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Rezension von "Unterwerfung"
Ironische Parabel auf das politische Frankreich

Genau am Tag der Veröffentlichung seines Romans "Unterwerfung" ereigneten sich die Terroranschläge in Paris: Michel Houellebecq beschreibt in seinem Roman die Machtübernahme eines muslimischen Präsidenten in Frankreich - und bietet damit vor allem eine herbe Abrechnung mit der heute herrschenden Klasse.

Von Christoph Vormweg | 18.01.2015
    Der Roman "Unterwerfung" von Michel Houellebecq liegt in einer Kölner Bahnhofsbuchhandlung aus.
    Der Roman "Unterwerfung" von Michel Houellebecq liegt in einer Kölner Bahnhofsbuchhandlung aus. (picture alliance / dpa / Oliver Berg)
    Provozieren ist und bleibt Michel Houellebecqs liebster Sport. Er pfeift auf jede Form der "political correctness". Aber um es gleich vorweg zu sagen: Sein Roman "Unterwerfung" schildert zwar die Machtübernahme eines muslimischen Präsidenten in Frankreich. Doch verbirgt sich hinter seiner aufstörenden Zukunftsvision keine Attacke gegen die islamische Religion oder ihre Gläubigen. Mit keiner Zeile liefert Michel Houellebecq den extremen Rechten antiislamische Argumente oder gar Parolen. Der Goncourt-Preisträger von 2010 imaginiert lediglich, wie sich ein solcher Wandel in Frankreich vollziehen könnte. Und deshalb ist der Roman "Unterwerfung" vor allem eine herbe Abrechnung mit der heute herrschenden politischen Kaste – Fernsehmedien inklusive.
    Houellebecqs politische Parabel erkundet, wie und warum in einem Land, das sich laizistisch wähnt, die Religion wieder zu einem politischen Machtmittel werden kann. Zur Ironie gehört da, dass er eine Institution in den Mittelpunkt rückt, von der aus die katholischen Fundamentalisten bis ins 18. Jahrhundert hinein Machtpolitik betrieben: die weltberühmte Pariser Sorbonne. Im Jahr 2022, in dem der Roman "Unterwerfung" spielt, ist die Universität der Arbeitgeber des 43-jährigen Erzählers François. Der Literaturwissenschaftler, ein introvertierter, typisch Houellebecqscher Anti-Held, ist Spezialist für die französische Literatur des 19. Jahrhunderts.
    "Ich war politisiert wie ein Handtuch, was wahrscheinlich schade war. Es stimmt, dass die Wahlen in meiner Jugend so uninteressant waren, wie man es sich nur denken konnte. Die Dürftigkeit des "politischen Angebots" war sogar wirklich frappierend. Man wählte einen Mitte-Links-Kandidaten abhängig von seinem Charisma für die Dauer von einem oder zwei Mandaten. Ein drittes wurde ihm aus undurchsichtigen Gründen verwehrt. Dann wurde das Volk dieses Kandidaten beziehungsweise der Mitte-Links-Regierung überdrüssig – hier ließ sich gut das Phänomen des demokratischen Wechselspiels beobachten –, woraufhin die Wähler einen
    Mitte-Rechts-Kandidaten an die Macht brachten, ebenfalls für die Dauer von ein oder zwei Mandaten, je nach Typ. Seltsamerweise war der Westen überaus stolz auf dieses Wahlsystem, das doch nicht mehr war als die Aufteilung der Macht zwischen zwei rivalisierenden Gangs. Seit dem Vormarsch der Rechtsextremen war die ganze Sache ein wenig spannender geworden, die Debatten waren vom vergessenen Beben des Faschismus untermalt."
    Anti-Held François vor der Wahl eines muslimischen Präsidenten
    2017 konnte der Front National unter Führung von Marine Le Pen noch ausgebremst werden. Der Preis: Trotz seines Versagens durfte Staatspräsident Hollande eine zweite Amtszeit antreten. 2022 sieht die Lage aber anders aus. Mittlerweile gibt es die Partei der Muslimbrüder. Im ersten Wahlgang zu den Präsidentschaftswahlen überholen sie die Sozialisten. Im Finale stehen also eine Rechtsextreme und ein Muslim. Die zunehmende Angst bringt Bewegung in François' beschauliche Professorenexistenz. Seine jüdische Ex-Freundin, die Studentin Myriam, schaut auf eine Abschiedsnummer vorbei, weil sie mit ihren Eltern die Flucht ergreifen will: nach Israel. Alain Tanneur, ein Bekannter vom Geheimdienst, erzählt von Vorverhandlungen zwischen Sozialisten und Muslimbrüdern. Man will erneut die Machtübernahme der extremen Rechten verhindern. Also wird es sehr wahrscheinlich zum ersten Mal einen muslimischen Präsidenten geben. An der Universität gehen bereits Gerüchte um, dass auch die Professoren um ihre Posten bangen müssen. Mehr noch: Es kommt zu Ausschreitungen in Paris. François sortiert derweil die gängigen Klischees über Muslime.
