Dienstag, 19. März 2024

Archiv

Rhetorik als Kunst
Historische Reden von Frauen

Die Rhetorik wird seit der Antike als männliche Kunst wahrgenommen. Im Bundestag haben auch Frauen mit großen historischen Reden Gehör gefunden, müssen sich aber auch heute noch mit einem männlichen Rednerideal auseinandersetzen.

Von Paul Stänner | 01.07.2018
    Die Abgeordnete der erstmals im Bundestag vertretenen Grünen, Waltraud Schoppe, während der konstituierenden Sitzung am 29. März 1983 im Bonner Bundestag am Rednerpult
    Historische Rede im Bundestag: Grünen-Abgeordnete Waltraud Schoppe (dpa picture alliance / Martin Athenstädt)
    Man(n) glaubt es vielleicht nicht, aber es gibt sie doch, die großen historischen Worte von Frauen, gerichtet an die Gemeinschaft, den Staat, die Herrschaft. Worte, die überzeugen, die zur Tat aufrufen, die unvergessen sind.
    "Und nun - verurteilen Sie mich!" sprach Rosa Luxemburg, angeklagt wegen Volksverhetzung, weil sie sich gegen die allgemeine Kriegseuphorie 1914 gewandt hatte. "Genossen, eure Veranstaltungen sind unerträglich!" schleuderte Helke Sander anno '68 dem ganzen männlich bornierten SDS entgegen und Waltraud Schoppe sah sich einem tobenden Bundestag gegenüber, als sie es wagte, von Vergewaltigung in der Ehe zu sprechen. Die berühmtesten Reden von Frauen aus der deutschen Geschichte beweisen, dass die traditionell männlich konnotierte Redekunst längst von Frauen erobert wurde.
    Wir präsentieren einen Rückblick auf eine Debatte um Frauenrechte und den Paragrafen 218 - mit Worten von Frauen, gerichtet an Männer, an die Gemeinschaft, den Staat. Die grüne Abgeordnete Waltraud Schoppe hielt am 5. Mai 1983 eine legendäre Rede und sah sich einem tobenden Bundestag gegenüber, als sie es wagte, von Vergewaltigung in der Ehe zu sprechen. Paul Stänners Essay ist ein Auszug aus der "Langen Nacht der historischen Reden" aus dem Jahr 2011. Redaktion Monika Künzel.
    Die vollständige "Lange Nacht der historischen Reden - Es gilt das gesprochene Wort" von Paul Stänner können Sie hier bis zum Ende des Jahres 2018 online hören.
    Diese Sendung ist Teil von "Große Reden", einem gemeinsamen Projekt des Deutschlandfunks mit ARTE.

    "Schon in der Antike, der Gründungszeit der Rhetorik, entwarfen Cicero und Quintilian den idealen Redner als einen vir bonus dicendi peritus, das heißt als einen redegewandten Ehrenmann, der von seiner Herkunft her ein adliger Mann war, der eine bestimmte Ausbildung genossen hat und der eine bestimmte Redepraxis hatte...und wenn all das zusammen kam, dann hatte man sozusagen das Material für einen guten Redner, für einen idealen Redner zusammen", sagt Lily Tonger-Erk, Germanistin an der Universität Tübingen. Sie ist Mitherausgeberin des Buches "Einspruch! Reden von Frauen", das 2011 erschienen ist.
    "Nicht rhetorikfähig dagegen waren Frauen, Sklaven und Kinder. In den antiken Rhetoriklehren wird mit einem Ausgrenzungsverfahren gearbeitet, was die männliche Rede als eine gute Rede darstellt und abgrenzt gegen Formen der nicht guten Rede, gegen die weibliche, weibische, effeminierte, kreischende, unfreie oder barbarische Rede."
