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Richard Ford: "Zwischen ihnen"
Ein schmaler Band, aber ein großes Buch

Keinen großen Roman hat Richard Ford diesmal vorgelegt. Stattdessen zwei schmale Essays, die seine 1960 und 1981 verstorbenen Eltern Parker und Edna porträtieren: Fords einfühlsamer Text "Zwischen ihnen" denkt klug darüber nach, was Kinder mit ihren Eltern verbindet.

Von Rainer Moritz | 01.10.2017
    Der US-Schriftsteller Richard Ford im Oktober 2016 in Oviedo in Spanien vor der Verleihung des Prinzessin-von-Asturien-Preis für Geisteswissenschaften und Literatur
    Der US-Schriftsteller Richard Ford im Oktober 2016 in Oviedo in Spanien vor der Verleihung des Prinzessin-von-Asturien-Preises für Geisteswissenschaften und Literatur (imago/ZUMA Press)
    Wie vom Sterben des eigenen Vaters erzählen? Wie damit zurechtkommen, dass alle Versuche, den Vater im Hier und Jetzt zu behalten, scheiterten? Wie Worte finden für einen Todeskampf, den man selbst hautnah miterlebte? Richard Ford geht in seinem neuen Buch dieses Wagnis ein und beschreibt, ohne sich zu schonen, was in jener Februarnacht des Jahres 1960 geschah, als er – wenige Tage nach seinem sechzehnten Geburtstag – von einem Aufschrei seiner Mutter geweckt wurde:
    "Ich stand auf, trat im Schlafanzug in den Flur und an die Tür des nächsten Zimmers, das seines war. Meine Mutter beugte sich über das Bett, über ihn. Mein Vater lag da und rang nach Luft. Seine Augen waren geschlossen. Er rührte sich nicht, keuchte nur. Er sah grau aus, seine Haut. 'Wach auf!', sagte meine Mutter beharrlich, aber anders. 'Carrol, wach auf.' Sie hielt ihn bei den Schultern, legte ihr Gesicht an seins und schüttelte ihn. Aber er rührte sich nicht. 'Richard, was hat er?', sagte sie, drehte sich um, sah mich an. Sie stand kurz vor den Tränen, am Rande des Ungeheuerlichen und wurde langsam panisch.
    Ich weiß nicht, ob ich 'Ich weiß nicht' antwortete. Aber ich trat näher, setzte mich auf sein Bett, legte meine Hände um die Schultern meines Vaters und schüttelte ihn. Heftig. Nicht so stark, wie ich gekonnt hätte, aber heftig. Mehrere Male sagte ich seinen Namen – Daddy. Er holte tief Luft und atmete mühevoll aus – das brachte seine Lippen zum Flattern, als versuchte er zu atmen (aber ich glaube, da war er eigentlich schon tot). Mit beiden Händen hielt ich sein Gesicht nach oben, mit den Daumen drückte ich seinen lockeren, fleischigen Mund auf, seine Zähne, und ich hielt meinen Mund über seinen und atmete in ihn, in Mund und Hals hinein, in seinen Brustkorb (wie ich mir einbildete). Ich wusste nicht, wie das ging oder ob es überhaupt sinnvoll war. Ich hatte nur gehört, dass so was gemacht wurde. Und ich machte es mehrmals, bestimmt zehn Mal. Das Ergebnis meiner Bemühungen, für ihn zu atmen, meinen Atem zu ihm zu bringen und ihn aufzuwecken, damit er weiterlebte, war gleich null. Er atmete nicht mehr und gab auch keinen Laut mehr von sich."
    Wie hängen Erinnertes und Vergessenes zusammen?
    Der verzweifelte, hilflos-unsichere Versuch des jungen Richard Ford, seinem Vater – einem Mannes von gerade mal 55 Jahren – das Leben zu retten, gehört zu den Passagen, die den ersten Teil des Buches beschließen. "Zwischen ihnen" fasst zwei Essays zusammen, die im amerikanischen Original die Unterzeile "Remembering My Parents" tragen. Entstanden sind sie im Abstand von fast dreißig Jahren, Anfang der Sechzigerjahre, nach dem Tod des Vaters Parker, und Ende der Achtzigerjahre, nach dem Tod der Mutter Edna. Ford reiht sie nun aneinander, bewusst in Kauf nehmend, dass sich einzelne biografische Angaben und Episoden wiederholen. Er führt damit eine lange Tradition von autobiografischen Auseinandersetzungen fort, die um das Verhältnis von Eltern und Kindern kreisen und die schmerzhafte Verluste literarisch festhalten wollen.
