Donnerstag, 25. April 2024

Archiv


Richtersprüche als europäische Wegbereiter

Die direkte Wirkung des Europarechts stellt auch unter den Euroskeptikern heute kaum jemand infrage. Ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs, in dem ein Einzelinteresse über das Interesse des Heimatlandes gestellt wurde, bereitete dafür vor 50 Jahren den Boden.

Von Maximilian Steinbeis | 03.02.2013
    Wer vor fast genau 50 Jahren, am 11. Februar 1963, die Sendung "Panorama" im Ersten Deutschen Fernsehen einschaltete, bekam dort einen sorgenvollen Blick in die Zukunft zu sehen. Die EWG, Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, gerade mal fünf Jahre alt, war der Anlass zur Sorge. Deutschland und Frankreich hatten sich gemeinsam mit Italien und den Benelux-Ländern auf den Weg in einen gemeinsamen Markt gemacht. Ob das gutgehen würde?

    "Auch drüben herrscht zwar Wettbewerb, aber die Franzosen arbeiten seit 1946, im Gegensatz zu uns, mit Wirtschaftsplänen."

    Würden die Franzosen sich mit ihrer Neigung durchsetzen, Industrie und Banken staatlich zu dirigieren? Würde die deutsche Soziale Marktwirtschaft das europäische Experiment überleben? Auf die Staaten, so schien es, kam es an. Sie hatten sich in dem Vertrag über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft zum Abbau ihrer Zoll- und Handelsschranken verpflichtet. Die mächtigen Männer im Elysee-Palast und im Bundeskanzleramt: Auf sie blickte man mit Sorge, denn sie, so schien es, würden über Wohl und Wehe der europäischen Integration entscheiden.

    "Die Meinungen über den Wirtschaftskurs der EWG werden in den nächsten Wochen hart und geräuschvoll aufeinanderprallen."

    Was weder die Macher des Fernsehbeitrags noch ihre Zuschauer zuhause wussten: Die Zukunft, vor der der Beitrag so sorgenvoll warnte, war bereits da. Wenige Tage vor Ausstrahlung der Sendung hatte der Europäische Gerichtshof im idyllischen Großherzogtum Luxemburg ein Urteil gefällt, das alles veränderte. Nicht die Staaten waren mit einem Mal die alleinigen Akteure bei der Entstehung und Gestaltung des gemeinsamen Marktes, sondern die Einzelnen, die Bürger und die Unternehmen. Und, nicht zu vergessen: die Gerichte.

    Was war geschehen? Der Fall, den die Europarichter in Luxemburg entschieden, war denkbar unspektakulär, erinnert sich Carl Otto Lenz, christdemokratischer Europapolitiker der ersten Stunde und später 17 Jahre lang Generalanwalt am Europäischen Gerichtshof:

    "Da stand drin, das war ja der konkrete Anknüpfungspunkt, dass die Holländer einen Zoll erhoben hatten, der nach Gemeinschaftsrecht verboten war."

    Eine Import-Export-Firma namens Van Gend & Loos wollte Harnstoffharz aus Deutschland in die Niederlande einführen und sollte darauf acht Prozent Zoll zahlen.

    "Und diese Ex-/Import-Firma hat dann gesagt, also, das steht doch im Vertrag drin, ihr dürft keine Zölle erheben. Die Mitgliedsstaaten haben geantwortet, das geht dich nichts an, das ist eine Verpflichtung unter Mitgliedsstaaten, die kannst du nicht einklagen."

    Hintergrund: Der EWG-Vertrag ist zunächst einmal nur ein völkerrechtlicher Vertrag, den die sechs Gründungsstaaten untereinander abgeschlossen haben. Das heißt, dass nur die Mitgliedsstaaten daraus Rechte und Pflichten ableiten können. Wenn die Niederlande mit ihrem Zoll ihre Vertragspflichten verletzen, dann – das wäre die Konsequenz – hätten allenfalls die anderen Mitgliedsstaaten oder die Kommission in Brüssel Anlass, sich aufzuregen. Und nur sie könnten vor den Europäischen Gerichtshof ziehen und den vertragsbrüchigen Staat verklagen.

    Doch dieser Position, die auch die Vertreter Deutschlands, Hollands und Belgiens vor dem Gerichtshof vertraten, widersprachen die Richter in Luxemburg in ihrem Urteil ganz energisch.

