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Roberto Bolaño: "Die Eisbahn"
Passion und Korruption

Mit dem Roman „Die Eisbahn“ begann 1993 die Karriere eines der bedeutendsten Autoren der Gegenwartsliteratur. Viele literarische Qualitäten Roberto Bolaños kommen in dieser Geschichte um einen Beamten und seine Liebe zu einer Eiskunstläuferin bereits zur Geltung. Eine Wiederentdeckung.

Von Wolfgang Schneider | 15.10.2021
Buchcover Roberto Bolaño: „Die Eisbahn“
Mit seinem Roman "Die Eisbahn" legte der chilenische Schriftsteller Roberto Bolaño den Grundstein seines Erfolgs (Buchcover: S.Fischer Verlag, Hintergrund: IMAGO / ITAR-TASS/Sergei Bobylev)
Enric Rosquelles, studierter Psychologe und Fachmann für Soziales, ist die rechte Hand der Bürgermeisterin im spanischen Küstenörtchen Z. Ein Traum von Schönheit treibt den beleibten Beamten um. Er vergöttert die Eiskunstläuferin Nuria Marti. Mit dem Eiskunstlauf ist es allerdings eine schwierige Sache in den heißen Touristenregionen Spaniens. Rosquelles scheut jedoch keine Kosten. In einem halb verfallenen, labyrinthischen Palast lässt er für wunderschöne Nuria eine professionelle Eisbahn bauen. Das geht natürlich nur, indem er öffentliche Gelder umleitet und buchstäblich einfriert.
"Ich trieb Geld auf, wo es eigentlich keins gab, auch wollte niemand die Verwendung jener Haushaltsposten- oder Pöstchen überprüfen, niemand in diesem von Argwohn zerfressenen Städtchen wagte es, etwas zu argwöhnen; ich log nicht, zumindest nicht immer. Es gelang mir, drei Gemeinderäte davon zu überzeugen, dass meine Bauarbeiten der Stadt und dem Gemeinwohl dienten."

Eine Frau und ihr Bewunderer

Die Stromgeneratoren dröhnen, Nuria vollführt ihre Sprünge und Pirouetten, und am Rand der Eisbahn sitzt der korrupte, seinerseits völlig unsportliche Beamte, blättert in Akten – und bewundert.
Kein Zweifel, das ist eine tolle Geschichte und ein grandioses Bild für die Obsession, die aus einer Liebe hervorblühen kann, erst recht, wenn sie – wie in diesem Fall – platonisch bleibt. Aber der frühe Roman von Roberto Bolaño bietet noch andere Abgründe. Eines Morgens liegt eine weibliche Leiche auf dem Eis.
"Auf Knien, vielleicht weil mir schwindlig war und ich den Drang verspürte, mich zu übergeben, schaute ich zu, wie das hartgefrorene Eis das Blutbad aufzusaugen begann."

