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Roman "Machandel"
Die verschlungenen Lebensgeschichten der DDR

Die von Mythos und Realität inspirierten Lebensgeschichten der deutsch-deutschen Geschichte verleihen dem Roman "Machandel" seine Bannkraft. Regina Scheer erzählt sie in einem multiperspektivischen Zeitmosaik, welches von den 30er- bis in die 90er-Jahre reicht.

Von Michaela Schmitz | 03.10.2014
    Die Autorin Regina Scheer
    Die Autorin Regina Scheer (picture-alliance / ZB / Claudia Esch-Kenkel)
    Gefühle gehen nicht so schnell aus der Welt wie Menschen, an die sie uns binden. In der Erinnerung an sie liegt das Geheimnis der Erlösung. "Machandel" ist nur ein anderes Wort dafür. "Machandel" heißt das Debüt von Regina Scheer. Sie legt die uralte Geschichte vom Machandelbaum unter ihre eigene Erzählung. Das Märchen wird in vielen Kulturen immer ein bisschen anders erzählt. Im Grimmschen Märchen begräbt Marlene die Knochen ihres Bruders unterm Machandelbaum. So heißt im Niederdeutschen der Wacholder. Der Bruder wird als Vogel wieder lebendig und singt sein Lied vom Mord durch die eigene Stiefmutter.
    "In einem kurdischen Märchen ist der Vogel ein Uhu, anderswo ein Kuckuck. Der Baum ist manchmal eine Birke, bei den Osttscheremissen eine hohle Eiche. Aber immer geht es darum, dass ein liebender Mensch die Knochen einsammelt, die Erinnerung bewahrt und so der Vogel auferstehen und mit einem Lied von dem Mord berichten kann. Erst danach kann der Ermordete wieder in seiner lebendigen Gestalt erscheinen."
    Multiperspektivisches Zeitmosaik
    Clara ist die dominierende der drei weiblichen und zwei männlichen Ich-Erzählstimmen von Regina Scheers "Machandel" und unschwer als Alter Ego der Autorin zu erkennen. Aus ihrer Perspektive sind 13 der insgesamt 25 Kapitel erzählt. Zusammen ergeben sie ein komplex konstruiertes multiperspektivisches Zeitmosaik, das von den 30er- bis in die 90er-Jahre des 20. Jahrhunderts reicht.
    Clara kommt mit Familie und Bruder im Sommer 1985 zum ersten Mal aus Ost-Berlin in das mecklenburgische Dorf Machandel. Der 14 Jahre ältere Bruder wurde 1946 im Schloss von Machandel geboren und verbrachte seine Kindheit dort bei der Großmutter. Clara wird Jan nach diesem Tag nie wieder sehen. Er reist endgültig aus der DDR aus. Mit Machandel verbindet Clara deshalb die Wehmut nach dem verlorenen Bruder und die Sehnsucht nach Freiheit. Vielleicht verliebt sie sich deshalb sofort in den maroden Schafstall unweit vom baufälligen Schloss. Clara, Michael und ihre zwei kleinen Töchter wollen sich die halb zerfallene Kate als Wochenendhäuschen einrichten. Ein geradezu märchenhafter Platz, findet die junge Familie, um den Turbulenzen der Vor-Wende-Jahre für ein paar Stunden zu entfliehen.
    "Das Haus schien lange schon unbewohnt, die Fenster waren ohne Glas, eine Tür knarrte bei jedem Luftzug, sie war nur mit einem Draht verschlossen wie ein altes Stalltor. Zwischen den Dielen einer Stube wuchs eine kleine Birke. Wilde Rosenbüsche drängten sich an die Hauswand, später erfuhr ich, wie Emma sie nannte: Kartoffelrosen. Schwere, duftende Zweige hingen durch die Fenster ins Haus. Wir gingen durch die verlassenen Zimmer wie verzaubert, sprangen durch die Fenster in den verwilderten Garten. Und schon in diesen ersten Stunden in Machandel beschlossen wir, alles zu tun, damit das halb zerfallene Haus unseres würde."
    Es gelingt Clara und Michael, die Kate zu mieten. Nicht nur der alte Schafstall, auch die mecklenburgische Natur mit den archaischen Hügelgräbern erlebt Clara als mythische Landschaft. In ihr verliert sie ihr Zeitgefühl und nicht selten sogar komplett die Orientierung. Für Clara ist Machandel eine märchenhafte Gegenwelt zum real existierenden Sozialismus. Dazu trägt auch die Arbeit an ihrer Dissertation über das "Märchen vom Machandelboom" bei.