    Richard Ford ist ein zurückhaltender Erzähler, der fixieren will, was diese Familie ausgemacht hat, worin ihre Eigentümlichkeiten lagen und was ihn mit Vater und Mutter verband. Er tut dies tastend, mit zarter Vorsicht, ganz so, als täte er Parker und Edna Ford unrecht, wenn er sich ihnen mit der auftrumpfenden Geste eines Sohnes näherte, der im Nachhinein die biografischen Bausteine genau zu interpretieren weiß. Nein, Ford sammelt, was seine Erinnerung aufbewahrt hat, betrachtet alte Fotos und versucht zuerst einmal die äußere Erscheinung seines Vaters nachzuzeichnen:
    "Mein Vater, Parker Ford, ist ein großer Mann – weich, wuchtiges Aussehen, breit lächelnd, als hätte er gerade einen guten Witz im Sinn. Er ist freudig erregt darüber, zu Hause zu sein, und schnuppert voller Vorfreude. Seine blauen Augen funkeln. Meine Mutter steht neben ihm, erleichtert, dass er wieder da ist, beschwingt und glücklich. Er breitet die Pakete auf der metallenen Tischplatte in der Küche aus, damit wir schon mal sehen, was wir gleich essen werden."
    Es ist die Szene einer Ankunft, die Richard Ford hier beschreibt, eines Rituals, das sich im Leben der Familie über viele Jahre wiederholen sollte. Die Eltern lernten sich in jungen Jahren kennen, 1928 heirateten sie alsbald und führten anfangs eine alles andere als konventionelle Ehe. Denn Parker Ford fand – nachdem er zuvor als "Obst-und-Gemüse-Mann" in einem Lebensmittelgeschäft gearbeitet hatte – seine berufliche Bestimmung als Handlungsreisender. Knapp dreißig Jahre, bis zu seinem Tod, steht er im Dienst der Firma Faultless aus Kansas City. Er bereist mehrere Südstaaten der USA, sucht Lebensmittelgroßhändler auf, um diese von der Qualität der unvergleichlichen Faultless-Wäschestärke zu überzeugen. Parker Ford hat ein großes Reisegebiet zu bewirtschaften, und er tut dies offenkundig mit respektablem Erfolg. Die Umsätze stimmen, der Spritverbrauch seines Wagens, eines Ford Tudor, liegt unter dem seiner Kollegen, und zeitlebens werden sich die Fords etwas darauf zugutehalten, selbst in den Jahren der Großen Depression ihr Auskommen gehabt zu haben.
    Ein bürgerlich "normales" Eheleben führen die beiden in dieser Zeit nicht. Die junge Edna denkt nicht daran, auf die Wochenendheimkehr ihres Mannes zu warten. Von ihrem Wohnsitz in Little Rock, Arkansas, aus, gehen sie in ihrem bescheidenen Automobil gemeinsam auf Tour, wenn "Daddy" Parker die ihm anvertrauten Produkte an die Kundschaft zu bringen versucht, und führen ein abenteuerliches Hotelleben. Dieses ändert sich erst, als ihr langgehegter Kinderwunsch überraschenderweise doch noch in Erfüllung geht. Sie werden – wie sie es empfinden – "späte" Eltern, was Mutter Edna dazu zwingt, das gemeinsame Reisen aufzugeben. Man zieht in das zentral gelegene Jackson um, und auch für ihren Mann nimmt das Leben plötzlich andere Formen an:
    "Und wie war es für ihn? Fahren, allein fahren? In diesen Hotelzimmern zu sitzen, in Hotelfoyers, seltsame Zeitungen im Schummerlicht zu lesen; abends rauchend durch die Straßen zu spazieren? Mit irgendeinem Mann zu Abend zu essen, den er vom Herumreisen kannte? Radio zu hören im Summen und Wischen eines flappenden Ventilators; dann früh schlafen zu gehen, zu den Geräuschen von Heuschrecken und Rangierbahnhöfen, zuknallenden Autotüren und wieder Stimmen auf der Straße, die in die Nacht hinauslachten. Wie fühlte sich das an, auf diese Weise Vater zu sein – mit einer Frau, einem gemieteten Haus in einer Stadt, wo sie praktisch niemanden kannten und keine Freunde hatten, und nur am Wochenende nach Hause zu kommen, als wäre es ein Zuhause?"