    "Und der Gerichtshof hat gesagt: nein, nein. Das ist falsch. Die kannst du sehr wohl einklagen. Denn deswegen ist der Vertrag gemacht worden, damit das möglich ist, dass ihr über die Grenzen handeln könnt. Und deswegen müssen wir diese Bestimmungen kontrollieren können."

    Was war das Revolutionäre an diesem Richterspruch? Der Gerichtshof hatte nichts Geringeres getan, als eine neue eigenständige Rechtsordnung ins Leben zu rufen.

    "Es ist eben sozusagen die Geburtsstunde des Gemeinschaftsrechts gewesen, als einer Materie, die vom Völkerrecht verschieden ist."

    Das europäische Gemeinschaftsrecht, so der Gerichtshof, sei nicht allein die Sache der Mitgliedsstaaten untereinander, sondern auch die der Einzelnen, der Bürger. Damit lag der EuGH durchaus im Trend.

    "Van Gend & Loos ist das wichtigste Urteil überhaupt."

    Erklärt Franz Mayer, Europarechtsprofessor an der Universität Bielefeld:

    "Das ist deswegen fundamental und revolutionär, weil es natürlich einen in anderen Bereichen auch schon sichtbaren Trend nach 1945 verstärkt. Plötzlich findet der Einzelne in der Welt des internationalen Völkerrechts statt. Im klassischen Völkerrecht spielt der Einzelne ja keine große Rolle, sondern es sind die Staaten, die miteinander interagieren, Verträge schließen, Verträge brechen, Kriege führen und so weiter."

    Dem Einzelnen Rechte gegen die Staaten zu geben – was uns heute selbstverständlich erscheint, war damals noch ganz neu:

    "Aber nach 1945 ist einmal der internationale Menschenrechtsschutz natürlich das große Thema. Und dann eben Phänomene wie Van Gend & Loos, wo das überstaatliche Recht dann plötzlich den Einzelnen wahrnimmt, mit Rechten ausstattet und, das ist natürlich auch der Trick und das Erfolgsgeheimnis von Van Gend & Loos, den Einzelnen oder die Einzelne letztlich als Instrument einsetzt im Ringen um die Durchsetzung dieser neuartigen Rechtsordnung."

    Aber nicht nur der einzelne Bürger wurde in dem Urteil gestärkt, sondern auch der Europäische Gerichtshof selbst. Was die Staaten auf nationaler Ebene an Souveränität verloren, das gewann er an Gestaltungsmacht hinzu. Franz Mayer:

    "Es ist die Selbstermächtigung des Europäischen Gerichtshofs letztlich als Verfassungsgericht, als Deuter darüber, wie weit diese neue Rechtsordnung reichen soll."

    Wenn, wie das Urteil Van Gend & Loos postulierte, das Europarecht eine eigenständige, vom Völkerrecht unterschiedene Rechtsordnung ist, dann entstehen ganz neue Abgrenzungsprobleme: Dann kann der gleiche Fall ganz anders ausgehen, je nachdem, an welchem Recht man ihn misst. Dann kann, wer nach nationalem Recht unterliegt, nach europäischem Recht womöglich Recht bekommen – und umgekehrt. Dann muss geklärt werden, welches Recht Vorrang genießt. Derjenige, der diese Grenze zwischen nationalem und europäischem Recht zieht und definiert, gewinnt damit eine ungeheure Gestaltungsmacht. Von dieser Gestaltungsmacht machte der Gerichtshof in den folgenden Jahren mit aller Radikalität Gebrauch. Bürger und Unternehmen klagten, die nationalen Gerichte trugen den Fall nach Luxemburg. Und die Europarichter entschieden, ob die Mitgliedsstaaten ihre Pflichten erfüllt hatten oder nicht. Die alte Macht der Nationalstaaten, sich ihrer völkerrechtlichen Fesseln zu entledigen, wenn sie zu sehr drückten, war gebrochen. Welche Möglichkeiten in dem neuen Instrument steckten, wurde ein Jahr später klar, 1964, im Urteil Costa/ENEL.

    Der italienische Staat hatte den Stromversorger ENEL verstaatlicht. Ein Aktionär und Kunde der ENEL namens Flaminio Costa fand das nicht korrekt und zahlte seine Stromrechnung nicht. Vor dem italienischen Verfassungsgericht verlor er zunächst: Das Verstaatlichungsgesetz, so die Verfassungsrichter, stehe zwar vielleicht mit dem EWG-Vertrag in Konflikt, sei aber deshalb noch lange nicht ungültig. Denn als neueres Gesetz habe es Vorrang gegenüber dem älteren Ratifikationsgesetz zum EWG-Vertrag.

