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Roman
Ein Verdacht vor zehn Jahren

Warum radikalisieren sich junge Menschen in der westlichen Hemisphäre? In Norbert Gstreins neuem Roman erinnert sich ein Lehrer an einen ehemaligen Schüler, der zum Bombenleger wurde - oder doch nicht?

Von Eberhard Falcke | 22.01.2014
    Wahrscheinlich wäre das der Albtraum eines jeden engagierten Lehrers: Dass er nach einer Bombendrohung im verschwommenen Bild des möglichen Täters ausgerechnet jenen Schüler wiederzuerkennen meint, auf dessen Bildungsweg er durch einen besonders intensiven Austausch prägenden Einfluss genommen hat.
    "Ich war wie jeden Dienstag und jeden Freitag während des Schuljahres ins Bruckner zum Abendessen gegangen und hatte gegen meine Gewohnheit die dort ausliegenden Blätter überflogen, und ich bin sicher, dass nur meine Beiläufigkeit mich überhaupt erst darauf brachte, er könnte es sein. Es war ein grobkörniges Foto, aufgenommen wahrscheinlich von einer Überwachungskamera, sein Kopf in einer Menschenmenge hervorgehoben, indem er eingekreist und heller grundiert war." [12]
    Kann das tatsächlich Daniel sein?, fragt sich beunruhigt Anton, der Lehrer einer Kleinstadt in der Provinz. Und diese Frage wird ihm zum Anlass, zurückzublicken auf den Sommer vor zehn Jahren, der für seinen Schüler Daniel wichtige Schlüsselerfahrungen brachte und in dem sich entscheidende, wenn nicht gar fatale Weichenstellungen für dessen künftigen Weg vorbereiteten. "Eine Ahnung vom Anfang" hat Norbert Gstrein seinen neuen Roman genannt, und es ist diese Ahnung, der der Lehrer Anton in einer großen Befragung seiner Erinnerung und der damaligen Ereignisse als Icherzähler nachspürt. Was war damals geschehen? Welche Anregungen hatte er seinem Schüler gegeben? Welche Folgerungen kann der daraus gezogen haben?
    "Ich hatte ihm vom ersten Schuljahr an, in dem ich sein Lehrer war, Bücher geliehen, und wenn man wollte, fand man darunter auch Titel, die angetan waren, ihn für einen normalen Alltag untauglich zu machen, aber Hunderte, Tausende von Leuten lieben dieselben Bücher und wissen damit umzugehen. Es begann damit, dass er mich eines Tages fragte, was er lesen solle. Davor hatte ich ihn immer links liegenlassen, weil ich den Ruf eines Strebers nicht mochte, der ihm voraus- und hinterhereilte, bis er mich an einem Samstag nach der letzten Stunde abfing und sich meine Aufmerksamkeit regelrecht erzwang." [45]
    Im Sommer vor zehn Jahren hatte sich zwischen Lehrer und Schüler ein besonderes Verhältnis entwickelt. Zusammen mit einem Freund tauchte Daniel draußen, außerhalb der Stadt in der Mühle am Fluss auf, die sein Lehrer als Ferienhaus und Rückzugsort nutzte. Damals entwickelte sich eine jener besonderen Konstellationen, bei der der Eigenwille der Jugend begierig die Anregungen durch den Älteren aufgriff, um sich neue Bewegungsräume und Bildungsmöglichkeiten zu erschließen. Die Mühle wurde zu einem exterritorialen Gebiet jenseits der Kleinstadtnormaliät, wo die Fantasie schweifen und die Gedanken Feuer fangen konnten. Was bei den Bürgern natürlich den üblichen Argwohn erregte, ob der pädagogische Eros, da nicht etwa auf Abwegen unterwegs war. Doch Anton ging es allein darum, seine Schüler zu eigenständigen Menschen zu erziehen. Und Daniel besaß für die Eigenständigkeit mehr Talent als andere. Da er aber außerdem von der Passion für die großen Fragen und Zweifel getrieben wurde, ergab sich daraus eine brisante Mischung.