    Das konnte nur merkwürdig sein. Aber vielleicht fühlte er sich auch zum ersten Mal kompetent. Unabhängig. Endlich bereit fürs Leben. Fast vierzig.
    Was darf ein autobiografischer Text erfinden?
    So nähert sich Richard Ford der Gedanken- und Gefühlswelt seines Vaters. Er stellt sich selbst Fragen, gibt nicht vor, über jede innere Regung der Porträtierten Bescheid zu wissen. "Zwischen ihnen" ist so ein Buch, das auf jeder Seite die ästhetischen Implikationen dessen mitbedenkt, was Erinnerung ausmacht, was Dichtung und Wahrheit im Schreiben über die eigene Familie bedeutet. Ford will keinen groß angelegten epischen Bericht vorlegen, keinen autobiografischen Roman, der zu Ausschmückungen und Spekulationen neigt und vorgibt, es sei ein Leichtes, sich in die Gehirnwindungen des Vaters und der Mutter hineinzugraben. "Es wäre unrecht", schreibt Ford über seinen Vater, "wenn ich ihm etwas zuschreiben würde, was ich gar nicht weiß." Ein "Ausdruck von Respekt" sei es, anzuerkennen, "dass man nicht alles weiß".
    Um die erzählerische Besonderheit von "Zwischen ihnen" besser einschätzen zu können, lohnt es sich, einen Blick auf Fords letzten Roman "Kanada" aus dem Jahr 2012 zu werfen. Auch dort blickt ein Mann auf seine Kindheit, auf seine Eltern zurück. Wo im autobiografischen Erinnerungsstück die behütete Jugendzeit durch den frühen Tod des Vaters beeinträchtigt wird, kommt Dell, Fords 15-jähriger Protagonist in "Kanada", nicht umhin, die komplette Zerstörung seiner Familie zu akzeptieren. Die Eltern werden über Nacht zu Bankräubern, landen im Gefängnis. Dell und seine Schwester sind auf sich allein zurückgeworfen, und nur weil eine Freundin der Mutter ihm hilft, gelingt es Dell, in der kanadischen Prärie unterzuschlüpfen. Wo Ford in "Kanada" mit allen epischen Mitteln, die Geschehnisse plastisch veranschaulicht und Spannung aufbaut, beschränkt sich "Zwischen ihnen" auf einen lapidaren Ton, der bewusst Zurückhaltung übt und nicht auf dramatische Effekte setzt. Autobiografisches Schreiben, das es ernst meint, unterscheidet sich von rein fiktionalem Schreiben auf dieser Ebene elementar.
    Natürlich bedeutet das nicht, dass Ford keine Anstrengungen unternimmt, seinen Lesern die Wesenszüge seines im Lauf der Jahre immer korpulenter werdenden Vaters nahezubringen. Er erlebt ihn als meist abwesenden Mann, der trotzdem seine Vaterrolle gut ausfüllen will, handwerklich von größtem Ungeschick ist, beispielsweise daran scheitert, einen Boxsack anzubringen, mit der Religion und der Literatur nichts am Hut hat und stets nach vorne schaut, sich nicht mit Erinnerungen aufhält. Auch als Parker Ford 1948 überraschend einen Herzanfall erleidet und das Familienfundament ins Wanken gerät, lebt er so, "als gäbe es immer ein Morgen" – bis zu "dem Augenblick, als es keines mehr gab".