Multiperspektivisches Erzählen

Drei Figuren erzählen reihum in der Ich-Form und tragen immer neue Facetten zum Geschehen bei. Der eine ist der Beamte selbst; sein Ton ist gekennzeichnet von einer gewissen Großspurigkeit und Eitelkeit und gerade deshalb fesselnd. Bei den beiden anderen Erzählerfiguren handelt es sich um halb verkrachte Literaten, Migranten aus Mexiko.
Buchcover: Roberto Bolaño: „Cowboygräber“
Bolaños "Cowboygräber" - Die Illusion von Freiheit und Glück
Sein Roman "2666" machte Roberto Bolaño weltberühmt. In drei posthum erschienenen Erzählungen zeigt der Chilene noch einmal sein ganzes Können. Es geht um die gescheiterte Revolution und die einstigen Hoffnungen einer ganzen Generation.
Der eine von ihnen, Remo Morán, hat immerhin mit diversen Geschäften Erfolg, betreibt Schmuckläden für Touristen und einen Campingplatz, auf dem er seinen Dichter-Kollegen, als Nachtwächter angestellt hat – ein Job, mit dem Bolaño selbst eine Weile sein Geld verdient hat und der entsprechend fachkundig beschrieben wird, etwa wenn es um das Müllproblem geht oder um die Frage, wer die Sanitäranlagen mit unerfreulichen, aber nicht ganz ohne künstlerischen Anspruch ausgeführten Kotschmierereien verunziert hat.
Es ist reizvoll, wie Bolaño mit den Perspektiven seiner Ich-Erzähler spielt und sie aus anfänglicher Distanz immer weiter zusammenführt. Es wird deutlich, dass sich Morán und Rosquelles früher schon einmal ins Gehege gekommen sind. Und nun muss der übergewichtige Psychologe, der die schöne Eiskunstläuferin zwar chancenlos, aber umso eifersüchtiger liebt, feststellen, dass sie ausgerechnet Morán zu ihrem Liebhaber gemacht hat.
"Alles, was dieser Morán berührte, wurde durch ihn beschmutzt, entwertet, erniedrigt… Ich habe eine natürliche Begabung, Personen richtig einzuschätzen, und vom ersten Moment an wusste ich, dass es sich bei ihm um einen Scharlatan, einen ausgemachten Betrüger handelte."
Morán pflegt seinerseits den gehässigen Blick auf den romantischen Beamten:
"Ich konnte mir eine ungefähre Vorstellung von dem Mann machen. Abstoßend. Ein kleiner Westentaschentyrann voller Komplexe und Ticks, der sich für den Mittelpunkt der Welt hielt, aber letztlich nicht mehr war als ein fetter, zur Weinerlichkeit neigender Widerling."

Das aufgelöste Verbrechen

Es gibt noch eine Reihe weiterer schillernder Figuren im löchrigen Schicksalsteppich dieses Romans, darunter eine alte, zur Bettlerin gewordene Opernsängerin und ihre junge, an chronischem Nasenbluten leidende Begleiterin, die bedrohlich wirkt, schon weil sie immer ein großes Messer unterm Kleid trägt. Allerdings können diese Figuren – trotz einiger brillanter Szenen – das Interesse auf Dauer weniger halten.
Auch die Auflösung des Verbrechens, das mit ominösen Vorausdeutungen angekündigt wird und als Katalysator des dreifachen Erzählens und Beichtens wichtig ist, nimmt man am Ende beinahe achselzuckend hin. Diese Auflösung geschieht so beiläufig wie der Mord selbst, ist nicht wirklich verbunden mit der zentralen Achse des Romans.
Keine Frage, die Darstellung des Beiläufigen, Zufälligen, Kontingenten, Unberechenbar-Chaotischen ist ein wichtiges Charakteristikum in Bolaños späteren Werken. Aber was dort eine lebensphilosophische Qualität bekommt, wirkt in diesem frühen Roman noch wie eine nicht ganz überzeugende Konstruktion. So wie die etwas halbherzige Parodie eines Kriminalromans allenfalls ahnen lässt, welch eminente Rolle die Gewalt im Werk Bolaños noch spielen wird.
Dennoch genießt man bei der Lektüre bereits das, was wichtiger ist als der Plot – den unverkennbaren, von Christian Hansen wiederum trefflich ins Deutsche übertragenen Bolaño-Sound mit seiner wackligen Balance von Humor und Unheil, seinen dichten Beschreibungen und den oft etwas skurrilen Reflexionen. Faszinierend ist die bolañoeske Geometrie des Lebens, die sich einen Spaß daraus macht, Kreise um Mittelpunkte herum zu ziehen, welche eigentlich keine sind. Das Wesentliche ist dann eher auf der Tangente zu finden. Das gilt erst recht für die Menschendarstellung. Bolaños Figuren sind viel zu eigensinnig, um sich als funktionale Charaktere eines Krimi-Plots zurechtbürsten zu lassen.
Der Mensch ist nicht funktional – das zeigt diese schräge Geschichte über Passion und Korruption aufs Eindringlichste. "Die Eisbahn" ist ein großes literarisches Versprechen. Und wir wissen, dass es eingelöst wurde.
Roberto Bolaño: "Die Eisbahn"
aus dem Spanischen von Christian Hansen
S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M., 224 Seiten, 24 Euro.