    Elisabeth Selbert, geboren 1896, war promovierte Juristin. 1930 hatte sie ihren Doktortitel mit einer Arbeit über die Zerrüttung als Ehescheidungsgrund erworben, ein Thema, dass erst - je nach Rechnungsweise - eine oder zwei Generationen später Allgemeingut wurde. Selbert war in der Frauenbewegung groß geworden, ihr erster Versuch, für die SPD als Abgeordnete in den Reichstag zu gehen, wurde von der Machtergreifung der Nazis verhindert. 1948 gehörte sie mit drei anderen Frauen zu den so genannten "Müttern des Grundgesetzes" - denen 61 Väter zur Seite standen. Im Grundgesetz wurde, vor allem auf den Druck der "Mütter", der schlichte Satz verankert: "Männer und Frauen sind gleichberechtigt." Hierzu Germanistin Tonger-Erk:
    "Man kann die Radikalität dieses Absatzes im Grunde nur dann verstehen, wenn man es mit dem Vorhergehenden vergleicht. In der Weimarer Republik, und so wurde es auch für das neue Grundgesetz vorgeschlagen, hieß es nämlich, dass Männer und Frauen die gleichen staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten haben. Das heißt aber nicht, dass sie gleichberechtigt sind, sondern das heißt lediglich, dass Frauen das Recht haben zu wählen und gewählt zu werden. Aber im Familienrecht beispielsweise waren sie ja unmündig in vieler Hinsicht und insofern war jetzt dieser Satz so eindeutig 'Männer und Frauen sind gleichberechtigt' eine wirklich radikale Weichenstellung, die erst in der Zukunft in alle gesetzlichen Bereiche einfließen werden müsste."
    Gleichberechtigung als Weichenstellung - auch für die Rhetorik
    Im Januar 1949 hielt Elisabeth Selbert im Rundfunk eine Rede, in der sie auf die Bedeutung dieses doch eigentlich überschaubaren Satzes hinwies:
    "Meine verehrten Hörerinnen und Hörer, der gestrige Tag, an dem im Hauptausschuss des Parlamentarischen Rates in Bonn dank der Initiative der Sozialdemokraten die Gleichberechtigung der Frau in die Verfassung aufgenommen worden ist, dieser Tag war ein geschichtlicher Tag, eine Wende auf dem Wege der deutschen Frauen der Westzonen. Lächeln Sie nicht, es ist nicht falsches Pathos einer Frauenrechtlerin, das mich so sprechen lässt. Ich bin Jurist und unpathetisch und ich bin Frau und Mutter und zu frauenrechtlerischen Dingen gar nicht geeignet. Das Bürgerliche Gesetzbuch in seinen Tendenzen widerspricht in einer ganzen Reihe von Bestimmungen der Würde und der Wertigkeit einer persönlichkeitsbewussten Frau, die heute nicht mehr aus der Obhut und der Biedermeiersphäre eines guten Elternhauses, sondern aus dem harten Berufsleben heraus in die Ehe tritt und die in den langen Jahren und besonders in den letzten Jahren die ganze Härte des Lebens erfahren hat. Können Sie daher ermessen, was die Gleichberechtigung bedeutet und welches Empfinden der gestrige Tag gerade auch in mir ausgelöst hat?
    Mein Kampf im neuen staatlichen Leben und ganz besonders bei der Schaffung dieser Verfassung galt daher ganz bewusst der Reform des Familienrechtes und diese haben wir durch die neue Verfassung nunmehr ausgelöst. Dem neuen kommenden Bundestag wird die Verpflichtung auferlegt, bis zum Jahre 1953 - früher ist eine solche gesetzgeberische Reform nicht zu machen - die Gleichstellung der Frau zu verwirklichen und alle entgegenstehenden Bestimmungen aufzuheben. Mein Appell gilt den Frauen, die diese Zusammenhänge noch nicht gesehen haben, die politisch noch nicht erwacht sind, und eine große Aufgabe ist es für den kommenden Bundestag, auch für die Frauen, die Reform des Gesetzes mitzuerarbeiten. Die Frauen, die heute das Schwergewicht der Wählerschaft darstellen und im demokratischen Staat infolgedessen auch eine ganz besondere Verantwortung tragen, sie müssen mithelfen, eine große Zahl von weiblichen Abgeordneten muss im neuen Bundestage diese Reform durchführen mit der nötigen fraulichen Reife, mit dem klaren Blick für politische Zusammenhänge muss sie helfen, das Werk der Befreiung der Frau endgültig zu vollenden."
