Donnerstag, 18. April 2024

Archiv

Richter a.D. über Schuld, Strafe und Gerechtigkeit
"Strafzumessung ist keine Mathematik"

Kindesmissbrauch, Folter, Mord: Wenn ein besonders schlimmes Verbrechen geschieht, wird schnell der Ruf nach drakonischen Strafen laut. Das sei verständlich, dennoch müsse jedes Verbrechen individuell beurteilt werden, sagte der ehemalige Richter Thomas Fischer im Dlf.

Thomas Fischer im Gespräch mit Benedikt Schulz | 30.06.2019
Thomas Fischer, ehemaliger Vorsitzender Richter des 2. Strafsenats am Bundesgerichtshof
Der Mensch habe ein sehr starkes Bedürfnis, klare Verantwortlichkeiten festzulegen und Schuldige zu benennen, sagte der Ex-Richter Thomas Fischer im Dlf (Deutschlandradio / David Ertl)
Oft aus einer Art Rachegefühl heraus würden Menschen besonders harte Strafen für Verbrechen fordern. Allerdings könnten viele auf Nachfragen dann keine fachlichen Argumente liefern, warum sie diese Strafen für angemessen hielten. Oft stecke dahinter das Gefühl, stellvertretend für das Opfer Gerechtigkeit zu verlangen. Argumente wie "harte Strafen schrecken Täter ab" ließ Thomas Fischer im Dlf nicht gelten. Diese Annahme sei umstritten und juristisch auch nicht belegbar.
Einheitsstrafen machen keinen Sinn
Im Strafrecht gebe es nur eine einzige absolute Strafe, erklärte der ehemalige Vorsitzende Richter des 2. Strafsenats am Bundesgerichtshof im Dlf: Lebenslänglich als Freiheitsstrafe. Für alle anderen Strafen gebe es einen Strafrahmen. Fischer kritisierte jedoch, dass dieser Strafrahmen mittlerweile "unangenehm groß" sei. Der Gesetzgeber meine, diesen aufgrund von aktuellen Anlässen oder aus rechtspolitischen Gründen ausdehnen zu müssen - so gebe es Strafen, deren Rahmen zwischen sechs Monaten und 15 Jahren lägen.
"Eine gezielte Punktstrafe haben wir in Deutschland nicht"
Forderungen nach klar formulierten Strafen für bestimmte Verbrechen wies der ehemalige Richter Thomas Fischer im Dlf zurück. Ursachen von Verbrechen seien immer von Menschen, Situationen und Einzelfällen bestimmt, die auch einzeln bewertet werden müssten. Daher sei Strafzumessung "keine Mathematik", die nach bestimmten Regeln funktioniere.
Druck auf Justiz wächst
Er beobachte jedoch auch, so Fischer weiter im Dlf, dass der gesellschaftliche Druck auf die Justiz wachse. Das liege auch daran, dass die Justiz die Macht und Gewalt des Staates repräsentiere und für das Gelingen des gesellschaftlichen Zusammenlebens mitverantwortlich sei.
Der Mensch habe ein sehr starkes Bedürfnis, Verantwortlichkeiten zu suchen und Schuldige zu benennen. "Je weniger die Menschen über die Einzelheiten der Tat wissen, desto größer ist das Bedürfnis, einen Täter zu benennen."
Die Gesellschaft fordere einfache Antworten, die klare Zuordnung von Gut und Böse, sagte Thomas Fischer im Dlf. Von dieser Erwartung sei das Strafrecht zunehmend überfordert - denn so einfach seien die Entscheidungsprozesse im Strafrecht nicht.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.