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Riskante Reise im Eis

Die Route auf der nach Adrien de Gerlache benannten Seestraße zwischen den Inseln Anvers und Brabant und der Antarktischen Halbinsel gehört heute zum Programm von Antarktisreisen für Touristen. Der spätere Südpoleroberer Roald Amundsen bereiste die Strecke bereits Ende des 19. Jahrhunderts.

Von Ingrid Norbu | 11.12.2011
    Über uns leichtes Schneetreiben, unter uns eine graue See. Ein Eisstrom gleitet langsam durch die Fahrrinne, vorbei an Felsen und Gletschertürmen. Das kleine Expeditionsschiff sucht vorsichtig seinen Weg durch diese farblose Welt. Bis sich ganz plötzlich der Schneevorhang öffnet und ein paar Bergspitzen unter blauem Himmel freigibt. Die Weite der Antarktis lässt sich trotzdem nur erahnen. Ganz Europa fände auf ihrer Fläche Platz. Hier in der Gerlache-Straße "kratzen" wir nur ein wenig an der Küste des Kontinents.

    Immer wieder brechen Eisschollen ab und krachen ins Wasser. Kein einfaches Terrain für die Navigation, trotz all der modernen Instrumente, findet Jan Burgdorf, 26 Jahre alt, 1. Offizier an Bord und zum ersten Mal in der Antarktis.

    "Auf der einen Seite, gewisse Dinge sind einfacher, zum Beispiel kaum Verkehr. Gewisse Dinge, wie das Wetter, sind deutlich schwieriger. Man sollte sich schon mit Meeresströmungen, mit Winden ganz gut auskennen, gerade mit lokalen wie katabatischen Winden, meinetwegen. Das sollte man wissen, weil hier lokal doch sehr starke Winde auftreten können. Dann natürlich die Eisdrift, dass Eisberge zum Beispiel nicht immer mit dem Wind driften, sondern auch gern mal komplett entgegengesetzt, mit der Strömung, weil sie sich ja meistens zu sechs Siebteln unter dem Wasser sich befinden."

    Die katabatischen Winde fallen vom Südpol mit seinem stabilen Hochdruckgebiet nach allen Seiten zu den Küsten hinab und vermischen sich dort mit wärmeren Luftschichten aus dem Norden. Bei der langsamen Fahrt an der Küste der Antarktischen Halbinsel entlang, die wie ein Riesenfinger in den Südatlantik zeigt, ist Erfahrung gefragt. Pionier und Namensgeber des Kanals war Adrien Baron de Gerlache de Gomery, ein Belgier, der 1897 aufbrach, um mit einem betagten Robbenfangschiff unter Segeln, aber schon mit Motor, der "Belgica", diese Wasserstraße zu erkunden. Er taufte die größten vorgelagerten Inseln Brabant und Anvers, Antwerpen, nach Provinzen seiner Heimat. Als Zweiter Offizier an Bord dieses Schiffes war auch der damals noch unbekannte Roald Amundsen, der spätere Südpoleroberer.

    Noch heute herrscht bei den schmalen Passagen der Gerlache-Straße auf der Brücke Hochspannung. Jan Burgdorf schüttelt den Kopf, Offizier sein, damals auf der "Belgica"?

    "Also interessant wäre es mit Sicherheit, aber ich glaube nicht, dass ich mich das getraut hätte. Das waren für mich wirklich richtige Abenteurer, ohne GPS. Man hatte eben wenige Funkverfahren. Man hat sicherlich auch noch mit den Sternen navigiert unter anderem, zur Korrektur eben mit den bekannten Ungenauigkeiten, wo man als geübter Seefahrer gerne mal zwei Meilen daneben liegt."