    Tonger-Erk erklärt zur Radiorede der SPD-Politikerin Selbert vom 19.01.1949 zur Gleichberechtigung der Frau, die am Tag zuvor in der von ihr vorgelegten Fassung in das Grundgesetz aufgenommen worden ist:
    "Elisabeth Selbert behauptet - und zwar in einem sehr pathetischen Satz - dass es ein historischer Tag, ein großer Tag für die Frauen, für die Nation, für die Menschheit ist, an dem dieser Satz so in das Grundgesetz geschrieben wurde, Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Und sie beharrt gleichzeitig, dass sie eben genau nicht Pathos einsetzt, sondern sie behauptet, dass sie ganz neutral redet als Jurist, als Frau, als Mutter."
    So einfach machte es sich die Bundesrepublik dann nicht: 1954 noch wurde regierungsamtlich festgestellt, dass die unverheiratete Frau gleich welchen Alters behördlicherseits als "Fräulein" einzustufen sei, es sei denn, sie habe sich durch einen wiederum behördlichen Antrag von dieser Pflicht befreien lassen.
    1958 wird das Letztentscheidungsrecht des Mannes in der Ehe gekippt, aber erst 1977 darf die Frau ohne Einverständnis des Mannes erwerbstätig sein und erst 1979 werden die väterlichen Vorrechte bei der Kindererziehung abgeschafft.
    Wendepunkt: Debatte um Abtreibungsparagrafen 218
    Am 25. April 1974 debattiert der Bundestag die Neufassung des Abtreibungsparagrafen 218. Schon in den 1920er-Jahren während der Weimarer Republik hatte es Bestrebungen gegeben, den Paragrafen aus dem Gesetzbuch von 1871 ersatzlos zu streichen oder wenigstens den Schwangerschaftsabbruch in den ersten drei Monaten straffrei zu machen. War damals vor allem die Not der einkommensschwachen Schichten das wesentliche Motiv, kam in den 1970er-Jahren die Selbstbestimmungsforderung der Frauenbewegung dazu - "Mein Bauch gehört mir", lautete die Losung. Anfang 1971 hatte das Magazin "Stern" mit dem Artikel "Ich habe abgetrieben", in dem 28 prominente Frauen ihren Schwangerschaftsabbruch öffentlich machten, eine breite Diskussion losgetreten. Als drei Jahre später der Bundestag mit der sozialliberalen Koalition in der Regierung zusammen trat, war das Klima durch lange Kontroversen bereits aufgeheizt. Alle Akteure standen unter dem Druck der Erwartungen der Öffentlichkeit. Die Bundestagsdebatte dauerte vom Morgen bis Mitternacht, zu den Rednern gehörte die SPD-Abgeordnete Marie Schlei:
    "Frau Präsident, verehrte Kolleginnen und Kollegen, zum zweiten Mal in der deutschen Parlamentsgeschichte setzen sich Sozialdemokraten mit ganzer Kraft für eine grundlegende Reform des Strafrechtsparagrafen 218 ein. Ihrem Antrag, den sie 1920 im deutschen Reichstag eingebracht hatten, war damals kein Erfolg beschieden. Jetzt aber erwarten wir, dass diese alte sozialdemokratische Forderung gemeinsam mit unserem Koalitionspartner verwirklicht werden kann. Die juristischen Grundkonzeptionen im strafrechtlichen Teil von damals und in dem von heute unterscheiden sich kaum voneinander. Hinsichtlich der Reformansätze jedoch bestehen fundamentale Unterschiede. War es vor 50 Jahren das Ziel, das Problem des Schwangerschaftsabbruchs im Strafrecht anzugehen, streben wir heute danach, die mit dem Elend der Schwangerschaftsabbrüche verflochtenen vielschichtigen Probleme im sozialen und zwischenmenschlichen Bereich zu lösen. Kein sozialdemokratischer Abgeordneter macht sich die erforderliche Gewissensentscheidung leicht, da hier in nahezu einmaliger Weise der schmale Grat zwischen Lebensschutz und Lebensbedrohung berührt wird. Auf demselben schmalen Grat fallen die Entscheidungen der Frauen, deren Schwangerschaft zu Konfliktsituationen führt."
