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Rio de Janeiro
Auf den Spuren des Sklavenhandels im Hafenviertel

An der "Pedra do Sal", dem Salz-Stein im Hafenviertel von Rio de Janeiro wurden einst verschleppte Sklaven aus Afrika verkauft. Heute ist der Platz ein Ort der Erinnerung. Noch immer besteht ein großer Teil der Bevölkerung von Rios Hafenregion aus Nachfahren von Sklaven. Viele von ihnen wünschen sich mehr Interesse und Anerkennung für die symbolträchtigen Orte in ihrem Viertel.

Von Victoria Eglau | 07.08.2016
    Menschen sitzen auf einer Treppe.
    Erinnerung an die Sklaverei an der "Pedra do Sal". (Deutschlandradio/Victoria Eglau)
    Freitagabends findet im Hafen von Rio de Janeiro eine Open Air-Party statt. Brasilianer und Touristen stehen in Grüppchen zusammen, trinken Bier und Caipirinha und hören Samba-Musik. Die Fete an der Pedra do Sal ist das Highlight des Nachtlebens im frisch sanierten Hafenviertel. Pedra do Sal bedeutet Salz-Stein – doch Stein ist untertrieben, die Pedra do Sal ist ein riesiger Granit-Block am Fuße eines Hügel.
    Am nächsten Morgen erinnert am Salz-Stein nichts mehr an das laute Fest vom Vorabend. Die Musiker und die Getränke-Stände sind verschwunden. Auf den Stufen, die in den Granit-Block geschlagen sind und die auf den Hügel "Morro da Conceição" führen, sitzt ein Grüppchen von Menschen unterschiedlichen Alters. Sie nehmen an einem Rundgang auf den Spuren des Sklavenhandels im Hafen von Rio teil.
    Hafenregion war Mittelpunkt des Sklavenhandels
    Dies ist der Ort, der die Kultur der Schwarzen in Rio de Janeiro wohl am besten repräsentiert. Hier an der Pedra do Sal, am Salz-Stein, wurde einst das Salz gelagert, das im Hafen ankam. Aber an diesem Ort wurden auch die Sklaven aus Afrika verkauft, erklärt Carla Márques der Gruppe, eine Soziologin.
    Sie leitet die Führung über die Geschichte des Sklaven-Handels. Schätzungsweise mehr als zwei Millionen Menschen, die aus ihrer afrikanischen Heimat verschleppt wurden, kamen hier im Hafen an. Und bis heute besteht die Bevölkerung von Rios Hafenregion vor allem aus Nachfahren von Sklaven. Einer von ihnen ist der Afrobrasilianer Fernando Luiz – er hat ein kleines Haus direkt an der Pedra do Sal, wo im neunzehnten Jahrhundert der Sklavenmarkt stattfand.
    "Dieser Teil des Hafens ist als Klein-Afrika bekannt. Nach der Abschaffung der Sklaverei 1888 wurde die Pedra do Sal ein Treffpunkt für die Schwarzen. Sie versammelten sich hier, tanzten den Trommeltanz Jongo und den Kampftanz Capoeira, und machten Samba-Musik. An der Pedra do Sal, fanden die ersten Samba-Runden statt."
    A Casa do Nando, das Haus von Fernando Luiz, ist ein kleines Zentrum der afrobrasilianischen Kultur. Auf seiner Terrasse setzen Musiker mit ihren Percussion-Instrumenten die Tradition der Roda de Samba, der Samba-Runde, fort.
    Ort des schwarzen Widerstands
    Hier sind meine Wurzeln – die Wurzeln meiner Sklaven-Vergangenheit. Dies ist ein Ort des Leidens - aber unsere Musik verbreitet Fröhlichkeit. Die Pedra do Sal ist ein Ort des schwarzen Widerstands, ein heiliger Ort. Es wäre gut, wenn mehr Leute das wüssten. Doch die meisten Brasilianer interessiert das nicht.
    In der Umgebung des Salz-Steins befanden sich im neunzehnten Jahrhundert sogenannte Quilombos – Zufluchtsorte für geflüchtete und entlassene Sklaven. Ein Teil der ehemaligen Sklaven ließ sich auf dem Morro da Providência nieder – einem Hügel in der Hafenregion. Das Viertel, das sie gründeten, existiert bis heute – es ist Rios älteste Favela.
    Kai von Cais do Valongo: Hier gingen die Sklaven in Rio an Land.
    Kai von Cais do Valongo: Hier gingen die Sklaven in Rio an Land. (Deutschlandradio/Victoria Eglau)
    Weiter geht’s durch das Hafenviertel. Carla Marques führt die Gruppe zu einem anderen symbolträchtigen Ort, der lange Zeit verborgen war. Am Hafen-Kai Cais do Valongo gingen die aus Afrika verschleppten Menschen an Land, von 1811 bis 31 war der Kai in Betrieb. Anfang der 1840er-Jahre dann wurde über die alte Anlegestelle ein neuer Kai gebaut, der Cais da Imperatriz – zu Ehren der künftigen Gattin des Kaisers von Brasilien, die aus Europa eintraf. Noch später wurde eine Straße über den historischen Ort gelegt. Doch seit 2010 kann der Cais do Valongo besichtigt werden – im Zuge der Hafen-Sanierung sind seine Überreste freigelegt worden. Mit dem Kai kam das verschüttete düstere Kapitel der Sklaverei ans Tageslicht. Edson Ferreira da Silva, ein großer, schlanker Mann, betrachtet die Ausgrabungs-Stätte – vermutlich betraten seine eigenen Vorfahren an dieser Stelle brasilianischen Boden.