    "In diesem ersten Sommer in Machandel verlor ich das Gefühl für die Uhrzeit und auf unseren Streifzügen verschwammen manchmal auch die Jahrhunderte. Eichen wuchsen aus den Stümpfen noch mächtigerer Eichen. Machandelbäume standen in gerader Reihe auf Wegscheiden, die keine mehr waren. An anderen Stellen bildeten Machandelbüsche und Schlehen ein undurchdringliches Gebüsch. Manchmal fand Julia kleine versteinerte Seetiere, Muscheln, Hühnergötter wie am Meer. Und stopfte sie in die Taschen ihrer speckigen Lederhose. Noch vor den Obodriten, noch vor der Bronzezeit, als es hier noch keine Menschen gab, waren gewaltige Eismassen vom Norden her gekommen und hatten sich über diese Landschaft gewälzt, sie für immer geprägt. "Wissen die Bäume, dass hier einmal ein Meer war?", fragte Julia. "Und das Gras? Und die Blumen? Können sie sich erinnern?"
    Hoffnung auf Erlösung durch Erinnerung
    Doch bei jedem Besuch wird deutlicher, dass Clara hier auf ihre eigenen Wurzeln stößt. Machandel wird für Clara zum Ort der Begegnung: mit der deutschen Vergangenheit, ihren Opfern, der eigenen Familiengeschichte und nicht zuletzt mit sich selbst. Wie Marlene im Märchen die Knöchelchen ihres Bruders, sammelt sie Erinnerungsstücke an die vergessenen Toten. Und lässt die Verstorbenen in der Hoffnung auf Erlösung durch Erinnerung in ihrer Erzählung wieder auferstehen.
    "Tatsächlich hatte ich mich mehrmals in der Landschaft um Machandel verlaufen, kam erst nach Stunden wieder und konnte nicht erklären, warum ich den Weg zum See nicht gefunden hatte. Manchmal saß ich stundenlang auf einem Stein und vergaß, dass sie im Katen auf mich warteten. Erinnerungen brachen in die Wirklichkeit ein, Träume und Fragmente anderen Lebens. Wir hatten in den unbewohnten Räumen die bröseligen Tapetenschichten von den Lehmwänden gelöst, alte Zeitungen klebten darunter, steif von getrocknetem Leim. Ich versank in Artikeln über die Bodenreform, über die Vorteile kollektiver Landwirtschaft.
    Als ich nach den Anweisungen des alten Wilhelm den kleinen Gemüsegarten anlegte, fand ich bei jedem Spatenstich Müllreste aus weit zurückliegenden Jahrzehnten, Stiefel ohne Sohle, zerlöcherte Kochtöpfe, zerbrochene Gurkengläser. Einer der Fußbodensteine war sogar ein Morgenstein, der erste Stein vom ersten Brand nach der Winterpause, der Morgenstein, bekam eine Verzierung. Dieser hier zeigte eine Sonne und den Abdruck einer Kinderhand."
    Jans und Claras Mutter Johanna war mit ihrer Mutter Waltraud im Januar 1945 aus Königsberg hierher nach Machandel geflohen und im Schloss untergekommen. Auch der kommunistische Widerstandskämpfer Hans Langner, Jans und Claras Vater, kann im April auf dem Todesmarsch aus dem KZ Sachsenhausen entkommen. Er wird todkrank von Karel und Otto, zwei tschechischen Mit-Häftlingen, nach Machandel geschleppt. Die russische Zwangsarbeiterin Natalja versteckt sie im Schloss. Hier lernt der überzeugte Kommunist Hans seine spätere Frau Johanna kennen. Sie ist 19 Jahre jünger als er. Als 1946, ein Jahr nach Kriegsende, Sohn Jan geboren wird, steht Hans bereits am Beginn einer erfolgreichen Karriere als hoher Parteifunktionär in Ost-Berlin. Jan holen die Eltern erst 1953 von der Großmutter in Machandel zu sich in die Hauptstadt. Noch vor Claras Geburt 1960 wird er auf die Kadettenschule geschickt. Aber Jan lässt sich nicht instrumentalisieren. Er beginnt ein Studium und macht Fotos. Sein Jugendfreund Herbert erinnert sich:
    "Damals schon war etwas in Jans Fotografien, das den Genossen Schneeweiß ratlos machte. So positiv auch der hilfsbereite Jungpionier ins Bild gesetzt wurde, die alte Frau wirkte verhärmt und ärmlich, der Verkehrspolizist guckte unfreundlich. Und neben den anmutig drapierten Kleidern im Schaufenster blätterte der Putz von der Fassade. Technisch waren Jans Bilder gut, aber sein Blick war anders; er sah, was er nicht sehen sollte. "Du fotografierst gut, aber du siehst falsch", sagte der Zirkelleiter einmal, und Jan lächelte."