    "Frau Kollegin, eine Sekunde bitte. Meine Damen und Herren, ich bitte um etwas mehr Ruhe, es ist sehr laut im Saal. Das macht es dem Redner sehr schwer."
    "Auf demselben schmalen Grat fallen die Entscheidugen der Frauen, deren Schwangerschaft zu Konfliktsituationen führt. Als Mutter von drei Kindern kann ich voll begreifen, was es heißen kann, wegen eines als unlösbar erscheinenden Konflikts auf das Glück der Mutterschaft verzichten zu müssen. Solche tragischen Entscheidungen trifft eine Frau schon immer in eigener Verantwortung, wenn auch bis jetzt unter dem unerträglichen Druck der Strafdrohung. Wir Sozialdemokraten wollen nicht, dass eine Mutterschaft nur wegen einer möglichen Bestrafung angenommen wird, auch um der Kinder willen wollen wir das nicht."
    Helga Wex sprach für die CDU:
    "Der Schutz des Lebens und des ungeborenen Lebens gehörte bislang zu den Grundwerten und Grundüberzeugungen, die ein Ansporn für alle in diesem Hause vertretenen Parteien waren, diesen Staat auszubauen und aufzubauen, um den Bürgern ein Leben ohne Furcht und ohne wirtschaftliche Not zu ermöglichen. Wenn diese Grundüberzeugungen mit der Änderung des Paragrafen 218 zum ersten Mal seit Bestehen der Bundesrepublik in die Gefahr geraten, durchlöchert zu werden, dann bedeutet dies eine Kapitulation vor der wichtigsten Aufgabe des Staates, die Schwächsten und Schwachen dieser Gesellschaft zu schützen, und ich möchte Sie noch einmal mit allem Ernst fragen: Wer ist in unserer Gesellschaft wohl am schwächsten? Oder schwächer als das ungeborene Kind? Diese Antwort konnte bisher noch kein Vertreter der Fristenlösung schlüssig beantworten. Stattdessen hat gerade die Diskussion um eine Änderung des Paragrafen 218 eine erstaunliche Umdeutung und Fehldeutung von Begriffen gebracht. Eines der am meisten angeführten Argumente berief sich auf die Emanzipation, die Fristenlösung müsse eingeführt werden, um das Recht der Frau auf eigene Entfaltung zu gewährleisten. Ihrer Entscheidung müsse es unterliegen, ob und wann sie ein Kind haben wollen.
    Wir dürfen bei dieser Debatte doch nicht so tun, als seien Schwangerschaften heute einzig und allein von einer schicksalhaften Fügung abhängig. Hier gibt es doch Mittel für die Planung genug. Woran es fehlt, ist die großangelegte Beratung über den Gebrauch dieser Mittel, aber auch die beste Aufklärung über Verhütungsmittel wird nicht alle unerwünschten Schwangerschaften verhindern können. Darüber besteht ja gar kein Zweifel. Ich halte es aber für einen ganz zweifelhaften Interpretationsversuch von Emanzipation, wenn einer in Not geratenen Frau oder einem jungen Mädchen allein etwa nun die Entscheidung aufgebürdet werden soll, ob diese Schwangerschaft ausgetragen oder unterbrochen werden soll. Dies ist kein Beweis vor der Achtung der freien Entscheidungsfähigkeit der Frau, sondern eine Flucht vor der Verantwortung, dieser Frau in der notwendigen Weise zu helfen, denn wer will denn ernsthaft behaupten, dass eine solche Entscheidung in voller Freiheit gefällt wird. Ist es nicht so, dass gerade in diesen Fällen die Umwelt die kinderfeindlichen Seiten hat, das Drängen oder oftmals sogar die Erpressung des Freundes oder des Mannes eine entscheidende Rolle spielt? Gründe, die übrigens auch bereits schon heute einen großen Teil der Frauen zum illegalen Schwangerschaftsabbruch treiben."
