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Rollstuhlbasketball
Streitpunkt Athleten-Klassifizierung

Die deutschen Rollstuhlbasketball-Spielerinnen und Spieler sind entsetzt: Sechseinhalb Monate vor dem Beginn der Paralympics in Tokio fordert das Paralympische Komitee, dass körperliche Beeinträchtigungen neu bewertet werden. Einer der populärsten Behindertensportarten droht dadurch bei den Spielen das Aus.

Von Jessica Sturmberg | 16.02.2020
Rollstuhl-Basketball: Deutschland (GER) vs. Großbritannien / Grossbritannien, ein Zweikampf zwischen Sophie Carrigill und Marina Mohnen und Helen Freeman.
Rollstuhlbasketball ist ein Publikumsmagnet - wie hier das Spiel Deutschland - Großbritannien bei den Paralympics 2016 (picture alliance / Nordphoto)
Welchen Grad körperlicher Einschränkung müssen Athleten aufweisen, damit sie bei den Paralympics teilnehmen dürfen? Daran entzündet sich nun ein Konflikt, bei dem die populärste Mannschaftssportart der Spiele, der Rollstuhlbasketball aus dem Programm genommen werden könnte. Jedenfalls droht das Internationale Paralympische Komitee IPC damit, wenn der Rollstuhlbasketball-Weltverband nicht bis Ende Mai die Anforderungen des neuen Klassifizierungssystems erfüllt.
Dieses wurde 2015 beschlossen und ist 2017 in Kraft getreten.
Bis Ende Januar sei dieses neue Klassifizierungssystem kein so bedeutendes Thema gewesen, erklärt der Präsident des Rollstuhlbasketball-Weltverbandes, Ulf Mehrens gegenüber unserem Sender:
"Wir führen seit 2015 mit dem IPC einen Dialog, wo es um die Klassifizierung geht von Menschen mit einer totalen - ich will es mal ganz einfach ausdrücken - totalen Behinderung bis zu einer leichten Behinderung. Das ist ein sehr lockerer, normaler, offensiver Diskussionsbeitrag gewesen von beiden Seiten. Wir haben dann 2016 Rio gemacht mit dem Klassifizierungssystem, was uns seit Jahren begleitet."
Neue Bewertung von körperlichen Beeinträchtigungen
Und das aus der Sicht der Rollstuhlbasketballer gut funktioniere, weil es die unterschiedlichen Grade körperlicher Einschränkung in einem Team zusammenbringt durch ein ausgeklügeltes Punkte-System. Leichter eingeschränkte Spieler, etwa mit einem kaputten Knie werden mit 4,0 bis 4,5 Punkten bewertet, Spieler mit großen Einschränkungen, wie einer Querschnittslähmung, mit einem Punkt. Die 5 Spieler auf dem Feld dürfen zusammen nie mehr als 14 Punkte mitbringen.
Das Internationale Paralympische Komitee sieht in diesem System vor allem die mit 4,0 und 4,5 Punkten bewerteten Athleten kritisch und fordert, dass die Spieler nochmal einer Bewertung unterzogen werden mit der Begründung:
"Der IWBF ist prinzipiell großzügiger in der Anerkennung körperlicher Schädigungen, von denen viele aus den zehn anerkannten Beeinträchtigungen herausfallen, die das Klassifizierungssystem vorsieht."
Anders als Rollstuhlbasketball-Weltverbandspräsident Ulf Mehrens erklärt das IPC zudem, dass die bisherige Auseinandersetzung zum neuen Klassifizierungssystem keine lockeren Gespräche gewesen seien. Sondern teilt schriftlich dazu mit:
"Das ist keine neue Angelegenheit. Der IWBF (Verband) war seit Jahren darüber informiert und hatte ausreichend Zeit und Gelegenheit sich damit zu befassen. Wir haben mit dem IWBF viele Monate zusammen gearbeitet um eine Lösung zu finden. Bis jetzt war der IWBF nicht bereit zu kooperieren um die Anforderungen zu erfüllen und daher mussten wir nun eine Entscheidung fällen."
