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Rheinland-Pfalz
Immer mehr Kinder mit ADHS-Diagnose

Bei Kindern, die nicht stillsitzen oder sich schlecht konzentrieren können, wird häufig die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) diagnostiziert. Laut einer Studie der Techniker-Krankenkasse gibt es besonders viele Fälle in Rheinland-Pfalz. Kritiker vermuten hinter den Ergebnissen allerdings die Pharmaindustrie.

Von Ludger Fittkau | 02.06.2014
    Ritalin wird zur Behandlung von ADHS eingesetzt.
    Ritalin wird zur Behandlung von ADHS eingesetzt. (picture-alliance / dpa / Julian Stratenschulte)
    Martina Henkel richtet im geräumigen Kita-Flur eine mehrere Meter lange Spiel-Schlange wieder auf, die umgefallen ist. Rund um die Schlange wuseln Zwei- und Dreijährige, ganz in der Nähe lockt ein Frühstücksbuffet mit viel frischem Obst und Gemüse. Das Etikett "Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung" - kurz ADHS - mag Martina Henkel nicht. Deswegen nennt die Leiterin der Kita der Gemeinde Hanhofen bei Speyer die betroffenen Kinder "verhaltensoriginell":
    "Wir sind eine zertifizierte Bewegungs-Kita, eine Gesundheits-Kita und versuchen das hier vor Ort umzusetzen. Besonders für unsere ADHS-Kinder, die wir hier vor Ort haben, ist dieses Konzept von Bewegung, Ernährung und Elternarbeit zuträglich."
    Die kommunale Kita in Hanhofen bei Speyer hält der rheinland-pfälzische Gesundheitsminister Alexander Schweitzer (SPD) für vorbildlich im Kampf gegen ADHS. Es gefällt ihm nicht, dass die Techniker-Krankenkasse das Land Rheinland-Pfalz bundesweit an der Spitze der ADHS- Diagnosen positioniert:
    "Die Zahl ist nicht erfreulich, aber ob sie repräsentativ ist für Rheinland-Pfalz, das würde ich schon hinterfragen. Dennoch, der Fingerzeig ist da und ich nehme ihn sehr ernst."
    Medikamenten-Hersteller beeinflussen das Verschreibungsverhalten
    Der Verdacht des Ministers: Eine hohe Facharztdichte in Rheinland-Pfalz führt zu mehr ADHS-Diagnosen als anderswo. Die Techniker-Krankenkasse hat die hohen Diagnose-Zahlen veröffentlicht. Christina Crook ist Sprecherin der Kasse in Mainz. Sie bezweifelt, dass es an Rhein und Mosel eine besonders hohe Facharztdichte gibt.
    "Es ist allerdings so, dass wir in Rheinland-Pfalz weder eine Über- noch eine Unterversorgung der zum Beispiel Kinder- und Jugendärzte oder Psychiater haben, die diesen "Platz 1" in diesem Fall begünstigten könnten."
    Christina Crook von der Techniker-Krankenkasse hat stattdessen die Pharmaindustrie in Verdacht, für die besonders hohe Zahl der ADHS-Diagnosen in Rheinland-Pfalz verantwortlich zu sein. Werbeaktionen von Medikamenten-Herstellern beeinflussen das Verschreibungsverhalten von Ärzten, so Crook:
    "Es ist einfach so, dass wir schon mehrfach beobachtet haben, dass wenn ein Pharmaunternehmen meinetwegen in einer gewissen Region vertrieblich sehr aktiv ist, kann es auch einfach sein, dass Ärzte für gewisse Krankheitsbilder oder Themenkomplexe, wenn Sie so wollen sensibilisiert sind. Und das kann auch zu einer Häufung von Diagnosen führen."
    Ob ADHS-Medikamenten-Hersteller gerade in Rheinland-Pfalz besonders stark die Werbetrommel rühren, ist noch unklar. Bekannt ist jedoch: Ein international agierender Produzent von ADHS-Medikamenten mit Sitz auf der Insel Jersey spendierte der deutschen Selbsthilfegruppe ADHS Deutschland e.V. für Telefonberatung im vergangenen Jahr mehrere tausend Euro. Selbsthilfegruppen gelten als gute Multiplikatoren für Arzneimittel.
    Kindern in Schulen individuell gerecht werden
    Die Pharmaindustrie soll nun aus einer wissenschaftlichen Studie herausgehalten werden, die die Opposition im rheinland-pfälzischen Landtag nun zu den Ursachen der hohen ADHS- Diagnosezahlen im Land erstellt haben will. Hedi Thelen, sozialpolitische Sprecherin der CDU-Landtagsfraktion:
    "Ich fand sehr interessant, dass unsere Experten großen Wert darauf gelegt haben, dass es eine ganz neutrale und objektive Studie sein sollte, die auch nicht von irgendwelchen anderen Unternehmen finanziert wird."
    Der Grünen-Kinderarzt Fred Konrad leitet den rheinland-pfälzischen Landtagsausschuss für Kinder, Jugend und Familie. Zur Vorbeugung von ADHS fordert er, dass Kitas und Schulen ihre oft noch starren Strukturen verändern, um Kindern etwa in ihrem Bewegungsdrang oder ihrer Wissbegierde individuell gerecht zu werden:
    "Wir stellen uns mit unseren Systemen Kita und Schule, so stark wie sie häufig noch getrennt sind, nicht ausreichend auf die Vielgestaltigkeit der Kinder ein."
    Bewegungskitas wie in Hanhofen – sicher kein Patentrezept gegen ADHS. Aber als Alternative zur dauerhaften Gabe von Medikamenten könnten sich mehr Freiräume zum Toben für die Kinder lohnen.