    Erst am folgenden Tag, am 26. April, kam es nach der dritten Lesung zur Endabstimmung. Zwar beschworen Redner von Regierung und Opposition immer wieder Gemeinsames und bemühten sich um Sachlichkeit, doch waren die Divergenzen, die oft auch durch die Fraktionen liefen, kaum zu überbrücken. Das verabschiedete Gesetz legalisiert den Schwangerschaftsabbruch innerhalb der ersten drei Monate nach der Empfängnis, vorausgesetzt, die Schwangere hat sich zuvor einer Beratung durch einen Arzt unterzogen. Gegen diese Regelung wird geklagt und schon nach sieben Wochen wird die sogenannte Fristenlösung für den Schwangerschaftsabbruch durch eine einstweilige Verfügung des Bundesverfassungsgerichts ausgesetzt.
    Neuer Stil mit den Grünen
    Bei den Bundestagswahlen 1983 schaffen die Grünen den Sprung in den Bundestag. Mit der neuen Partei kommt ein neuer Politikstil, der für die alteingesessenen Parteien sehr gewöhnungsbedürftig ist. Vor allem, als die grüne Abgeordnete Waltraud Schoppe zu den ohnehin kontroversen Themen Paragraf 218 und Strafbarkeit von Vergewaltigung in der Ehe das Wort ergreift, kommt es zu heftigen Abstoßungsreaktionen in der konservativen Fraktion. Eine Bonner Korrespondentin will nach der Rede gehört haben, die Abgeordnete Schoppe sei mit dem Satz bedroht worden: "Du bist eine Hexe. Früher wärst du verbrannt worden." Waltraud Schoppe erklärte dazu:
    "Ich möchte kurz etwas zu gestern Abend sagen, verehrte Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde, gestern Abend ist hier in unqualifizierter Weise gepöbelt worden. Sie haben…Sie müssen noch an sich arbeiten, meine Herren, damit die Würde dieses Hauses nicht ganz auf den Hund kommt. Die Diskussion um den Paragrafen 218 ist neu aufgebrochen. Dieser Paragraf, der unter bestimmten Voraussetzungen der Frau den Abbruch einer Schwangerschaft ermöglicht, hat das Leiden, das der Abbruch mit sich bringt, nicht verringern können. Dieser Paragraf hat Frauen, die in Not geraten sind, gedemütigt und hat sie der Willkür männlicher Fachleute ausgesetzt. Gerade Frauen aus ökonomisch schlechten Verhältnissen, wenn sie zum Beispiel schon drei Kinder haben und das Geld knapp ist und das vierte deswegen nicht mehr kriegen können, die durch Schwangerschaft und Geburt eines Kindes also in noch größere Schwierigkeiten gelangen würden, war es durch die Kostenregelung immerhin möglich, eine Abtreibung vornehmen zu lassen.
    Frauen in ökonomisch guten Verhältnissen oder solche, die an einen Mann geraten sind, der sich manches einiges kosten lässt, haben ja schon immer Schwangerschaftsabbrüche vornehmen lassen bei ausreichender ärztlicher Versorgung. Wenn jetzt, wo es in der Diskussion ist, die Kosten der sozialen Indikation nicht mehr übernommen werden sollen, so bedeutet dies eine enorme Verschärfung des Paragrafen 218 und die Festschreibung sozialer Ungerechtigkeiten. Es ist anzunehmen, dass die Aufhebung der Straffreiheit bei sozialer Indikation der nächste Schritt sein wird und sukzessive die Möglichkeiten des legalen Abbruchs überhaupt verschwinden. Ein Schwangerschaftsabbruch ist für eine Frau ein schwerer Konflikt und nicht eine Art der Empfängnisverhütung. Gleichwohl gibt es Situationen, in denen die Frau den Abbruch als einzigen Ausweg sieht. Bei der Politik von Sozialabbau werden diese Notsituationen zunehmen. Dann nützt es nichts, ein großspuriges Programm zum Schutze des ungeborenen Lebens zu propagieren, wenn ein großer Teil der jetzt Lebenden schon heute nicht ausreichend versorgt ist. Am Besten schützt man die Ungeborenen, indem man die Lebenden schützt."