    Amundsen verbrachte sozusagen seine Lehrzeit im Südpolarmeer an Bord der "Belgica" und sammelte bei dieser Expedition, die zwei Jahre dauerte, wichtige Erfahrungen. Im März 1898 wurde das Schiff weit südlich des Polarkreises vom Eis eingeschlossen. Die erste und vermutlich auch geplante Überwinterung begann. Im salzigen Wasser bilden sich zunächst Eisnadeln, dann eine Art Eisbrei, der zu kleinen Schollen zusammenwächst, das sogenannte Pfannkucheneis. Eine Eiskrause rund um den Kontinent kann schon im März entstehen, sagt Jan Burgdorf

    "Wenn man in einen Kanal einfährt, kann der innerhalb von kurzer Zeit hinter einem zufrieren, und man weiß nie genau, wie es am Ende des Kanals wieder aussieht, ob man noch rauskommt. Es ist letztens eben dem Kapitän passiert, dass er einige Stunden, eben der Polar Pionier, im Eis verweilen musste, eben weil eben dieses passiert ist. Da muss man vorsichtig sein. Es kann auch auf großen Meeresflächen der Fall sein, in der Wedell-See zum Beispiel kann man recht schnell mal von Packeis eingeschlossen werden. Man sollte ungefähr einschätzen können, wie lange man noch Zeit hat, um durchzukommen."

    Eisberge segeln auf grauer See. Um die Inseln und Halbinseln der Gerlache Straße bilden sich im März nachts Eisschollen, die dann am Tage im Wasser leise zischend schmelzen, oder auch nicht. Die Mannschaft der "Belgica" soll damals in die Pläne einer Überwinterung nicht eingeweiht gewesen sein und wurde bei der nun folgenden 3000 Kilometer langen Drift im Eis, bei Kälte und Dunkelheit auf eine harte Probe gestellt.

    "Ich denke, dass Kameradschaft eine treibende Kraft war, es waren deutlich mehr Leute als jetzt an Bord, als Crew, deutlich mehr Leute. Sicherlich eine riesige Vorbereitung. Sie sind da nicht von heute auf morgen in See gestochen, sondern haben sich lange darauf vorbereitet, auch mit Regierungsunterstützung. Wichtig sicherlich auch die Einzelpersonen. Amundsen soll ja ein guter Führer gewesen sein. Ein Mensch, auf den man sich verlassen kann."

    Zwischen dem praktischen und wagemutigen Amundsen und dem eher theorielastigen Kapitän de Gerlache soll es oft zu Spannungen gekommen sein. Tatkräftig dagegen war der Schiffsarzt Frederick Cook, der der Mannschaft als Therapie gegen Lichtmangel und Langweile eine sogenannte "Bratkur" verordnete: Die Männer mussten sich stundenlang nackt vor den Schiffsofen setzen und in die gleißenden Flammen schauen. Mangelernährung war damals bei langen Schiffreisen immer noch ein Problem. Amundsen und Cook, beide mit Nordpolarmeer-Erfahrung, wussten, dass rohes Fleisch, wie es die Inuit verzehren, dagegen hilft. Fortan standen u. a. Pinguine auf dem Speiseplan. Heute ist das natürlich ein absolutes Tabu. Mit der Konvention zur Erhaltung der lebenden Meeresschätze der Antarktis wurden 1982 nicht nur die "Frackträger", sondern ein ganzes Ökosystem unter Schutz gestellt.

    Vor dem ersten Landgang herrscht Unruhe an Bord. Alle Anoraks und Rucksäcke müssen mit einem Staubsauger von Pflanzensamen oder sonstigen Mitbringseln aus der Welt im Norden befreit werden. Dann heißt es "einsteigen" in die Zwiebelschalen aus moderner Outdoor-Bekleidung, schweißdurchlässig, aber Wind- und Wasser abweisend. Die Besatzung der "Belgica" musste sich bestenfalls mit Fellkleidung begnügen, die kaum für Ventilation sorgte.