    "Als ich die Place d'Italie erreichte, überwältigte mich plötzlich die Vorstellung, dass alles verschwinden könnte. Die kleine Schwarze mit den Locken und dem knackigen Arsch in den engen Jeans, die auf den 21er-Bus wartete, die würde sicher verschwinden – verschwinden oder zumindest einer ernst zu nehmenden Resozialisierung unterzogen werden. Auf dem Vorplatz des Einkaufszentrums Italie 2 standen wie üblich Aktivisten, heute von Greenpeace – auch die würden verschwinden. Drinnen war das Bild weniger einheitlich. Werken, schenken, basteln war nicht angreifbar, die Tage von Jennyfer hingegen wären wohl gezählt. Dort gab es nichts, was sich für eine junge Muslima gehörte. Secret Stories dagegen müsste sich überhaupt keine Sorgen machen, dort verkaufte man Markendessous zu Outlet-Preisen: Während die reichen Araberinnen tagsüber die undurchdringliche schwarze Burka trugen, verwandelten sie sich abends in schillernde Paradiesvögel: Mieder, transparente BHs, Strings mit bunter Spitze und Schmucksteinen, also genau das Gegenteil der westlichen Frauen, die sich tagsüber sexy und elegant kleideten, weil ihr sozialer Status auf dem Spiel stand, abends aber zusammensanken, in unförmige Freizeitklamotten stiegen und beim Gedanken an Verführungsspielchen nur müde abwinkten."
    Auch wenn François um seine Existenz als Literaturwissenschaftler bangt, zeigt er sich nicht voreingenommen gegenüber dem muslimischen Way of Live. Er beobachtet, wartet ab, ohne vorzuverurteilen. Denn der westliche, konsumfixierte Lebensstil hat ihn – wie alle Houellebecqschen Anti-Helden - nie überzeugen können. Glück hat er dauerhaft nie empfunden: nicht während seiner trostlosen Kindheit, nicht in seinen Liebschaften, die selten länger als ein paar Monate dauerten. Die ständig in den Medien beschworene Freiheit reduziert sich in seinem Alltag auf die Wahl des Tiefkühlmenüs oder des Fernsehkanals. Die einzige regelmäßig wiederkehrende existenzielle Konstante ist die Einsamkeit. Anders als der leidenswütige, bittere Protagonist aus Houellebecqs Roman "Elementarteilchen", der die sexuelle Misere durch das Klonen von Menschen beseitigen will, hat sich François aber eine Art zynischen Kopulationspragmatismus angewöhnt: mit durchschnittlich einer Studentin pro Studienjahr und bezahltem Sex via Internet. Das Alter erscheint ihm als der einzig wirkliche Sehnsuchtsort:
    Michel Houellebecq, hier beim Filmfest in Venedig.
    Der Autor Michel Houellebecq (imago/Xinhua)
    "Heutzutage ist es vernünftiger, als Paar nicht zusammenzuziehen, bis man die 50 oder 60 erreicht hat, wenn der alternde und schmerzgeplagte Körper sich nach Vertrautem sehnt, nach Beschwichtigung und Unschuld; dann, wenn die Landküche [ ... ] wichtiger wird als jede andere Lust. Ich spielte einige Zeit mit dem Gedanken an einen Artikel für das "Journal du dix-neuvième", in dem ich darlegen wollte, dass Huysmans' Schlussfolgerungen nach einer langen und stumpfsinnigen Periode der experimentell-modernen Küche wieder aktuell waren; aktueller denn je."
