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Roman
Der Angestellte bricht aus

Zunächst ist der Angestellte ein Namenloser von vielen. Dann verliebt er sich in eine Sekretärin, fälscht die Unterschrift seines Chefs und will Rache am repressiven System nehmen. "Der Angestellte" bleibt zwar plakativ in seiner Gesellschaftskritik, ist sprachlich und atmosphärisch jedoch beeindruckend.

Von Mathias Schnitzler | 27.06.2014
    Blick über die Dächer von Buenos Aires, Argentinien, aufgenommen bei wolkigem Himmel am Montag
    Kulisse des düsteren Romans: die Bürohäuser von Buenos Aires. (picture alliance / dpa / Arno Burgi)
    Buenos Aires bei Nacht. Altersheime brennen. Guerillas haben eine Gated Community zerbombt. An Schulen, so verkünden die Spätnachrichten, sind Kinder Amok gelaufen. Obdachlose, Kranke und Junkies liegen auf den Straßen. Klonhunde, die nach einem Experiment entlaufen sind, streunen durch die Stadt und fallen die Schwächsten an. Am Morgen werden Lastwagen die Toten und die Bewusstlosen zur Müllverbrennung karren.
    Über dem Geschäftsviertel kreisen Kampfhubschrauber. Einer sinkt herab und lässt seine Scheinwerferaugen über die Fenster eines Großraumbüros streichen. Kurz ist ein Gesicht zu sehen, das zurückweicht. Hinter den Glasscheiben stellt sich die Szene wie ein Albtraum dar. Geschildert in einer atemlosen Sprache, die das Tempo und die existenzialistische Atmosphäre des Romans bestimmt.
    "Die Rotoren zerstückeln die Fledermäuse. Der Motor, die Rotoren, die Scheinwerfer, die aufgeschreckten Fledermäuse. Eine nach der anderen klatschen die zerfetzten Fledermäuse als blutende Schatten gegen die Scheiben. Der Hubschrauber schlägt sie in seinen Bann, bringt sie um den Verstand ... Die Art und Weise, wie diese Geschöpfe der Nacht blind auf ihre Vernichtung zuflattern, muss ein Omen sein. Ihn schwindelt beim Anblick der lebensmüden Fledermäuse."
    Nicht einmal ein Kürzel
    Derjenige, der hier beobachtet und böse Vorzeichen sieht, ist der Held dieses Romans. Oder besser: der Antiheld. Er trägt keinen Namen und hat dem Buch doch seinen Titel gegeben: "Der Angestellte". Bei Kafka, dessen Spuren sich in Guillermo Saccomannos Roman finden lassen, trugen die Protagonisten immerhin noch das Kürzel "K". Saccomannos Menschen des 21. Jahrhunderts bleibt nur noch ihre Funktion.
    Der Chef, die Sekretärin, der Kollege, die Ehefrau – namenlos ist das gesamte Personal des Romans, der in einer nahen Zukunft spielt. Den Angestellten lernen wir nach und nach kennen. Er hinkt, ist verklemmt und hat einen Tick: Mit der Hand verscheucht er imaginäre Fliegen. Sich selbst charakterisiert er als unauffällig, duckmäuserisch. Seine tyrannische Frau und die eigenen, übergewichtigen Kinder hasst er so sehr, dass ihn Mordfantasien überkommen.
    Was aber macht der Angestellte um diese Zeit im Büro? Bis tief in die Nacht hat er gearbeitet. Als einziger, der die Abläufe vor der letzten Modernisierung kennt, glaubt er, dem Unternehmen wichtig zu sein. Gerade jetzt, wo das elektronische System durch die Terroranschläge verrückt spielt. Andererseits weiß der Angestellte genau, dass niemand unersetzlich ist.
    Schon seit Längerem sind Urlaub, Feiertage, Wochenenden abgeschafft. Wer nicht effizient genug ist, wird ausgetauscht. Von Zeit zu Zeit ereignet sich im Büro daher ein zynisches Ritual: Der Lautsprecher verkündet offiziell und ohne Vorwarnung die Kündigung eines Mitarbeiters. Vor den Augen der Belegschaft muss er seine Sachen zusammenpacken und wird vom Wachpersonal abgeführt.
    Gespenster auf der Straße
    "Wie die Dinge also liegen, kann jeder auf der nächsten Liste stehen und eine von den Vogelscheuchen werden, die kein Dach über dem Kopf haben und auf der Straße schlafen. Die Beschäftigten sehen auf diese zerlumpten Gestalten mit Verachtung herab, einer Verachtung, in der das Grauen zu erkennen ist: Sie selbst können schon morgen nach einer Entscheidung von oben eins dieser Gespenster sein, von denen sie ihrerseits mit Verachtung betrachtet werden."
    All dies geht im Kopf des Angestellten vor. Unaufhörlich, wie die Rotoren des Helikopters, kreist sein Bewusstsein um die eigene Verlorenheit. Als er im Chefzimmer einen Schatten entdeckt, sieht er seine Chance gekommen: Vielleicht kann er einen Einbruch vereiteln. Und er ist überrascht, die weinende Sekretärin zu erblicken. Er nimmt sie, über sich selbst verwundert, in die Arme. Tröstet sie, küsst sie. Bringt sie in ihre Wohnung. Und dort, während des Liebesaktes, wird ihm schlagartig klar, dass sein bisheriges Leben von Unterwerfung und Feigheit bestimmt war.
    "Eine beherzte Tat vollbringen, die den anderen die eigene Freiheit zweifelsfrei vor Augen führte. Vorsicht, sagt er sich. Vorsicht vor mir. Ich bin nämlich ein anderer."
    Mit dieser Anspielung auf Rimbauds Diktum "Ich ist ein anderer", das sich in Variationen durch den Text zieht, initiiert Saccomanno den Ausbruchsversuch des Angestellten. Durch die gefälschte Unterschrift seines Chefs will er sich nicht nur das Kapital für die erträumte Zukunft mit der Geliebten verschaffen, sondern Rache am repressiven System nehmen. Eine Rache, wir erinnern uns an die Fledermäuse, die infernalisch und erbärmlich zugleich ihren Weg nimmt.
    Nicht nur der Titel des Romans erinnert an Siegfried Kracauers berühmte Studie "Die Angestellten", die bereits 1929 von Automatisierung, Rationalisierungsdruck und Jugendwahn in der Arbeitswelt berichtete. Nimmt man die zahlreichen Kafka-, Rimbaud- und Dostojewski-Referenzen hinzu, sind das zu viele Versatzstücke auf einmal. Die Kapitalismus- und Gesellschaftskritik, selbst wenn man ihr inhaltlich folgt, bleibt oft plakativ und wenig originell. Saccomannos Sprachkunst jedoch, auch in der deutschen Übersetzung, und die dunkle, filmische Atmosphäre hinterlassen tiefe Eindrücke.
    Guillermo Saccomanno: Der Angestellte.
    Aus dem Spanischen von Svenja Becker. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2014. 192 Seiten, 18,99 Euro.