    Touristen sollen mehr über die Geschichte der Sklaven erfahren
    In Brasilien haben wir leider die Gewohnheit, unsere Geschichte ausradieren zu wollen. Manche Historiker sehen diesen Ort als Symbol für die Unterdrückung von uns Schwarzen. Denn auf den Resten des Valongo-Kais ist man lange herumgetrampelt, so wie die Mächtigen immer auf uns Schwarzen herumgetrampelt sind.
    Edson Ferreira da Silva arbeitet als Reiseführer, er zeigt Rio-Touristen den Zuckerhut, die Erlöser-Statue und den Copacabana-Strand. An dem Rundgang auf den Spuren des Sklaven-Handels im Hafen nimmt Edson teil, um Besuchern künftig diese noch wenig bekannte Facette von Rio de Janeiro zeigen zu können.
    Letzte Station des Spaziergangs ist der Cemitério dos Pretos Novos, der "Friedhof der jungen Schwarzen" – ein besonders trauriger Erinnerungsort. Hier wurden Zehntausende meist sehr junger Afrikaner verscharrt, die die strapaziöse Schiffsreise über den Atlantik nicht überlebt hatten oder kurz nach ihrer Ankunft in Brasilien starben. Auch der Friedhof, der sechzig Jahre in Betrieb war, bis 1830, wurde danach dem Vergessen überlassen – als hätte es ihn nie gegeben.
    "Während Umbau-Arbeiten an meinem Haus fanden wir in der Erde Knochen von Menschen. So entdeckten wir rein zufällig, dass sich an dieser Stelle ein Sklaven-Friedhof befunden hatte."
    Stadtregierung von Rio unterstützt Erinnerungsstätten
    Diese unglaubliche Geschichte erzählt Mercedes Guimarães, die heute, zwanzig Jahre später, an der Stelle des einstigen Friedhofs ein Erinnerungs- und Forschungs-Institut leitet.
    "Die Behörden haben unserer Entdeckung damals nicht viel Bedeutung beigemessen. Sie hatten kein Interesse daran, diesen Ort zu erforschen und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Heute ist das anders, die Stadtregierung von Rio hilft uns dabei, die Erinnerung an die Sklaverei wachzuhalten. Es hat ein Paradigmenwechsel stattgefunden."
    Mercedes Guimarães erwähnt die Finanzhilfe, die ihr Institut inzwischen von der Stadt erhält, um die regelmäßigen Rundgänge auf den Spuren des Sklaven-Handels und diverse Veranstaltungen zum afrobrasilianischen Erbe zu organisieren. Alle Mitarbeiter des Instituts arbeiten ehrenamtlich. Es wäre noch viel mehr öffentliche Unterstützung nötig, um die Stätten der Sklaverei-Geschichte einer größeren Zahl von Menschen bekannt zu machen. Selbst viele Bewohner des Hafen-Viertels würden sie nicht kennen, erzählt die Soziologin Carla Marques:
    "Ein großer Teil der Bevölkerung der Hafen-Gegend sind Afrobrasilianer. Die Bewohner müssten sich diese Geschichte zu eigen machen. Aber das geschieht heute noch nicht."
    Folgen der Sklaverei reichen bis in die Gegenwart
    Für Edson Ferreira da Silva, Teilnehmer der Führung durch das Hafen-Viertel, reichen die Folgen der Sklaverei in Brasilien bis in die Gegenwart.
    Nichts hat sich verändert. Wir Schwarzen sind die unterste Schicht der Gesellschaft, wir sind Parias. In der Politik sind wir nicht vertreten, wir erlangen höchstens als Musiker oder Sportler Bekanntheit. Oder als Verbrecher, über die die Medien berichten – als die Bösewichte der Gesellschaft.
    Das Forschungs- und Erinnerungs-Institut am ehemaligen "Friedhof der jungen Schwarzen" versucht mit bescheidenen Mitteln, gegen die Diskriminierung anzukämpfen. Es bemüht sich, die afrobrasilianische Kultur bekannter zu machen: die Musik, Tänze und religiösen Rituale. Ein kompliziertes Unterfangen, erzählt Instituts-Mitarbeiterin Penha Santos:
    "Wir stoßen oft auf Ablehnung, wenn wir darauf pochen, dass unsere afrobrasilianische Kultur anerkannt wird. Wenn wir zum Beispiel eine Jongo-Runde, also einen Trommeltanz, auf der Straße veranstalten wollen, bekommen wir einfach keine Genehmigung."
    Zurück bei Fernando Luiz, in seinem Haus am Granit-Block Pedra do Sal. Er erklärt das geringe Interesse an den Erinnerungsorten der Afrobrasilianer so:
    Wenn die Gesellschaft die Pedra do Sal als Ort des schwarzen Widerstands anerkennen würde, müsste sie darüber nachdenken, wie sie unsere Versklavung wiedergutmacht.