    Leidenschaft für die Literatur
    Huysmans? Ja, Joris Karl Huysmans, der Schriftsteller, der erst zu den Naturalisten zählte, dann zur Décadence und schließlich im Lob des Katholizismus sein Heil suchte, ist die zweite Konstante in François' Dasein. Auf ihn ist immer Verlass gewesen. Er war der Gefährte seiner traurigen Jugend, sein, wie es heißt, treuer Freund. Huysmans gab François während der jahrelangen Abfassung seiner Dissertation inneren Halt. Jetzt, in der Phase totaler politischer Unsicherheit, entdeckt er ihn wieder. Bei der erneuten Lektüre seiner Romane vergisst er alles um sich herum. Diesen intimen Austausch mit einem Abwesenden hat Michel Houellebecq sehr gekonnt in die äußere Romanhandlung eingeflochten. Hier zeigt sich seine eigene Leidenschaft für die Literatur. Denn François' literarisches Credo ist auch seines:
    "Allein die Literatur vermittelt uns das Gefühl von Verbundenheit mit einem anderen menschlichen Geist, mit allem, was diesen Geist ausmacht, mit seinen Schwächen und seiner Größe, seinen Grenzen, seinen Engstirnigkeiten, seinen fixen Ideen, seinen Überzeugungen; mit allem, was ihn berührt, interessiert, erregt oder abstößt. Allein die Literatur erlaubt uns, mit dem Geist eines Toten in Verbindung zu treten, auf direkte, umfassendere und tiefere Weise, als das selbst in einem Gespräch mit einem Freund möglich wäre – denn so tief und dauerhaft eine Freundschaft sein mag, niemals liefert man sich in einem Gespräch so restlos aus, wie man sich einem leeren Blatt ausliefert, das sich an einen unbekannten Empfänger richtet. Natürlich sind, wenn es um Literatur geht, die Schönheit des Stils, die Musikalität der Sätze von Wichtigkeit. Die Tiefe und Originalität der Gedanken des Autors sind nicht unwesentlich; aber ein Autor ist zuvorderst ein Mensch, der in seinen Büchern gegenwärtig ist; ob er gut schreibt oder schlecht, ist dabei zweitrangig, die Hauptsache ist, dass er schreibt und wirklich in seinen Büchern präsent ist."
    Präsent in seinen Büchern
    Dieses Versprechen, als Autor in seinen Büchern präsent zu sein, löst Michel Houellebecq auch in seinem Roman "Unterwerfung" ein. In der gelungenen Übersetzung von Norma Cassau und Bernd Wilczek variiert er die zentralen Motive seiner früheren Romane: die meist vergebliche Suche nach Sinn, die Abkehr von den selbstsüchtigen Eltern, die Flucht in den Alkohol und in den ausschweifenden, meist seelenlosen Sex. Die existenzielle Reibung am Hier und Jetzt ist permanent. Zwar gehört Houellebecq bekanntlich nicht zu den stilistischen Feinjustierern. Doch verliert seine mal reflektierende, mal dialogische, mal gradlinig erzählende Romanprosa - abgesehen von den etwas zu langen Monologen seines Geheimdienstlers - nie an Sogkraft. Auch zeigt sich, dass er alles andere als humorfrei ist, wie ihm so oft vorgeworfen wurde. Gerade seine Porträts aus dem akademischen Milieu der Sorbonne mit seinen Seilschaften und Grabenkämpfen sind voller ironischer Seitenhiebe.
    Am Morgen des alles entscheidenden Wahlsonntags macht sich Nicht-Wähler François aber erst einmal aus dem Staub. Bürgerkriegsähnliche Zustände wären dem Rundumbequemen ein Gräuel. Dann müsste er um seine tägliche Ration Tiefkühlkost, den Wein und die Zigaretten fürchten. Passend zur Frage, ob der Laizismus in Frankreich zu einer spirituellen Unterversorgung der Bevölkerung geführt hat, fährt er nach Rocamadour, dem Wallfahrtsort. Für den erklärten Atheisten ist es an der Zeit, einen Selbstversuch zu wagen. In der Notre-Dame-Kapelle sucht François die Konfrontation mit der schwarzen Madonna.
    "Ob diese jungen Katholiken wohl ihre Erde liebten? Ob sie bereit waren, sich für sie zu verlieren? Ich selbst war bereit, mich zu verlieren, nicht unbedingt speziell an meine Erde. Ich fühlte mich generell bereit, mich zu verlieren, zumal ich mich in einem eigenartigen Zustand befand. Denn mir kam es so vor, als würde die Muttergottes sich erheben, sich von ihrem Sockel lösen und wachsen, als wäre das Jesuskind bereit, sich von ihr loszumachen. Und ich hatte den Eindruck, dass es jetzt nur seinen rechten
    Arm zu heben brauchte, um die Heiden und Götzendiener zu vernichten, und die Führer der Welt würden ihm "als Gott, als Allvater und als Herr" wieder folgen. [...] Vielleicht hatte ich auch einfach nur Hunger. Ich hatte am Tag zuvor versäumt, etwas zu essen. Und wäre vielleicht besser ins Hotel zurückgekehrt, um mir Entenschenkel servieren zu lassen, statt infolge einer mystischen Unterzuckerung zwischen zwei Sitzbänken zusammenzubrechen."