    Lebensgeschichten der DDR
    Seine kritischen Bilder vom Prager Frühling 1968 sind Grund für eine Verurteilung und den Bruch mit dem Vater. Er wird freier Fotograf und reist nach seinem letzten Besuch in Machandel 1985 aus. Machandel steht für seinen Traum vom freien Leben jenseits staatlicher Repressionen. Der südamerikanische Pernambuco wird für ihn zum Symbol der Freiheit. Aus dem Holz dieses seltenen Baums entstehen wertvolle Geigenbögen. Das hatte ihm der Geigenbauer und Lebenspartner seiner Großmutter Arthur als Kind in Machandel beigebracht. Später erfährt Clara von Herbert, seinem Freund aus der Kadettenanstalt, Jan hat seine Suche danach nie aufgegeben.
    "Wir saßen manchmal hier oben in Arthurs Werkstatt, blickten auf seine verfärbten Hände und hörten zu, wie er bei der Arbeit Geschichten über den Geigenbogenbaum Fernambuk erzählte, den Baum Ibirapitanga, wie ihn die brasilianischen Ureinwohner nennen; ich fühlte mich an den atlantischen Küstenwaldstreifen Brasiliens versetzt."
    Jan hatte Clara wenig von seinen Träumen erzählt. Doch seine Faszination von Machandel und die Sehnsucht nach Freiheit haben sich auf sie übertragen. Vielleicht kommt sie deshalb mit ihren Kindern so oft nach Machandel in den verfallenen Katen mit dem verwilderten Garten neben dem verwunschenen Schloss. Doch die märchenhafte Idylle zerplatzt so schnell wie ihr Traum vom urwüchsigen freien Leben jenseits staatlicher Repression. In ihrem Katen findet sie Fotos ehemaliger Bewohner. Unter anderem ein Bild von acht ärmlich gekleideten Kindern. Das älteste Mädchen im Konfirmationskleid heißt Marlene, erfährt sie später. Lange braucht Clara, um sich ihre Lebensgeschichte zusammenzureimen.
    "Ich konnte die Stelle an der Hauswand zeigen, vor die sich Marlene mit ihrem Konfirmationskleid zum Fotografieren aufgestellt hatte. Ihre Geschichte kannte ich nun, keiner hat sie mir richtig erzählt, ich habe sie mir zusammengesetzt aus Emmas Seufzern und Nataljas Liedern. Aus Wilhelms Abwinken und Augustes verächtlichem Schnauben, aus Andeutungen und hingeworfenen Sätzen habe ich Marlenes Geschichte zusammengesetzt wie das Schwesterchen aus dem Märchen vom Machandelboom die Knochen des Bruders. Aus den Wänden unseres Lehmkatens habe ich Marlenes Geschichte gekratzt, vor allem aber habe ich sie in dem Schweigen gefunden, in den verschluckten Wörtern, in den Gesprächen die verstummten, wenn ich dazukam, in der Stille, die in Machandel lautlos ist."
    Marlenes Mutter stirbt schon 1940 bei der Geburt ihres jüngsten Kindes. Von da an muss die älteste Tochter ihre sieben Geschwister alleine versorgen. Der Vater, Gutsarbeiter Paul Peters, ist bereits Soldat. Seine Kinder hungern und frieren im zugigen Katen. Die Ostarbeiterin Natalja bringt manchmal Essen aus dem Schloss. Sie freundet sich mit der fast gleichaltrigen Marlene an. Auch die 1925 in Smolensk geborene junge Russin Natalja verlor schon früh ihre Eltern.
    "1939 war ich 14 und mein Vater und meine Mutter wurden geholt, morgens um drei, sie seien Sowjetfeinde, hieß es. Ich stand im Nachthemd auf dem Korridor, als die Männer meine Eltern wegführten. Was der Vater gesagt hat, wie er aussah, habe ich vergessen. Mama hat mich traurig angeschaut mit ihren schönen Augen, ihr Haar, das sie sonst hochgesteckt trug, hing herunter wie bei einem Mädchen. "Budj silnoi", hat sie gesagt. Nur diese beiden Worte. Ich habe sie mir immer wieder gesagt, mein ganzes Leben lang. Wenn es schwer war, habe ich die Augen geschlossen und Mamas Gesicht gesehen: Sei stark."