Bleibt noch genug Zeit für die Begutachtung?
Dass es jetzt noch sechseinhalb Monate bis zum Beginn der Spiele sind, sei zwar bedauerlich, aber es sei noch genug Zeit um die Anforderungen zu erfüllen.
Auch hier gehen die Ansichten auseinander. Denn eine neue Begutachtung der Spieler kostet Zeit, ebenso müsste für eventuelle Einsprüche ein Schiedsgerichtsverfahren bedacht werden, erklärt Weltverbandspräsident Ulf Mehrens, der zugleich Präsident des deutschen Rollstuhlbasketballverbands ist.
"Das ist unschön, sehr, sehr unschön. Sie müssen sich vorstellen, dass auf der ganzen Welt alle Qualifizierungsturniere gespielt worden sind und die Mannschaften natürlich mit dem alten Klassifizierungssystem angetreten sind. Das hat erhebliche Auswirkung auf Spielerqualität, das hat erhebliche Auswirkung auf Sponsoren vor Orte."
Frustrierte Spieler, ideologischer Streit
Daher sei die ganze Rollstuhlbasketballwelt und ganz besonders die zehn qualifizierten Frauen - und zwölf Männermannschaften für die Spiele in Tokio gerade erschüttert darüber, dass jetzt so ein scharfer Wind weht und der Sportart der Ausschluss vom wichtigsten Wettbewerb droht. Zumal es ein Publikumsmagnet ist, der auch gerne im Fernsehen übertragen wird.
Gerade deswegen ist Männer-Bundestrainer Nicolai Zeltinger diese Zuspitzung jetzt schleierhaft. Er weiß nach erfolgreicher Qualifikation und mitten in der Vorbereitung nicht, ob sein Team nach Tokio fahren darf und wenn ja, mit welchen Spielern. Jetzt müssen schnell neue Untersuchungen stattfinden, Diagnosen geschrieben, übersetzt und dann das ganze Verfahren abgewartet werden. Parallel dazu wird weiter trainiert. Viele haben dem Sport oberste Priorität vor Ausbildung und Beruf eingeräumt und sind frustriert. Zeltinger bedauert dabei auch den ideologischen Streit:
"Inhaltlich halte ich es für sehr gravierend, dass wir jetzt in eine Debatte gerutscht sind, wo darüber diskutiert wird – ist ein Mensch behindert genug, um daran teilzunehmen oder reicht die Behinderung nicht? Da muss ich ganz ehrlich sagen, das ist ja eigentlich eine Ausgrenzung und fast eine Diskriminierung von Behinderten. Dahinter steckt natürlich die Frage: Was ist Behinderung? Und das ist halt eben eine Frage, die auch nicht ganz leicht zu beantworten ist."
Inklusiver Ansatz gefährdet
Und die bei strikter Auslegung auch bedeutet, dass die Paralympics eine exklusivere Veranstaltung sind. So ist die erklärte Absicht des IPC, dass paralympischer Sport denjenigen vorbehalten ist, die eine anerkannte Beeinträchtigung haben. Als anerkannt gelten die in einer Liste ausdrücklich genannten Schädigungen.
Der Rollstuhlbasketball versteht sich seit Jahren jedoch als inklusive Sportart, die Menschen mit wenig und mit erheblichen Einschränkungen und zum Teil auch sogar ganz ohne Behinderung zusammenbringt.
Dass die leichter Geschädigten die schwer Geschädigten aus dem Wettbewerb verdrängen könnten, sieht Nicolai Zeltinger beim Rollstuhlbasketball nicht. Im Gegenteil – ohne die weniger behinderten Spieler gäbe es gar nicht so viele Mannschaften in Deutschland, eine so hohe Akzeptanz der Sportart bis in Schulen hinein und ein entsprechend breit aufgestelltes Angebot. Ohne diesen inklusiven Ansatz könnten viele schwer Behinderte ihren Sport gar nicht ausüben. Genau diesen Ansatz sieht der Rollstuhlbasketball nun gefährdet.