Wenn Schriftsteller über Rituale schreiben, dann ist naturgemäß das Schreiben ein zentrales Thema. Der Schreibprozeß ist immer ein Aufbruch ins Ungewisse, der mit ritualisierten, festen Regeln eine Ordnung bekommen soll, um zumindest das Anfangen zu erleichtern. Ob nachts mit Rotwein und Zigaretten, ob früh morgens noch im Schlafanzug oder im Bademantel: stets muß es so und darf nichts anders sein. Stephan Wackwitz findet dafür die Formel: "Die Rituale sind älter als wir. Und sie haben viel mehr Zukunft. Deshalb brauchen wir sie sogar dann, wenn niemand sie mit uns teilt." Wackwitz erzählt von einem Coffeeshop in London, dessen einzige Besonderheit darin besteht, daß er diesen Ort jedesmal aufsucht, wenn er nach London kommt. Diese Wiederkehr verleiht ihm das Gefühl, die Zeit für einen Augenblick besiegt zu haben. Rituale sind häufig an einen besonderen Ort gebunden, aber immer entstehen sie durch konsequente Wiederholung. Die rituelle Wiederholung einer Handlung ist eine Art Ewigkeit für Sterbliche. Wolf Singer beschreibt das Ritual als Zeitnische, die Geborgenheit bietet. Wer wüßte das besser als die Kinder, die Abend für Abend etwas vorgelesen bekommen wollen? Am liebsten hören sie stets den selben Text und überwachen streng dessen korrekte Einhaltung.
Das Vorlesen ist ein Gebet ist ein Ewigkeitsgefühl. Das Rituelle und das Religiöse berühren sich zwangsläufig. Rituale sind wie Religionen dort zu Hause, wo es an Übersichtlichkeit mangelt. Im Schreiben also. Oder auf Reisen. In der Liebe ebenso wie auch dort, wo es um die Bewältigung dessen geht, was man so harmlos "das Leben" nennt. Wolfgang Hilbig, dessen Erzählung "Verabredung mit dem Briefträger" die Anthologie eröffnet, erzählt von einem Mann, der Nacht für Nacht Briefe an eine Dame in seiner Nachbarschaft schreibt. Er kennt sie nur als Silhouette hinter dem erleuchteten Fenster. Er schreibt ihr über sein Befinden oder über das Wetter, aber wichtig ist nicht, was er schreibt, sondern die Regelmäßigkeit, mit der er es tut. "Es war ihm zur Gewohnheit geworden", heißt es gleich am Anfang, und jeder Brief endet mit der Formel: "Fortsetzung folgt". Damit erteilt er sich Absolution zum Weiterschreiben und Weiterleben und stemmt sich so dem Chaos und dem Untergang entgegen. "Rituale sind von eigentümlicher Kraft", schreibt Wolfgang Hilbig. "Ob Sie mir zustimmen oder nicht, es wird damit etwas aufgehalten, was verschwinden will." Bei Stephan Wackwitz findet sich der merkwürdige, paradoxe Satz: "Rituale bewahren das Leben vor dem Leben". Bei Hilbig begreift man, warum das so ist.
Aus der Gefangenschaft, die das Ritual ja ebenso bedeutet, wie es Geborgenheit bieten kann, gibt es nur einen Ausweg: die Improvisation. Wolf Singer beschreibt sie als das Gegenteil des Rituals. Der Improvisierende unterwirft sich klug der Zeit, bekennt sich zum Wandel und erfreut sich der Überraschung. Singer schlägt nun vor, die Improvisation zum allmorgendlichen Ritual zu machen und damit gewissermaßen dialektisch das Eine im Anderen aufzuheben. So könnte dann das Programm eines glücklichen Menschen aussehen, der es geschafft hat, zwei gegensätzliche Sehnsüchte miteinander zu versöhnen: "die eine, die ihre Lust im Neuen sucht, und die andere, die nach Geborgenheit im immer Gleichen strebt. Zwei Kinderträume, die es vor der Zeit zu schützen gilt."