    Anders urteilte der EuGH: Kein nationaler Gesetzgeber habe die Macht, sich über das Gemeinschaftsrecht einfach hinwegzusetzen. Gesetze seien rechtlich unverbindlich, wenn sie gegen Gemeinschaftsrecht verstoßen. Erst nach diesem Urteil, erklärt der ehemalige EuGH-Richter Ulrich Everling, dämmerte den Mitgliedsstaaten, was da auf sie zukam:

    "Costa/ENEL war eigentlich, rückschauend betrachtet, das Urteil, was dann wirklich den Durchbruch auch in den Köpfen der Mitgliedsstaaten brachte."

    Anders, als beim Vorgängerurteil Van Gend & Loos hatte es der EuGH hier mit einem gerichtlichen Gegenspieler zu tun, dem italienischen Verfassungsgericht. Carl-Otto Lenz:

    "Der Gerichtshof sagt dann ja auch, er kann sich nicht vorstellen, dass das Land, in dem die Verträge von Rom unterzeichnet worden sind, als Erstes sie brechen wird. Und es ist ganz interessant, dass das Italien war. Denn Italien hat neben Deutschland eben auch eine tradierte Verfassungsgerichtsbarkeit. In der Sechser-Gemeinschaft waren es die beiden einzigen. Die Franzosen hatten keine und die Benelux-Länder auch nicht."

    Das deutsche Bundesverfassungsgericht wiederum schien anfangs keine Probleme zu haben mit dem neuen Kurs aus Luxemburg. Aber in Van Gend & Loos und im Costa/ENEL-Urteil ging es um einfache nationale Gesetze, die gegenüber dem Gemeinschaftsrecht den Kürzeren ziehen sollten.

    "Damit ist aber noch nicht wirklich geklärt, ob das auch wirklich ernst gemeint ist insoweit, als dass das auch den Vorrang gegenüber dem nationalen Verfassungsrecht bedeuten soll."

    So der Europarechtsexperte Franz Mayer. Sticht das Gemeinschaftsrecht auch den stärksten Trumpf des nationalen Rechts, die nationale Verfassungsordnung selbst? Diese Frage kam erst einige Jahre später auf den Tisch – und führte prompt zu einem handfesten Eklat zwischen Karlsruhe und Luxemburg. Es sollte nicht der letzte bleiben.

    Es begann, so erzählt man unter Europarechtlern, am 13. Januar 1970 mit einem Vortrag eines deutschen Staatsrechtsprofessors an der Richterakademie in Trier. Der machte sich über die Ambitionen der Europarichter in Van Gend & Loos und Costa/ENEL lustig. Von Luxemburger "Wunschdenken" war die Rede und anderen Gehässigkeiten. Von Trier nach Luxemburg ist es nicht weit. Die Europarichter wiederum brauchten nach einer Gelegenheit, die Herausforderung des deutschen Staatsrechtsestablishments zu kontern, nicht lange zu suchen. 1970 erging das Urteil Internationale Handelsgesellschaft, erzählt Franz Mayer.

    "Und da hat man dann eben ganz klare Worte gefunden und hat gesagt, nichts, aber auch gar nichts an der nationalen Verfassung, weder Prinzipien noch Grundrechte können dem Europarecht entgegengesetzt werden."

    Doch damit war der Fall keineswegs erledigt.

    "Das hat natürlich den Kläger damals nicht so richtig befriedigt. Und deswegen ist der dann als Nächstes mit genau demselben Fall nach Karlsruhe gegangen."

    Vier Jahre später kam das Urteil: Mit schneidender Schärfe erinnerten die Karlsruher Verfassungsrichter ihren Konterpart in Luxemburg daran, dass die europäische Rechtsordnung nicht einmal über einen parlamentarisch legitimierten Grundrechtekatalog verfüge. Solange dies so sei – deshalb hieß die Entscheidung bald "Solange"-Urteil – behalte man sich vor, die Grundrechte der Deutschen auch gegen die Europäische Gemeinschaft zu schützen. Mit anderen Worten: Karlsruhe drohte, jetzt seinerseits Gemeinschaftsrechtsakte für verfassungswidrig zu erklären.