    "Alltäglicher Sexismus" - Schoppes Angriff auf Parlamentarier
    "Wir bewegen uns in einer Gesellschaft, die Lebensverhältnisse normiert auf Einheitsmoden, Einheitswohnungen, Einheitsmeinungen, auch auf eine Einheitsmoral, was dazu geführt hat, dass sich Menschen abends hinlegen und vor dem Einschlafen eine Einheitsübung vollführen, wobei der Mann meist eine fahrlässige Penetration durchführt. Fahrlässig, denn die meisten Männer ergreifen keine Maßnahmen zur Schwangerschaftsverhütung. Die Männer sind gleichwertig an der Entstehung einer Schwangerschaft beteiligt, dennoch entziehen sie sich ihrer Verantwortung. Mit Strafe bedroht sind bei einem Abbruch nur die Frauen. Erst später greifen Männer als Hüter der Moral wieder ein, indem sie Strafgesetze aufstellen, indem sie als Kirchenfürsten gegen den Abbruch wettern, indem sie als Ärzte je nach moralischer und politischer Überzeugung den Frauen helfen oder sie demütigen. Am Ende einer Schwangerschaft steht die Geburt und das bedeutet eine Verantwortung und Sorge für einen Menschen für die nächsten 18 bis 20 Jahre. Die Wahrscheinlichkeit, geschieden zu werden, liegt heute bei 25 bis 30 von 100 der Ehen. Nach einer Trennung bleiben die Kinder meist bei den Müttern.
    Aber auch wenn die Ehe bestehen bleibt, die Erziehungsarbeit wird oft aufgrund der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung von den Frauen geleistet. Das bedeutet die Zurücknahme von vielen anderen Wünschen und Möglichkeiten für die Frau wie zum Beispiel Berufsarbeit, Weiterbildung, freie Zeit für sich selbst, Mitwirkung an politischer Arbeit. So ist die biologische Fähigkeit, ein Kind zu gebären, für die Frau noch immer zu einem sozialen Schicksal geworden. Die Unterdrückung der Frau kann nur aufgehoben werden, wenn die geschlechtsspezifische Arbeit aufgehoben wird. Es gibt bei den Grünen eine Mehrheit, zu der auch ich gehöre, die die ersatzlose Streichung des Paragrafen 218 fordert und sich damit hinter die Forderung der Frauenbewegung stellt. Wenn eine Frau ungewollt schwanger wird, muss sie selbst entscheiden können, ob sie ein Kind möchte oder nicht. Die Schwangerschaftsunterbrechung kann als eine Frage der moralischen Einstellung und der persönlichen Lebensumstände nicht Gegenstand juristischer Verfolgung sein. Auch bei der Legalisierung der Abtreibung bleibt ein ethischer Konflikt und eine moralische Frage, die ausgetragen werden müssen."
    Zu Schoppes Rede bemerkt Tonger-Erk:
    "Es gelingt Waltraud Schoppe, ein absolutes Randthema durch diese Provokation ins Gespräch zu bringen und mit diesem Randthema eine immense Aufmerksamkeit zu erregen. Nicht jede Rede will ja Konsens erzeugen, im Gegenteil kann es ja manchmal ein großer Erfolg einer Rede sein, das Publikum aufzumischen. Und genau das gelingt Schoppe, indem sie einen personalisierten Angriff gegen die Parlamentarier fährt, indem sie den Parlamentariern im Grunde ja vorwirft, selber am alltäglichen Sexismus beteiligt zu sein."