    Und dann heißt es einsteigen in stabile Gummiboote, Zodiacs genannt, die mit Motorkraft elegant durchs nasse Grau gesteuert werden. Salzige Luft weht um die Nasen. Ziel ist Danco, eine der kleinen Inseln in der Gerlache Straße. Benannt nach dem Geophysiker Emile Danco, der auch an Bord der "Belgica" war und später an Skorbut starb.

    <im_74346>ACHTUNG: NUR FÜR SONNTAGSSPAZIERGANG VERWENDEN</im_74346>Man hört sie, man riecht sie, die grünrot gesprenkelte Insel der Pinguine. Aber nach zwei Tagen auf stürmischer See, der berüchtigten Drake Passage, tut es gut, endlich wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Die saisonalen Bewohner von Danco, die Eselspinguine, stören sich nicht an den Menschen, im Gegenteil. Vielleicht ahnen sie, dass sie mittlerweile sogar geschützter Forschungsgegenstand sind. Der Pinguinexperte Klemenz Pütz ist oft im Südatlantik und in der Antarktis unterwegs.

    "Weil mich die Tiere von Anfang an fasziniert haben. Zum einen wirken sie auf den ersten Blick drollig und auf den zweiten Blick erkennt man, wie hervorragend die an ihre Lebensweise angepasst sind, die auch gar nicht mehr aussehen wie ein Vogel. Sie sind ja vollständig auf eine Lebensweise im Wasser angepasst, kommen nur noch zum Brüten und zur Mauser an Land. Sind den Rest des Jahres eigentlich nur im Meer. Tauchen sehr tief. Ein Kaiserpinguin taucht über 560 Meter tief, und Königspinguine über 400 Meter. Dann zeigt sich dann doch, dass sie den Lebensraum Meer sekundär hervorragend erobert haben, weil sie ja von fliegenden Vögeln abstammen. Ihre nächsten Verwandten sind Albatrosse und Sturmvögel."

    Versammelt auf grauen Felsen, die aus den Schneehügeln herausragen, hüten die braunen Eselspinguine, die etwa 50 Zentimeter groß sind und in Kolonien leben, ihre Jungen vor angriffslustigen Raubmöven, den Skuas, die fast so groß sind wie sie und sich gerne provokant in ihrer Nähe aufhalten, sich sogar einfach zwischen sie stellen. Aber sind die Jungen erst größer und wehrfähiger, dann kann so ein Pinguin eben auch mal recht forsch auftreten und den Skua angreifen.

    Am Inselufer ein Farbenspiel: dunkelroter Algensaum auf flaschengrüner See. Dazu der Guano der Pinguine, gelbbraun wie Senf, klebrig, aber mit Schnee gut abzuwischen. Nebelfetzen legen einen Schleier über die Schneegipfel der Gerlache Straße. Nachts frieren die kleineren Buchten zu.
    Die "Belgica" überwinterte am Kap Adare an der Ross See, im polaren Südpazifik. Es gab viele verzweifelte Versuche, dem weißen Albtraum zu entrinnen. Es gibt keine festen Wetterregeln in der Antarktis, sagt Jan Burgdorf.

    "Hier das Wetter vorherzusagen mit genügender Präzision, ist auch heute noch nicht möglich, geschweige denn damals. Klar hilft es natürlich, Erfahrung zu haben, gerade mit den lokalen Winden, die kann man eben relativ gut vorhersagen, aber das Reisewetter, da werden die einigermaßen spontan handeln müssen. Gemusst haben."