    Die Ehe der Eltern selbst scheint nie schwerwiegende Erschütterungen erfahren zu haben. Sie bleiben eng aufeinander bezogen und brauchen auch die Existenz ihres Sohnes nicht, um ihrer Liebe gewiss zu sein. Darauf deutet der Titel des Buches "Between Them" – "Zwischen ihnen" hin. Richard Ford führt das im Nachwort eigens aus:
    "Wenn ich nach meiner Kindheit gefragt werde, sage ich immer, dass sie wunderbar war, dass ich wunderbare Eltern hatte. Daran hat sich durch dieses Buch nichts geändert. Mir ist allerdings klargeworden, dass innerhalb des Bannkreises von "wunderbar" alles, was besonders vertraut, bedeutsam, befriedigend und für meine beiden Eltern unabdingbar war, sich fast ausschließlich zwischen ihnen abspielte. Dieser Erkenntnis ins Auge zu blicken hat für einen Sohn nichts Unglückliches. In mancherlei Hinsicht ist es ermutigend, denn in dem Wissen darum liegt für mich ein hoffnungsvolles Geheimnis des Lebens bewahrt – die Verheißung, dass selbst bei größter Aufmerksamkeit vieles geschieht, was wir nicht begreifen."
    Über die Mutter schreiben, nachdem der Tod des Vaters alles verändert
    Parker Ford stirbt, wie gesagt, früh, als ein Mann von Mitte fünfzig. Der zweite Teil des Buches, der die Mutter Edna ins Zentrum rückt, schlägt so zwangsläufig einen anderen Ton an, wenngleich Ford natürlich auch versucht, die Herkunft seiner Mutter und ihre Eigenarten zu beschreiben. Edna ist eine schöne, selbstbewusste Frau, die es klaglos erträgt, dass sie die Erziehungsaufgaben fast allein zu bewältigen hat. Die Geburt des Sohnes wird als selbstverständlich erachtet, als eine Herausforderung, der man sich zu stellen hat. Denn auch Edna interessiert, wie es heißt, der "psychologische Blickwinkel auf das Leben" ebenso wenig "wie der historische". Nachzuforschen, was von dieser oder jener biografischen Wendung zu halten sei, kommt ihr nicht in den Sinn. Edna Ford, so zumindest der nachträgliche Eindruck des Sohnes, scheint sich weder nach größerer beruflicher Selbstverwirklichung noch nach einem generell aktiveren Leben gesehnt zu haben.
    All dies ändert sich mit dem frühen Tod ihres Mannes grundlegend. Von heute auf morgen ist Edna gezwungen, sich um die Finanzen zu kümmern und sich einen Job zu suchen. Mit ihrem Sohn, der gelegentlich mit der Polizei in Konflikt gerät, trifft sie eine klare Übereinkunft, wie ihr gemeinsames Leben ohne den geliebten Mann und Vater auszusehen hat. Probleme werden nicht unter den Tisch gekehrt, doch für sie gibt es ein Allheilmittel, das Richard Ford auf berührend schöne Weise im Rückblick benennt:
    "Das Leben meiner Mutter zu betrachten ist ein Akt der Liebe. Meine unvollständige Erinnerung an ihr Leben sollte nicht mit unvollständiger Liebe verwechselt werden. Ich liebte meine Mutter, wie es ein glückliches Kind tut, ohne nachzudenken und ohne zu zweifeln. Und als ich erwachsen wurde, als wir beide Erwachsene waren, die einander kannten, betrachteten wir uns voller Hochachtung. Wir konnten, wenn wir Komplikationen klären wollten, ohne uns lange damit aufzuhalten, immer sagen 'ich hab dich lieb'. Das kommt mir heute so ideal vor wie damals."