    "'Das hat alles keinen Sinn', sagte er, ohne mir zuzuhören, als ich ihn umzustimmen versuchte. 'Wohin auch immer ich blicke, ich sehe nur Leute mit leeren, vergeudeten Leben, die sich mit sinnlosen Dingen beschäftigen, leere, sinnlose Gespräche führen und darauf warten, dass sie von dem Unsinn erlöst werden und sterben.' "[209]
    Bei alldem waren die pädagogischen Einflüsse des Lehrers natürlich nur ein Teil der Prägungen, die Daniel erfahren hat, sie waren nur die Vorschule für das wirkliche Leben. Tatsächlich einschneidende Erfahrungen machte er auf einer Reise nach Israel, wo er mit den Härten des Palästina-Konfliktes konfrontiert wurde. Eine weitere aufwühlende Station war die Begegnung mit einer evangelikalen Predigersekte, deren Anführer von einem neuen heimlichen Weltkrieg fabulierte.
    Was die Handlungsstruktur angeht, hat Norbert Gstrein seinen Roman durchaus einfach angelegt. Erzählt wird aus der Perspektive des Lehrers Anton, der im Rückblick sein eigenes Verhalten gegenüber Daniel einer Selbstprüfung unterzieht und im Gespräch mit anderen versucht, die weitere Entwicklung seines Schülers zu rekonstruieren. Darüber aber geraten erzählerisch eine Vielzahl von Themen und eine Fülle von Stoff in den Blick. Das ist die besondere Kunst des Romans. Ausgehend von einer übersichtlichen Konstellation von Handlung und Schauplatz eröffnet er ein weites Feld der Reflexion. Wie funktioniert ein Lehrer-Schülerverhältnis und welche Konsequenzen können daraus entstehen? Welche Windungen kann ein Bildungsweg nehmen? Wie entsteht die Radikalisierung einer persönlichen Moral und Gesinnung? Hat bei Daniel der Prozess einer Fanatisierung stattgefunden, wie man ihn ähnlich heute vor allem bei islamistischen Glaubenskriegern kennt? Nicht nur Daniel verkörpert ein moralisches Problem, auch Anton der Lehrer gerät auf der Suche nach einer moralischen Position gehörig ins Schlingern.
    "Ich sagte, das Gesetz sei nicht alles und man brauche nicht lange nachzudenken, um auf Beispiele zu kommen, in denen nicht die Verletzung des Gesetzes, sondern seine strikte Befolgung das Böse sei. Ich sagte wirklich "das Böse", und dann sagte ich noch, es könne ja ein Reiz darin liegen, es einmal mit dem Bösen zu versuchen, wenn man mit dem Guten nirgendwo hingelangt sei. Es war hochtrabend und unverzeihlich verschwommen, und ich stellte mir die Aufregung vor, wenn der Elternverein darauf gestoßen würde." [222f]
    Wie verhalten sich Menschen, wenn sie von Widersprüchen getrieben werden, wenn ihre Moralvorstellungen ins Dilemma geraten, wenn sie sich von der Unordnung, der Ungerechtigkeit der Welt in die Zange genommen sehen? Das sind die wiederkehrenden Konflikte, das ist der rote Faden im Werk von Norbert Gstrein. Davon hat er sowohl am Beispiel historischer als auch sehr aktueller Begebenheiten wie dem Jugoslawien-Krieg erzählt, und er hat es sogar gewagt, die Vorgänge im Suhrkamp-Verlag als Konfliktmuster zu benutzen.
    Mit seinem neuen Roman "Eine Ahnung vom Anfang" gräbt er sich nun tief hinein in die Analyse der möglichen Ursachen, die heute in der westlichen Hemisphäre womöglich zu einer Radikalisierung führen können, die es nicht bei zornigen Warnungen belässt, sondern schließlich in einem Bombenanschlag an öffentlichem Ort kulminiert. Gewiss, manches in diesem Roman entspringt mehr dem forschenden Gedanken als einem hautnahen Blick auf die Wirklichkeit. Trotzdem bleibt diese Gedankenarbeit in jedem Moment plastisch und anschaulich. Das macht den Roman zu einer spannenden Geschichte, zu einer lebendigen Auseinandersetzung und zu einer aufregenden Recherche im Möglichkeitsfeld unserer Zeit. Und da die Auflösung des Falles auch noch ganz anders verläuft, als erwartet, erweist sich "Eine Ahnung vom Anfang" außerdem noch als eine fesselnde Studie über die immer sprungbereite Neigung zu Misstrauen und Verdächtigungen.
    Norbert Gstrein: "Eine Ahnung vom Anfang"
    Hanser, München 2013. 351 Seiten, 21,90 Euro.