    Die Botschaft blieb nicht ungehört. Der Europäische Gerichtshof machte sich umgehend daran, die Lücke zu füllen und einen adäquaten Grundrechteschutz zu entwickeln. 1986 begrub Karlsruhe das Kriegsbeil vorläufig und kehrte den Solange-Vorbehalt um: Solange die Gemeinschaft selbst die Grundrechte der Deutschen schütze, brauche Karlsruhe es nicht zu tun. Doch der Streit, ob im Extremfall Verfassungs- oder Gemeinschaftsrecht die Oberhand behält, brach immer wieder neu aus, beim Maastricht- und beim Lissabon-Vertrag und jüngst in puncto Eurorettung. Die Balance ist prekär:

    "Bei der Vorrangfrage ist man, glaube ich, auch heute noch in einem etwas unvermessenen Gelände, wenn es um die letzten Verfassungsgrundsätze geht. Aber bei der unmittelbaren Geltung beziehungsweise unmittelbaren Anwendbarkeit hat das Bundesverfassungsgericht letztlich wohl keinen Widerstand leisten wollen."

    Vor 50 Jahren war kaum jemandem bewusst, welch ungeheure Wirkung das Urteil Van Gend & Loos noch entfalten würde. Selbst Leute, die so nah am Geschehen waren wie Carl-Otto Lenz, brauchten lange, um zu ermessen, was geschehen war. 1963 war er Generalsekretär der Christlich-Demokratischen Fraktion des Europäischen Parlaments. Das Sekretariat saß in Luxemburg, also in unmittelbarer Nachbarschaft zum Gericht. Aber von dem Urteil, so erzählt er heute, hatte er nichts mitbekommen.

    Dass das Urteil so unbemerkt blieb, lag auch daran, dass die Europapolitiker damals andere Sorgen hatten, als das Treiben des Gerichtshofs zu beobachten. Die europäische Integration steckte in einer schweren Krise. Der französische Präsident Charles de Gaulle hatte gerade erst den Beitritt Großbritanniens mit seinem Veto blockiert. Der deutsch-französische Elysée-Vertrag wurde ebenfalls als Schlag gegen die Gemeinschaft gewertet.

    In dieser Situation hatte auch die Führungsebene in der Bundesregierung alles andere im Kopf als die Beobachtung der Rechtsprechung aus Luxemburg.

    "Das war eine sehr unsichere Situation, in der auch die Leitungskräfte mit ganz anderen Dingen beschäftigt waren als nun der Auslegung von Artikel 12 des EWG-Vertrages."

    Erinnert sich der Europarechtsprofessor Ulrich Everling, der damals, 1963, als Referent im Bundeswirtschaftsministerium arbeitete.

    "Mit so etwas konnte man selbst Staatssekretären kaum kommen, nicht."

    Everling, in den 80er-Jahren selbst Richter am Europäischen Gerichtshof, ist heute 88 Jahre alt. 1963 verfasste er die Stellungnahme der deutschen Regierung im Verfahren Van Gend & Loos.

    "Ich hatte einen Abteilungsleiter, der sich auch nicht so wahnsinnig dafür interessierte. Der Staatssekretär Müller-Armack, der schwebte überhaupt in ganz anderen Gedankengängen. Von Erhard ganz zu schweigen. Und im Auswärtigen Amt interessierte sich für diese Problematik auch niemand."

    Manche glauben, der EuGH habe in dieser Situation gezielt der Integration einen Schubs geben wollen, nach dem Motto: Wenn die Politik nicht vorankommt, muss die Justiz in die Bresche springen. Von dem viel gebrauchten Stichwort vom EuGH als "Motor der Integration" will Ex-Generalanwalt Carl-Otto Lenz indessen nichts hören:

    "Das hab ich immer für Unfug gehalten. Sie können keinen Motor haben, den sie nicht selber anlassen und abstellen können. Aber der Motor Europäischer Gerichtshof, der wird immer von den Klägern angelassen. Und das sind ganz verschiedene Leute mit ganz verschiedenen Interessen."