    Erst nach 377 Tagen riss ein Sturm eine Fahrrinne ins Eis. Das war am 14. März 1899. Mit der Fahrt der "Belgica" begann das "Heroische" Zeitalter der Südpolexpeditionen und erlebte dann mit Roald Amundsens Sieg am Südpol ihren Höhepunkt. Der konnte nicht nur seine Skier und die Hundeschlitten, sondern auch sich selbst unter diesen Extrembedingungen testen und dabei wertvolle Erfahrungen für seine spätere, bis ins kleinste geplante, Expeditionsreise im Jahr 1910 und 11 sammeln. Das "Heroische" Zeitalter endete mit Shakletons Transantarktisexpedition, als die "Endurance" 1915 im Eis der Wedell-See wie in einem Schraubstock zerquetscht wurde. Für Schiffe, die heute im Packeis einfrieren, gibt es in dieser abgelegenen Weltgegend keine Hilfe. Eben so wenig für solche, die auf Grund laufen, was nicht selten vorkommt. Ersehntes Paradies oder eisige Hölle? Was treibt Menschen in die Antarktis?

    "Zum einen komme ich gut mit mir selber klar. Ich glaube, das muss man auch, wenn man in die Einsamkeit geht, und an der Antarktis fasziniert mich eigentlich, dass man wieder eine bisschen Demut lernt, die man oft verliert, wenn man in Deutschland lebt und der Bus kommt zwei Minuten zu spät oder die Straßenbahn, dann regt man sich schon auf. (89) Ich hatte natürlich tolle Erlebnisse in der Antarktis. Wenn man an der Eiskante steht und ein bisschen vor sich hinträumt und auf einmal tauchen vor einem zehn Schnabelwale auf, die auch in die Luft springen, dann unter einem wegtauchen. Das sind einfach Erlebnisse, die man nicht vergisst. Man steht nur da mit offenem Mund und offenen Augen und versucht das alles in sich reinzusaugen, was man da gerade erlebt hat."

    Die Fahrt der "Belgica" war von vielen Katastrophen begleitet. Aber die Männer an Bord hatten einen meteorologischen Jahresbericht erstellt, Grundlage der Klimatologie der Antarktis und eine Sammlung ozeanischer Organismen mitgebracht. Grundlage alles Lebens ist der Krill, kleine Krabben, die unter den treibenden Eisschollen leben. Krill ist die Grundlage des Tierreichtums der Antarktis. Selbst Robben und Wale sind von der Existenz dieser Kleinstlebewesen abhängig. Pinguinforscher Klemenz Pütz würde, wenn er die nötigen Mittel hätte, am liebsten das Zusammenspiel der verschiedenen Pinguinarten und Robben untersuchen, deren Population stark mit der Dezimierung der Wale seit 100 Jahren gestiegen ist. Und jetzt kommt auch noch der wachsende Abenteuertourismus dazu.

    Mittlerweile kann man in die Antarktis zum Tauchen fahren oder eine Nacht draußen auf dem Eis verbringen. Einhüllt in drei Schlafsäcke, mit einer Isoliermatte aus Plastik als Unterlage, fühlt man sich unbeweglich wie eine Robbe an Land. Bis dann am frühen Morgen ein leichtes Rieseln, Schneeregen, diese unbequeme Lage weiter verschlimmert.

    Wer will kann auch Skitouren oder Helikopterflüge buchen oder zwischen treibenden Eisschollen im Kanu unterwegs sein. Klemenz Pütz findet, ...

    "... dass man sich da nicht weiter selbst verwirklichen muss. Werden Sie ein Botschafter für die Antarktis und kämpfen Sie für den Erhalt dieses letzten, nahezu unberührten Lebensraums, den wir auf der Welt noch haben, in dem Sie einfach positiv von der Antarktis erzählen, unter Umständen, je nachdem welche Entscheidungen gerade anstehen, dann eben auch den Lokalpolitiker ansprechen und sagen: Hier müssen wir erhalten. Es gibt immer wieder aufkommende Sachen, die zum Beispiel eine Intensivierung der Krillfischerei. Oder Japan ist immer noch dabei, Wale zu fangen in der Antarktis. Andere Länder haben weiterhin Territorialansprüche. Dem muss man einfach dann entgegenstehen. Und im Moment, als Weltbevölkerung, weil die Antarktis nach wie vor niemands, oder ich sage es lieber positiver, jedermanns Land ist."