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Rituale des Alltags

Der eine rückt umständlich sein Schreibwerkzeug zurecht. Für Lyrisches, Essayistisches und Profanes benutzt er verschiedene, streng festgelegte Stifte. Der zweite kann nur auf Blätter eines bestimmten Formats schreiben: nicht zu groß und nicht zu klein will er sie haben. Der dritte kann nicht ohne Kaffee. Schwarz und stark muß er sein, sonst geht gar nichts. Er braucht seine morgendliche Koffeindosis, um wach zu werden. Aber er weiß auch, daß er mindestens ebenso sehr die Verläßlichkeit des Rituals erstrebt. An den immer gleichen Handgriffen entlang hangeln wir uns in den Tag hinein. Das Ritual ist ein Halteseil, das Sicherheit verleiht, wenn man noch keinen festen Boden unter den Füßen hat. Unser Alltag ist durchsetzt von Ritualen: von solchen die wir bewußt anwenden ebenso wie von anderen, die unmerklich an Macht gewinnen und sich zu seltsamen Ticks und Zwangshandlungen auswachsen.

Jörg Magenau | 14.02.2003
    Von liebsamen und unliebsamen Gewohnheiten handelt die Anthologie Rituale des Alltags, die der Fischer-Verlagsleiter Jörg Bong und die Literaturwissenschaftlerin Silvia Bovenschen herausgegeben haben. Schriftsteller wie Thomas Meinecke, Kathrin Röggla, Ingo Schulze, Christoph Peters oder Rainer Merkel kommen darin neben Wissenschaftlern wie dem Hirnforscher Wolf Singer, der Kritikerin Verena Auffermann oder dem Anglisten Klaus Reichert zu Wort. Die Herausgeber haben ihren Autoren die Wahl des Rituals ebenso freigestellt, wie das Verständnis dessen, was ein Ritual überhaupt ist. Das hat zur Folge, dass auch so mancher Schubladentext, der gerade griffbereit war, mit ins Buch hineingerutscht ist, ohne dass klar wird, was er zur Sache beizutragen hätte. Aber das ist nur ein kleiner Schönheitsfehler dieser kompakten Sammlung.

    Wenn Schriftsteller über Rituale schreiben, dann ist naturgemäß das Schreiben ein zentrales Thema. Der Schreibprozeß ist immer ein Aufbruch ins Ungewisse, der mit ritualisierten, festen Regeln eine Ordnung bekommen soll, um zumindest das Anfangen zu erleichtern. Ob nachts mit Rotwein und Zigaretten, ob früh morgens noch im Schlafanzug oder im Bademantel: stets muß es so und darf nichts anders sein. Stephan Wackwitz findet dafür die Formel: "Die Rituale sind älter als wir. Und sie haben viel mehr Zukunft. Deshalb brauchen wir sie sogar dann, wenn niemand sie mit uns teilt." Wackwitz erzählt von einem Coffeeshop in London, dessen einzige Besonderheit darin besteht, daß er diesen Ort jedesmal aufsucht, wenn er nach London kommt. Diese Wiederkehr verleiht ihm das Gefühl, die Zeit für einen Augenblick besiegt zu haben. Rituale sind häufig an einen besonderen Ort gebunden, aber immer entstehen sie durch konsequente Wiederholung. Die rituelle Wiederholung einer Handlung ist eine Art Ewigkeit für Sterbliche. Wolf Singer beschreibt das Ritual als Zeitnische, die Geborgenheit bietet. Wer wüßte das besser als die Kinder, die Abend für Abend etwas vorgelesen bekommen wollen? Am liebsten hören sie stets den selben Text und überwachen streng dessen korrekte Einhaltung.

    Das Vorlesen ist ein Gebet ist ein Ewigkeitsgefühl. Das Rituelle und das Religiöse berühren sich zwangsläufig. Rituale sind wie Religionen dort zu Hause, wo es an Übersichtlichkeit mangelt. Im Schreiben also. Oder auf Reisen. In der Liebe ebenso wie auch dort, wo es um die Bewältigung dessen geht, was man so harmlos "das Leben" nennt. Wolfgang Hilbig, dessen Erzählung "Verabredung mit dem Briefträger" die Anthologie eröffnet, erzählt von einem Mann, der Nacht für Nacht Briefe an eine Dame in seiner Nachbarschaft schreibt. Er kennt sie nur als Silhouette hinter dem erleuchteten Fenster. Er schreibt ihr über sein Befinden oder über das Wetter, aber wichtig ist nicht, was er schreibt, sondern die Regelmäßigkeit, mit der er es tut. "Es war ihm zur Gewohnheit geworden", heißt es gleich am Anfang, und jeder Brief endet mit der Formel: "Fortsetzung folgt". Damit erteilt er sich Absolution zum Weiterschreiben und Weiterleben und stemmt sich so dem Chaos und dem Untergang entgegen. "Rituale sind von eigentümlicher Kraft", schreibt Wolfgang Hilbig. "Ob Sie mir zustimmen oder nicht, es wird damit etwas aufgehalten, was verschwinden will." Bei Stephan Wackwitz findet sich der merkwürdige, paradoxe Satz: "Rituale bewahren das Leben vor dem Leben". Bei Hilbig begreift man, warum das so ist.

    Aus der Gefangenschaft, die das Ritual ja ebenso bedeutet, wie es Geborgenheit bieten kann, gibt es nur einen Ausweg: die Improvisation. Wolf Singer beschreibt sie als das Gegenteil des Rituals. Der Improvisierende unterwirft sich klug der Zeit, bekennt sich zum Wandel und erfreut sich der Überraschung. Singer schlägt nun vor, die Improvisation zum allmorgendlichen Ritual zu machen und damit gewissermaßen dialektisch das Eine im Anderen aufzuheben. So könnte dann das Programm eines glücklichen Menschen aussehen, der es geschafft hat, zwei gegensätzliche Sehnsüchte miteinander zu versöhnen: "die eine, die ihre Lust im Neuen sucht, und die andere, die nach Geborgenheit im immer Gleichen strebt. Zwei Kinderträume, die es vor der Zeit zu schützen gilt."