie "Totem und Tabu", "Massenpsychologie und Ich-Analyse" und "Das Unbehagen in der Kultur", um nur die wichtigsten zu nennen, legen in großartig eindringlicher Weise Zeugnis davon ab, dass die menschliche Kultur auf seelischen Einstellungen beruht, die - mehr, als uns manchmal lieb sein kann - von unbewussten Dispositionen zu Aggression und Selbstzerstörung beeinflusst sind. Allerdings hat Freud bei allem wachsenden Interesse an Fragen des kulturellen Lebens und Überlebens die Herkunft der Psychoanalyse aus der ärztlichen Tätigkeit nie verleugnet. Kurz vor seinem Tod im Londoner Exil wies er noch einmal mit Nachdruck auf den "Mutterboden" hin, dem die Psychoanalyse entstammt:

    "Ich begann meine berufliche Laufbahn als Neurologe, der seinen neurotischen Patienten zu helfen versuchte. Angeregt von einem älteren Freund, entdeckte ich einige bedeutsame neue Fakten über das Unbewusste in unserem Leben, die Rolle der Triebkräfte und so weiter. Aus diesen Erkenntnissen heraus erwuchs eine neue Wissenschaft, die Psychoanalyse, als Teil der Psychologie und als neue Behandlungsmethode für Neurosen."

    Auch knapp 70 Jahre nach seinem Tod wird über Freud heftig diskutiert und gestritten. Einerseits gerät die psychoanalytische Behandlungsmethode, die nicht auf schnelle Symptomheilung, sondern auf Einsicht und Stärkung des Ich zielt, immer wieder ins Visier der Kostensparer im Gesundheitswesen, indem man ihr mangelnde Effizienz vorwirft. Auf der anderen Seite entdeckt etwa die moderne Neurowissenschaft überraschende Übereinstimmungen mit zentralen Annahmen der Psychoanalyse und bestätigt damit eindrucksvoll deren innovatives Potenzial.

    Aber wie immer auch über Freud jetzt und in Zukunft debattiert wird: Ohne ihn und sein Werk wären wir, um ein Wort des Schriftstellers Botho Strauß zu variieren, auf Anhieb dümmer.