    Rückblick auf die NS-Zeit
    Natalja wird 1941 von den Deutschen zwangsrekrutiert und arbeitet als Hausangestellte der Baronin in Machandel. Eines Nachts bekommt sie mit, wie der Aufseher Wilhelm Stüwe sich gewaltsam Zutritt zum Katen verschafft. Marlene hat Angst vor einer Schwangerschaft. Bevor jemand davon erfährt, hetzt Wilhelm die Erbgesundheitsbehörde auf sie. 1943 wird sie als vermeintlich psychisch Kranke eingewiesen und zwangssterilisiert. Sie stirbt 1944 in Schwerin-Sachsenberg; offenbar als Opfer des NS-Euthanasie-Programms.
    Emma weiß davon nichts, als sie im Herbst 1943 nach den schweren Bombenangriffen aus Hamburg nach Machandel kommt. Sie fragt nicht lange; sie zieht in den Katen und sorgt für die allein gebliebenen Geschwister Marlenes. Erst spät ahnt sie, was mit Marlene geschehen ist.
    "Alles, was geschehen kann, ist auch in Machandel geschehen. Clara hat immer viel gefragt, aber so sind wir hier im Norden nicht, wir reden nicht viel. Man sieht doch alles. Mit 20 heiratete ich Walter, der war Schiffsarzt, zehn Jahr älter als ich. Mit 29 wurde ich Witwe. Als ich nach Machandel kam, war ich noch wie betäubt. Schon vor dem großen Angriff hatte mir mein anderer Bruder, der auch Arzt war, aus seinem Lazarett in Wilna über das winzige Dorf in der Mecklenburger Schweiz geschrieben. Dort zwischen den Hügeln und Seen würde man den Krieg nicht spüren. Auf dem Lande gäbe es immer genug zu essen. Und er habe im Lazarett einen Witwer von dort, dessen acht Kinder seien allein in ihrem Haus. Dort fehle eine Hausfrau, dort solle ich das Kriegsende abwarten."
    Emma bleibt auch nach dem Krieg in Machandel. Als sie nach seiner Rückkehr Paul Peters Frau wird und noch einen Sohn bekommt, ist Marlene bereits tot. Auch für die Russin Natalja ist Machandel längst zur Heimat geworden. Natalja hatte sich im Krieg in den russischen Kriegsgefangenen Grigori verliebt. Der Offizier wird in ein sowjetisches Straflager gebracht. Denn russische Offiziere durften sich nicht in Gefangenschaft begeben. 1946 bringt Natalja ihre gemeinsame Tochter Lena allein zur Welt. Für Claras Bruder ist die gleichaltrige Lena wie eine Schwester. Für alle anderen Dorfbewohner bleibt sie "die Stumme". Mit einem Bücherbus fährt die Bibliothekarin über die Dörfer. Erst 1994, nach dem Tod ihrer Mutter, zieht Lena zu ihrem Vater Grigori nach Berlin. Die Rückkehr des greisen Grigori hat Natalja nicht mehr erlebt. Er war mit seiner neuen russischen Familie erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nach Deutschland ausgewandert. Seine Tochter Lena kümmert sich um die Enkel und zieht später mit Jans Freund Herbert zusammen.
    Anders als Jan wollte Herbert vor der Wende in der DDR bleiben. Als führendes Mitglied der Opposition versuchte er, die längst fälligen Veränderungen im Land aktiv mitzugestalten. Doch er und seine Frau Maria werden 1988 verhaftet und ausgewiesen. Clara und Michael gelingt es, ihre beiden Söhne nach einer Nacht aus dem Heim zu holen. Sie verlassen mit den Eltern das Land. Doch jahrelange Bespitzelung und Hausarrest haben ihre Spuren hinterlassen. Die Ehe von Maria und Herbert zerbricht.
    "Die Erde unter unseren Füßen war in Bewegung geraten, befremdet sah ich, wie aus dem Chaos etwas entstand, das nicht das war, wovon wir geträumt hatten. Erst da begriff ich, dass unsere Träume sehr verschieden gewesen waren. Plötzlich schien es nur ein Ziel zu geben: sich dem Westen anzuschließen. Maria kam gar nicht mehr nach Berlin zurück."