    Einander diese Liebe direkt zu zeigen, das gelingt beiden wohl oder übel in den folgenden Jahren immer seltener. Denn 1962 nimmt Richard ein Studium am Michigan State College auf, und räumliche Trennungen werden das Leben von Mutter und Sohn in den folgenden knapp zwanzig Jahren bestimmen. Richard, der 1968 seine Frau Kristina heiratet, tut sich schwer, beruflich unterzukommen; die Begegnungen bleiben intensiv, werden aber seltener. Seine Mutter nicht mehr um sich zu haben, ihr nicht beistehen zu können, das erzeugt ein latentes Gefühl des Ungenügens. "Nie ganz richtig" habe es sich in der Zeit angefühlt, kein Alltagsleben mit der Mutter zu teilen. Ihr beider Leben wird sich, so die leise Klage, nie mehr vervollständigen, so wie es vor dem Tod des Vaters gewesen war. Diese "Unvollkommenheit" durchzieht alles und lässt die Mutter insgeheim leiden – wie sehr, das zeigt eine kleine Episode, die Edna Ford ihrem Sohn nicht vorenthielt:
    "Deshalb weinte sie jedes Mal, wenn sie sich wieder und wieder und wieder von mir verabschieden musste. Und zwar aus genau diesem Grund. Weil das, was wir gemeinsam erlebt hatten, weitgehend alles war. Und weil es nicht genug war. Nicht genug Erfüllung, unterm Strich. Sie erzählte mir, dass eine neue Bekannte sie einmal im Aufzug ihres Wohnhauses gefragt hatte: 'Haben Sie Kinder, Mrs. Ford?' Und ohne nachzudenken, hatte sie geantwortet: 'Nein.' Und dann hatte sie gedacht: Um Himmels willen, nein. Natürlich habe ich ein Kind. Richard."
    Das Gesagte rückgängig machen wollen
    Richard Ford erzählt von diesen unterschwelligen Verletzungen, ohne jemals an der gegenseitigen Zuneigung zu zweifeln. Als die Mutter 1973 eine Brustkrebsdiagnose erhält, spüren beide, dass der Tod "beginnt, lange Zeit bevor er wirklich da ist". Fortan leben Mutter und Sohn von Diagnose zu Diagnose, wechseln sich Sorge und Zuversicht ab. Doch die Freude des Überlebens bleibt von der bangen Gewissheit überschattet, "dass man nicht überleben kann". Edna Ford scheint keine Frau gewesen zu sein, die offen nach größerer Unterstützung durch ihren Sohn, nach größerer Nähe strebte. Ihr Pragmatismus lässt sie ein Arrangement mit dem Gegebenen finden. Für übergroße Sentimentalitäten war in ihrem Leben nie Platz, und so teilt sie dem Sohn, der seine Hilfe anbietet, lapidar mit: "Konzentrier dich auf dein Leben, und lass meins in Ruhe. Ich kann mich selbst kümmern."
    Trotz dieser Übereinkunft spitzt sich die Situation in Ednas letztem Lebensjahr zu, und Richard Ford, der sich in diesem Text so zurückhaltend an seine Mutter erinnert, kommt nicht umhin, sich ein nicht wiedergutzumachendes Versäumnis einzugestehen. Als die Zweifel wachsen, ob Edna weiter in der Lage sein wird, sich allein zu versorgen, schlägt ihr Sohn ihr vor, zu ihm nach Princeton zu ziehen. Ihre Augen beginnen zu leuchten, doch ein kleiner Nachsatz macht alles zunichte, ein Satz, den Richard Ford zu gern rückgängig machen würde.
    "Bist du dir da sicher?", fragte sie und sah mich unsicher an. Sie hatte sehr braune Augen.
    "Ja", sagte ich, "ganz sicher. Du bist meine Mutter. Ich hab dich lieb."
    "Na", sagte sie und nickte, atmete ein, atmete aus. Keine Tränen. "Dann denke ich also in diese Richtung. Was meine Möbel betrifft, mache ich schon mal Pläne."
    "Ja, aber warte erst mal", sagte ich. Und diesen Satz, mehr als alle anderen Sätze, die ich je gesagt habe, würde ich so gern zurücknehmen. Hätte ich diese Worte nur nie gesagt, nie gehört. "Mach noch keine Pläne", sagte ich. "Vielleicht geht es dir bis dahin wieder besser. Vielleicht musst du ja gar nicht nach Princeton kommen."
    "Oh", sagte meine Mutter. Und was immer plötzlich ein Licht in ihre Augen gebracht hatte, verschwand ebenso plötzlich wieder. Und ihre Sorgen setzten wieder ein. Was zwischen jetzt und später liegen mochte, erhob wieder sein Haupt. "Ich verstehe", sagte sie. "Ist gut."
    Ich hätte das nicht zu sagen brauchen. Ich hätte sagen können: "Ja, mach deine Pläne. Egal, wie sich alles entwickelt, es wird gut. Ich kümmere mich darum."