    Auch der - ebenfalls voller Selbstironie beschriebene - zweite religiöse Selbstversuch von François ist zum Scheitern verurteilt. In dem Kloster, in dem einst Huysmans einkehrte, weil er meinte, sein Herz sei "durch das lockere Leben verhärtet und vertrocknet", mietet er sich ein. Doch der Rauchmelder in der Mönchszelle macht ihm genauso zu schaffen wie der Lärm der nahen Schnellzugtrasse. Nach dem Machtantritt des muslimischen Präsidenten bleibt François nur, sich den neuen Realitäten zu stellen. Wird er sein Dasein als gut bezahlter Professor ungestört weiterfristen können? Werden die Hörsäle der altehrwürdigen Sorbonne sein erotisches Jagdgebiet bleiben?
    "Zwei Wochen nach meiner Rückkehr nach Paris erhielt ich das Schreiben von Paris III, meiner Universität. Die neuen Statuten der Islamischen Universität Paris-Sorbonne verböten die Fortsetzung meiner Lehrtätigkeit; [...] Es stehe mir natürlich frei, meine Karriere an einer laizistischen Universität fortzusetzen; sollte ich darauf jedoch lieber verzichten wollen, würde sich die Islamische Universität Paris-Sorbonne verpflichten, mir vom heutigen Tag an eine an die Inflationsrate gekoppelte Pension zu zahlen, deren Höhe zum jetzigen Zeitpunkt monatlich 3472
    Euro betrüge. [...] Ich las den Brief drei Mal, bis ich es endlich glauben konnte. Die Summe entsprach auf den Euro genau dem, was ich mit 65 Jahren, nach Abschluss meiner gesamten Laufbahn, im Ruhestand bekommen hätte. Sie waren wirklich zu großen finanziellen Opfern bereit, um zu vermeiden, dass die Wellen hochschlugen. Zweifelsohne überschätzten sie die Universitätslehrer in ihren Möglichkeiten und Fähigkeiten, wirksame Protestaktionen zu organisieren. [...] Selbst ein einhelliger Protest aller Universitätslehrer wäre nahezu vollkommen unbemerkt geblieben; aber das konnten sie in Saudi-Arabien offensichtlich nicht abschätzen. Sie glaubten im Grunde genommen noch so sehr an die Macht der intellektuellen Elite, dass es beinahe rührend war."
    Wie entscheidet sich François?
    Wie wird sich François entscheiden? Sein Lebensstandard wäre mit der Rente gesichert. Ohnehin lässt die gesittetere Frauenkleidung auf den Straßen von Paris sein Verlangen spürbar sinken. Also: weniger Sex-Ausgaben, mehr Zeit für seine geliebte Literatur. Die meisten Frauen sind ohnehin von der Regierung mit horrend hohen Kindergeldzahlungen zurück an den heimischen Herd gelockt worden. Der neue Präsident ist allerdings kein muslimisches Klischeeungeheuer, sondern ein hochgebildeter Mann, der die wichtigsten französischen Elite-Hochschulen absolviert hat.
    Kommt für François also vielleicht doch noch ein dritter Weg in Frage? Denn die Professoren, die zum Islam konvertieren, bekommen ihren Lehrstuhl zurück. Und wie jeder politische Machtapparat lockt auch der muslimische mit Privilegien: mit dreifachem Gehalt und der Erlaubnis zu drei Ehefrauen. Wird François da widerstehen können? Ist ihm der Rücksturz in die Zeiten des Patriarchats vielleicht sogar angenehm?
    In jedem Fall: Seine ironische Süffisanz verliert Michel Houellebecq in seinem Roman "Unterwerfung" bis zur letzten Seite nicht. Schon in seinem letzten, 2010 mit dem Goncourt-Preis ausgezeichneten Künstlerroman "Karte und Gebiet" haben wir einen schillernden Houellebecq kennengelernt, der sich selbst auf die Schippe nehmen kann.
    Deshalb bleibt von ihm als Schriftsteller auch noch Einiges zu erwarten – zumal er die Fehleinschätzungen, die über ihn in Umlauf sind, systematisch unterläuft: so die des angeblich Humorlosen oder die des radikalen Islamfeindes. Wie gewohnt verunsichert Houellebecq uns Leser - am Ende des Romans vor allem mit der Tatsache, dass der neue muslimische Präsident viel moderater auftritt als gedacht, vor allem aber viel intelligenter als die satten, ideenlosen alten Eliten Frankreichs.
    Literatur ist nicht die Wirklichkeit. Aber sie erlaubt es, Versuchsanordnungen mit Blick auf die Zukunft durchzuspielen. Michel Houellebecq bleibt in diesem Sinne ein Aufstörer, ein Querdenker. Und das ist gut so.
    Buchinfos:
    Michel Houellebecq: "Unterwerfung". Roman. Aus dem Französischen von Norma Cassau und Bernd Wilczek, DUMONT Buchverlag, Köln 2015, 272 Seiten, Preis: 22,99 Euro