    Die Jahre vor dem Zusammenbruch der DDR
    Auch Claras und Michaels Ehe leidet massiv unter den Drangsalierungen und ständigen Auseinandersetzungen in den Jahren vor dem Zusammenbruch der DDR. Doch auch das Ende der DDR bringt für sie nicht die erhoffte Wende. Es beginnt eine Zeit zerbrechender Illusionen. Als Michael eine Ingenieursstelle in der Schweiz annehmen muss, weil sein alter Arbeitsplatz nicht mehr existiert, geht auch ihre Partnerschaft zugrunde. Clara bleibt mit den Töchtern in Berlin und kümmert sich um den pflegebedürftigen Vater. Ihre alkoholkranke Mutter ist bereits tot. Der Vater vergräbt sich in Schweigen. Und verliert sich immer mehr ins Grübeln über die Vergangenheit und seine erste große Liebe Else.
    "Das ist alles so verschlungen, so schwierig, und es ist so lange her und doch nicht vorbei. Verschlungen. Doppeldeutiges Wort. Es ist alles so miteinander verwoben, aber es ist auch verschlungen von der Zeit. Jetzt sitze ich hier und warte auf die Pflegekräfte, die mir das Abendbrot bringen und mich waschen werden und den Urinbeutel wechseln. Johanna liegt schon seit 15 Jahren auf dem Friedhof III in Pankow. Else hat kein Grab. Else habe ich vor ihrem Tod verleugnet und Johanna ist zur Trinkerin geworden an meiner Seite. Meinen Freund Karel haben unsere Genossen ermordet und ich habe es hingenommen. Meinen Sohn haben sie eingesperrt und ich habe ihn nicht verteidigt. Aber meinen Schwur aus der Zeit des Roten Frontkämpferbundes habe ich gehalten. Stets und immer ein Soldat der Revolution zu sein. Meine revolutionäre Pflicht gegenüber der Arbeiterklasse und dem Sozialismus zu erfüllen. "Eine Revolution hat nicht stattgefunden", sagt Jans Freund."
    Als ihr Vater beerdigt wird, erfährt Clara von Michael, dass seine neue Partnerin in der Schweiz ein Kind von ihm erwartet. Sie lassen sich scheiden. Schon vorher hatte Clara ihre Stelle an der Humboldt-Universität gekündigt. Sie kam mit dem Konkurrenzkampf und der kalten Einsamkeit am Institut unter Leitung des neuen West-Chefs nicht zurecht. Auch nach Machandel zieht es sie immer seltener, als ihre Töchter größer werden. Doch den Katen verkauft Clara nicht. Trotz attraktiver Angebote von Immobilienspekulanten. Auch Machandel hat sich nach der Wende verändert. Das Schloss ist ein moderner Hotelbetrieb geworden und die Kastanienallee asphaltiert. Natalja und Emma liegen neben Wilhelm auf dem Friedhof. Der Konsumbus kommt schon lange nicht mehr in den Ort. Nach und nach besetzen Grigoris Familie, Lena und Herbert, den alten Katen. Auch die neuen Bewohner hinterlassen ihre Spuren im verfallenden Schafstall.
    Doch der verwilderte Garten erzählt die sich immer wiederholende Geschichte von Hoffnung und Vergeblichkeit weiter.
    Was bleibt, ist Wehmut über die Opfer der Vergangenheit. Und die Hoffnung darauf, aus dem Zusammentragen der individuellen Schicksale, wie im Märchen vom Machandelbaum, neues Leben entstehen zu lassen. Machandel heißt die Beschwörungsformel. Die Heilkraft der Machandel birgt das uralte Wissen um das Geheimnis der Erlösung durch Erinnerung. Über Generationen hinweg ist es im Märchen vom Machandelbaum weitergegeben worden.
    Regina Scheer setzt diese Menschheitserzählung mit ihrem Roman "Machandel" in die Gegenwart hinein fort. Genau daraus bezieht Regina Scheers Roman über die deutsch-deutsche Vergangenheit seine Bannkraft. In Scheers märchenhafter Romanwelt von "Machandel" entstehen aus umfangreichem historischem Material zwischen Mythos und Realität beseelte Lebensgeschichten. Besonders bewegen Regina Scheers starke Frauengestalten wie Emma und Natalja, die der alles beherrschenden Gewalt und dem Tod ihre einfache Menschenliebe und fraglose Hilfsbereitschaft entgegensetzen.
    Buchinfos:
    Regina Scheer: "Machandel", Knaus Verlag 2014. 480 Seiten, Preis: 22,99 Euro