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Revolutionäres Faszinosum

Die Revolutionstruppen erreichten die fortezza San Leo im Jahr 1797. Als erstes fragte General Dombrowski nach dem Verbleib des berühmten Grafen Cagliostro. Als die Offiziere der polnischen Legion vom Tod des Gefangenen erfuhren, befahlen sie, so die Legende, dessen sterbliche Überreste auszugraben. Sie füllten seinen ausgebleichten Schädel mit Wein und tranken daraus zur Erinnerung an ihn.

Von Harro Zimmermann | 20.07.2004
    Zwei Jahre nach seinem Tod wollen polnische Gardeoffiziere einen, wenn nicht den Helden der Französischen Revolution feiern - Giuseppe Balsamo, alias Graf von Cagliostro. Doch wie so vieles an der Geschichte des skandalumwitterten Grafen ist auch diese Legende nicht verbürgt. Es ist schwer, sich ein historisch zuverlässiges Bild von ihm zu machen. Iain McCalman ist es dennoch so gut gelungen wie keinem Autor zuvor. Akribisch begibt er sich auf die Spur eines wahrhaften Faszinosums. Nicht einmal Casanova ist so sehr zum Mythos geworden wie jener arme Mann namens Giuseppe Balsamo aus dem sizilianischen Palermo.

    Schon die Zeitgenossen haben ihn zur Schreckensfigur einer feimaurerischen Weltverschwörung stilisieren wollen, Mozart setzte ihm ein Denkmal in der ‚Zauberflöte‘, Goethe reflektierte seine geisterhafte Gestalt im ‚Faust‘, Alexandre Dumas machte ihn zum Mittelpunkt eines zehnbändigen epischen Geschichtsspektakels, das 20. Jahrhundert ließ ihn zum Stoff von Science-Fiction und -Fantasy-Filmen werden, bei Umberto Eco schließlich wird er zum Propheten einer erschöpften Aufklärung im Zeichen des Postmodernismus. Der Kulturhistoriker Iain McCalman zeigt sich nach so vielfacher historischer und mythisch umwobener Belehrung angenehm nüchtern.

    Wer war Cagliostro wirklich? Ein spiritueller Suchender, ein Mystiker und Heiler, der von einem tieferen Sinn und Streben beseelt war? Oder ein Scharlatan, ein Opportunist, ein Betrüger, der auf den großen Bühnen Europas auftrat?

    Den Humus für Balsamos Geistersehereien, seine alchimistischen Spektakel und Wunderheilungen boten die untergründigen Geheimorden und Freimaurergesellschaften im 18. Jahrhundert. Cagliostro, ständig begleitet von seiner erotisch dienstfertigen Ehefrau Serafina, brachte die Seelen zarter Adelsdamen ebenso in Wallung wie er an den bedeutendsten Fürstenhöfen Europas begehrt oder verfemt war. Hat dieser durchtriebene Verschwörer und vermeintliche Volksfreund, verstrickt in die sogenannte ‚Halsbandaffäre’ am Versailler Hof, tatsächlich die Französische Revolution ausgelöst? Die Bewunderung der Franzosen ließ ihn jedenfalls bald als Ikone des antifeudalen Umsturzes erscheinen. Selbst Katharina die Große sah sich gezwungen, durch selbstverfasste Satiren öffentlich Abstand von Cagliostro, diesem beargwöhnten Spion und Großintriganten, zu nehmen. Und auch in der piekfeinen Londoner Gesellschaft sah man den Grafen, mittlerweile der Star einer sensationshungrigen internationalen Presse, in den Mittelpunkt hochpolitischer Diplomaten- und Meinungskämpfe gezerrt.

    Die ideologische Aura aus Mystizismus, Betrug und politischer Radikalität, die ihn umgab, musste diesen Scharlatan schließlich dem Verdacht der römischen Inquisition aussetzen. Von seiner skrupellosen Serafina verraten, landete er am Ende im Verließ von San Leo in der Nähe von Rom. Hier starb Cagliostro, von einer großen europäischen Öffentlichkeit immer noch heiß verehrt oder verabscheut, am 26. August 1795 als "unbußfertiger Mann" im Alter von zweiundfünfzig Jahren. Allen verzückten Legenden, deren Quellenwert er nicht weiter untersucht, setzt McCalman das eindrucksvolle, oft unglaubliche Lebensbild eines schlichten Palermitaners entgegen. Er wurde geliebt oder gehasst von Menschen in einem Jahrhundert, das von Vernunftverheißung und Gottlosigkeit gleichermaßen erfüllt war. Iain McCalman zitiert am Ende den italienischen Journalisten Vincenzo Salerno:

    Jede italienische Stadt hat einen Schutzheiligen. Welche historische Gestalt verkörpert am besten die sizilianische Hauptstadt, den Palermitanismus, für den die Stadt heute berühmt ist? Am besten wohl ein Scharlatan, Betrüger, Alchemist, Erzgauner und Allround-Schlawiner namens Graf Cagliostro‘. Ich glaube, er hat recht. Meine palermitanischen Freunde ... waren nicht weniger realistisch und nicht weniger stolz auf Giuseppe Balsamo, den uomo di popolo aus Palermo. Ninetta drückte es am treffendsten aus: ‚Cagliostro war vielleicht ein Betrüger, aber er hatte eine große Seele‘.

    Iain McCalman
    Der letzte Alchemist. Die Geschichte des Grafen Cagliostro
    Insel Verlag, 332 S., EUR 22,90