    Mit der politischen Situation der Zeit allein ist aber die Indifferenz, auf die das Urteil damals stieß, noch nicht erklärt. Sie war generell typisch für das Wirken des Europäischen Gerichtshofs, wie der Bielefelder Europarechtsprofessor Franz Mayer erklärt:

    "Irgendwo hinter den sieben Bergen, in diesem merkwürdigen Fürstentum Luxemburg, wo es keiner mitkriegt, arbeitet der EuGH still und leise vor sich hin. Das kennzeichnet wirklich die Wahrnehmung dessen, was der EuGH da gemacht hat. Das ist nämlich im Wesentlichen eine Geschichte der Nichtwahrnehmung. Man hat das nicht mitgekriegt."

    Sehr wohl mitgekriegt haben die Bürgerinnen und Bürger Europas indessen die Folgen dieses Urteils.

    "Sogar die Regelungswut, von der immer die Presse redet, beruht im Grunde auch auf diesen Grundsätzen, die damals entwickelt wurden."

    Räumt Ex-EuGH-Richter Ulrich Everling ein. Denn diese sogenannte Regelungswut entsteht dadurch, dass Brüssel immer strenger und immer kleinteiliger einheitliche Regeln in der EU durchsetzte, wie bestimmte Produkte aus Umwelt-, Gesundheits- oder Verbraucherschutzgründen beschaffen zu sein haben, damit nicht die Mitgliedsstaaten diese Regeln dazu missbrauchen, die Einfuhr ausländischer Produkte zu behindern.

    "Darauf beruht zum Beispiel diese Lampenverordnung, über die sich alle Leute ärgern, ich auch."

    Im Guten wie im Schlechten: Europa ist seit dem Van-Gend-&-Loos-Urteil in allererster Linie eine Rechtsordnung, gestaltet durch Gesetze aus Brüssel und durch Urteile aus Luxemburg.

    "Es geht eben hier ums Recht und die Durchsetzung von Rechten."

    Sagt der Europarechtsprofessor Franz Mayer.

    "Da kann ein Staat möglicherweise ganz tolle Argumente auch gegenüber seinen eigenen Bürgern auffahren: Das kostet doch dann so viel, wenn wir plötzlich dieses Europarecht an der Stelle einhalten müssen. Und das wäre doch viel besser. Und wir hatten doch noch nie Frauen in der Bundeswehr. Und was passiert und überhaupt."

    Frauen in der Bundeswehr? In der Tat, auch das geht auf den EuGH und letztlich das Urteil Van Gend & Loos zurück. Im Jahr 2000 entschied er, dass Deutschland einer jungen Frau namens Tanja Kreil nicht die Karriere als Berufssoldatin verwehren durfte – obwohl das ausdrücklich im Grundgesetz so vorgesehen war. Unter den konservativen deutschen Staatsrechtlern gab es einen Aufschrei, aber alles Pochen auf nationale Souveränität war vergebens. Franz Mayer:

    "Aber das ist eben letztlich, weil alles um das Recht herum zentriert ist, kein Argument mehr. Und das ist, wie ich finde, wirklich ein enormer zivilisatorischer Fortschritt, dass man sich hier auf eine sehr nüchterne, von nationalen Grenzen völlig abgehobene Ebene eines Ringens um Rechte begibt, in dem auch noch der Einzelne die zentrale Stellung einnimmt - natürlich mit freundlicher Unterstützung des Europäischen Gerichtshofs und der vorlegenden nationalen Gerichte."

    Auch, wenn es vor 50 Jahren fast niemand mitbekam: Das Urteil Van Gend & Loos ist der Anfang von fast allem, was uns heute unter dem Namen Europäische Union alltäglich erscheint.

    "Es hat also in jeder Hinsicht einen fundamentalen Schub für die europäische Integration bedeutet. Ohne Van Gend & Loos wäre die EU bestimmt nicht das, was sie heute ist."

    Auch in der gegenwärtigen Krise, die fast alle Aspekte der europäischen Integration zu erfassen scheint, erweist sich das Verfassungsfundament, das der Europäische Gerichtshof vor 50 Jahren für die entstehende Europäische Gemeinschaft goss, als bemerkenswert widerstandsfähig. Die direkte Wirkung des Europarechts und seinen Anwendungsvorrang vor dem nationalen Recht stellt auch unter den wütendsten Euroskeptikern kaum jemand infrage. Europa besteht nicht allein aus Staaten, sondern ebenso aus Bürgern – diese Implikation des Urteils Van Gend & Loos bleibt auch nach einem halben Jahrhundert unvermindert aktuell.