    Eine Poetik des Erinnerns
    "Ja, aber warte erst mal" – das ist die fatale, leichthin geäußerte Aufforderung, die die Mutter in diesem Moment nicht hören will. Sie widerspricht nicht, sie begehrt nicht auf – ganz wie es ihre Art ist. Edna Ford wird nie nach Princeton kommen, wird nie bei ihrem Sohn und ihrer Schwiegertochter leben. Wenige Wochen später stirbt sie im Krankenhaus von Little Rock. "Als Tote habe ich sie nie gesehen. Das wollte ich nicht", schreibt Richard Ford.

    "Zwischen ihnen", das Frank Heibert mit aller gebotenen Sorgfalt übersetzt hat, ist eine Schatztruhe kluger, menschenfreundlicher Betrachtungen, die nie den Eindruck erwecken, als wollte ein nostalgischer Blick die Eltern verklären. Es erzählt vom Verlust, vom Gefühl, nicht immer das Richtige im richtigen Moment gesagt zu haben, und von der Sehnsucht, die Stimme des Vaters, die man schmerzlicherweise nicht mehr im Ohr hat, noch einmal zu hören. Und "Zwischen ihnen" ist darüber hinaus ein Lehrstück dessen, was Erinnerung leisten, wie diese die Sicht auf das Leben generell verändern kann. Denn Fords "Memoir" über seine Eltern fördert die Erkenntnis, dass Selbstwahrnehmung nicht ohne Fremdwahrnehmung möglich ist, dass akribische Selbstwahrnehmung das Tor öffnet, um die Welt besser zu verstehen.
    Als eine Nachbarin den kleinen Richard nach seinem Namen fragt, merkt sie an: "Ach ja. Deine Mutter ist die niedliche kleine Schwarzhaarige von weiter oben" – eine harmlose Äußerung, und doch eine, die dem Sohn zeigt, dass seine Mutter nicht nur von ihm wahrgenommen wird, dass sie eine öffentliche Person ist, dass auch andere sich von ihr ein Bild machen. Und so gerät diese Begegnung zum Lehrstück, ja letztlich erwächst aus ihr eine kleine Poetik des autobiografischen Schreibens:
    "Ich glaube, von da an konnte ich gar nicht mehr anders mit ihr umgehen oder sie mir vorstellen als in dem Bewusstsein, dass sie Edna Ford war: meine Mutter und zugleich jemand anders.
    Diese Lektion lernt man natürlich am besten früh – niedlich, klein, schwarzhaarig, eins vierundsechzig –, weil das umfassende Kennenlernen unserer Eltern zu den größten Herausforderungen für uns alle gehört – vorausgesetzt, sie leben lang genug und es ist lohnenswert, sie kennenzulernen, und überhaupt physisch möglich. Je umfassender der Blick auf unsere Eltern ist – ein Blick, der letztlich einschließt, wie die Welt unsere Eltern sieht –, desto größer unsere Chancen, auch die Welt so zu sehen, wie sie ist."
    "Zwischen ihnen" ist, so schmal diese Erinnerungen einherkommen, ein großes Buch und eine glänzende Anleitung dazu, die Welt "so zu sehen, wie sie ist". Mehr kann man von Literatur kaum erwarten.
    Der inzwischen 73-jährige Richard Ford ist einer der großen amerikanischen Erzähler. Romane wie "Der Sportreporter", "Unabhängigkeitstag" oder "Kanada" haben ihn berühmt gemacht. Er erhielt renommierte Auszeichnungen wie den Pulitzer-Preis und den Prinzessin-von-Asturien-Preis für Geisteswissenschaften und Literatur. Gelegentlich wird er wie sein Landsmann Philip Roth für den Nobelpreis gehandelt. Auch in Deutschland ist sein Werk, das mittlerweile bei Hanser Berlin erscheint, weit verbreitet. All seine erzählerischen Qualitäten stellt er in seinem aktuellen Buch, dem Erinnerungstext "Zwischen ihnen", erneut unter Beweis.
    Richard Ford: "Zwischen ihnen"
    Aus dem Englischen von Frank Heibert, Hanser Berlin, Berlin 2017, 144 Seiten, 18 Euro