    Waltraud Schoppe fuhr fort:
    "In dieser von Konsumgütern überschwemmten Gesellschaft fordern wir ökonomische Sicherheit für alle Frauen unabhängig von der Versorgung in der Ehe. Wir fordern eine ausreichende Rente gerade für Frauen, auch wenn sie keine Lohnarbeit geleistet haben, weil es keine Lohnarbeit für sie gab. Wir fordern die Bestrafung bei Vergewaltigung in der Ehe. Wir fordern Sie auf, endlich zur Kenntnis zu nehmen, dass auch die Frauen ein Selbstbestimmungsrecht haben über ihren Körper und ihr Leben. Wir fordern Sie alle auf, den alltäglichen Sexismus hier im Parlament einzustellen. Ich merke, ich habe das Richtige gesagt, Sie sind getroffen!"
    Hierzu bemerkt Tonger-Erk:
    "Ich glaube, ihr Zielpublikum saß in der Tat zunächst einmal im Parlament. Ich glaube, es war notwendig, dieses Parlament aufzurütteln und eine neue politische Kultur auch einzuführen. Das ist ja etwas, das die Grünen durchaus auch wollten mit ihrem Einzug im Parlament, etwas, das sie auch deutlich gemacht haben durch die Art und Weise ihres Auftretens und sie hat sich sicherlich an ihre eigenen Reihen gewandt, von denen sie ja durchaus die ganze Zeit Beifall erhält. Sie hat sich aber auch gegen die gegnerische Seite, also die CDU/CSU, die ja wild grölend auf diese Rede tatsächlich am Ende reagieren, gewandt, um die aufzurütteln, und sie hat dann dadurch, dass die Reaktion im Bundestag so extrem war, natürlich über den Bundestag hinaus ein großes Publikum erreicht."
    Rhetorik als männliche Kunst
    Ein weiterer Auszug aus Schoppes Rede:
    "Mit der Ausgrenzung der Frauen aus dem Bereich Arbeit, Politik und Kultur beraubt sich die Gesellschaft eines Moments von Kreativität. Wir, Herr Kanzler, betrachten Ihre Politik der Erneuerung mit Grausen. Wir fordern Maßnahmen, die es Frauen ermöglichen, sich selbst entscheiden zu können, wie sie ihr Leben gestalten wollen. Dazu gehört auch die Entscheidung, ob sie ein Kind möchte oder nicht. Anstatt die Frauen mit der Verschärfung des Paragrafen 218 unter Druck zu setzen, sollte einmal darüber nachgedacht werden, wie Schwangerschaftsverhütung betrieben werden könnte. Eine wirkliche Wende wäre es, wenn hier oben zum Beispiel ein Kanzler stehen würde und die Menschen darauf hinweisen würde, dass es Formen des Liebesspieles gibt, die lustvoll sind und die die Möglichkeit einer Schwangerschaft gänzlich ausschließen. Aber man kann natürlich nur über das reden, wovon man wenigstens ein bisschen versteht. Im Ernst würde ich mit dem Kanzler nie darüber reden wollen. Wer durch seine Politik Umwelt zerstört und Menschenfeindliches initiiert, hat die Chance verspielt, in das Gespräch über Sinnlichkeit einbezogen zu werden."
    Rhetorik-Expertin Tonger-Erk ordnet dies so ein:
    "Auf die Frage, ob Frauen anders als Männer reden, antworte ich erst einmal ganz kategorisch mit 'Nein'. Frauen reden nicht anders als Männer und ganz sicher gibt es keine biologische Differenz zwischen Männern und Frauen, die eine solche unterschiedliche Redeweise bedingen würde. Allerdings ist die Frage, ob Frauen auch auf die gleiche Art und Weise Gehör finden wie Männer. Und die Frage ist also weniger: Reden Frauen anders als Männer? Sondern vielmehr: Werden sie unterschiedlich wahrgenommen? Und das liegt meiner Meinung nach an der kulturhistorischen Entwicklung der Rhetorik, das liegt eben daran, dass die Rhetorik seit ihren Anfängen in der Antike eine männliche Kunst ist, die ganz spezifisch und dezidiert auf den männlichen Redner ausgerichtet ist. Und das ist ein Rednerideal, mit dem sich Frauen auch heute noch auseinandersetzen müssen."