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Roman "Erschlagt die Armen!"
Pointiert, sarkastisch und entlarvend

Shumona Sinha wuchs in Kalkutta auf. Sie publizierte mehrere Gedichtbände und verdiente von 2009 bis 2011 ihren Lebensunterhalt als Dolmetscherin bei der französischen Asylbehörde in Paris. Sie wurde entlassen, weil sie nicht auf die Idee gekommen war, ihren Roman "Assomons les pauvres" - "Erschlagt die Armen!" - dem staatlichen Arbeitgeber vor der Drucklegung vorzulegen.

Von Sigrid Brinkmann | 02.11.2015
    Eine ältere Frau zählt und stapelt Eurocents
    Der Romantitel "Erschlagt die Armen" klingt wie eine bösartige Provokation. (Imago)
    Shumona Sinhas Ich-Erzählerin arbeitete - ganz wie die Autorin - als Dolmetscherin in einer Behörde, die Flüchtlinge anhört und über deren Verbleib in Frankreich entscheidet. Ein Schlüsselroman ist das Buch nicht, doch man erkennt schnell, dass nur jemand, der die bürokratischen Abläufe in staatlichen Behörden kennt, so pointiert, sarkastisch und entlarvend über menschliche und institutionelle Schwächen schreiben kann.
    "Es war, als würden hunderte Männer ein und dieselbe Geschichte erzählen und als wäre die Mythologie zur Wahrheit geworden. Ein einziges Märchen und vielfältige Verbrechen. (...) Ich hörte mir ihre Geschichten aus zerhackten, zerstückelten, hingespuckten, herausgeschleuderten Sätzen an. Die Leute lernten sie auswendig und kotzten sie vor die Computerbildschirme. Menschenrechte enthalten nicht das Recht, dem Elend zu entkommen."
    Als Shumona Sinhas Erzählerin nach einem erschöpfenden Arbeitstag in der Behörde von einem Migranten in der Metro laut beleidigt wird, bricht aus ihr die angestaute Wut auf Männer heraus, die Asyl verlangen, aber die Gleichheit der Geschlechter leugnen und auf eine berufstätige Frau wie sie herabblicken. Sie zieht dem Elenden eine Flasche über den Kopf. Die Frau, die zwischen illegalen Flüchtlingen und Anwälten vermittelt, wird nun ihrerseits ein Fall für die Behörden, sitzt in der Zelle, wird verhört und denkt über ihr Leben und ihre eigenen Fluchten nach. Sinha nutzt diese zweite Erzählebene, um prinzipielle Überlegungen zum Asylrecht und zur schwierigen Rolle der Dolmetscher in ihren Text einzustreuen.
    Wut und Trauer
    "Dass eine weiße Frau sie befragt, nehmen die Männer noch hin, aber eine dunkelhäutige Frau, die aus der gleichen Region stammt, das ist für sie zu viel. Da ich aus Indien komme, Frau bin und mich strikt an die Arbeitsregeln halte, bestand von vornherein eine große Spannung. Ich habe viel Wut abbekommen und es hat mich sehr traurig gemacht, nicht helfen zu können. Als Dolmetscherin kann ich unmöglich Aussagen erfinden oder weglassen. Helfen, indem ich lüge, das geht nicht. Wenn ich helfen will, engagiere ich mich als Ehrenamtliche in Vereinen."
    Die ahnungslos konstruierten Herkunftswelten der Bittsteller entpuppen sich schnell als verworrene Fantasiegespinste. In knappen Dialogen entblößt Sinha das Groteske der erfundenen Biografien. Ethnische Solidarität hält sie für eine Form des "umgekehrten" Rassismus.
    "Das Buch ist politisch inkorrekt, aber ganz ehrlich, ich habe es nicht darauf angelegt. Mich konform zu verhalten und auszudrücken, das war nie meine Sache. Einen Asylsuchenden zu erniedrigen, käme mir nie in den Sinn, aber es nützt auch nichts, kleine Mitleidstropfen zu versprühen. Ich will die Mängel und Grenzen des Systems zeigen."
    Eine im Buch nicht explizit formulierte Lösung für diese Misere sieht Shumona Sinha in der Erteilung befristeter Arbeitsgenehmigungen. Drei bis fünf Jahre kontinuierlicher Lohnarbeit, meint sie, würden Flüchtlingen reichen, um in ihrer Heimat eine wirtschaftliche Existenz aufzubauen. Niemand bliebe länger, wenn ihm erlaubt sei, das benötigte Geld zügig zu verdienen.
    "Ich habe in Paris und Umgebung Bangladescher, Pakistaner, Männer aus Sri Lanka und Indien gesehen, die in völliger Trostlosigkeit leben. Ohne Frauen, ohne Kinder. Sie haben alles hinter sich gelassen und hausen mit 20, 30 Anderen in einem Zimmer. Sie haben keinen regulären Job und bringen sich nur mit etwas Schwarzarbeit durch. Aber was ist das für ein Leben?"
    Ehrgefühl der Flüchtlinge anstacheln
    Der Romantitel "Erschlagt die Armen" klingt wie eine bösartige Provokation. Es reicht nicht zu wissen, dass die Worte einem Gedicht von Charles Baudelaire entlehnt sind. Man muss das ganze Poem kennen, um zu verstehen, dass Shumona Sinha mit ihrem Buch das Ehrgefühl der Flüchtlinge anstacheln wollte. Erst als der Bettler in Baudelaires Gedicht den potenziellen Almosengeber beschimpft, ist dieser bereit, sein Geld zu teilen. Als Emigrantin, die sich in Frankreich völlig heimisch gemacht hat, begegnet Shumona Sinha Franzosen, mithin weißen Europäern, von vornherein auf Augenhöhe. Sie karikiert gleichermaßen das "Volkstheater" der Asylsuchenden wie die Einschüchterungsversuche von Anwälten, die die Dolmetscherin auffordern, nur "glatte Sätze" zu formulieren; Sätze, die mit dem Plädoyer übereinstimmen und das Mandat erfolgreich bestätigen.
    Vier Jahre nach seiner Erstveröffentlichung in Frankreich, erscheint Shumona Sinhas Roman in deutscher Übersetzung nun zu einer Zeit, da die Behörden mehr Asylanträge denn je zu prüfen haben. Die Lektüre dieses sprachlich reichen, subtil angelegten Romans ist absolut empfehlenswert. Sie schärft die Sinne für die Welt, der Menschen zu entkommen versuchen und für das System, in dem sie Aufnahme begehren. Wie Shumona Sinha den Fluss ihrer Prosa mit lyrischen Einschüben verlangsamt, mit spitzen Dialogen beschleunigt und mit einem langen nachdenklichen Monolog enden lässt, das ist literarische Kunst.
    Shumona Sinha: "Erschlagt die Armen!". Roman. Aus dem Französischen übersetzt von Lena Müller. 128 Seiten, gebunden, 18,00 €. Edition Nautilus, Hamburg (ET: 1.9.2015)