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Roman "Sie kam aus Mariupol"
Was kann ein Mensch ertragen?

Es ist mehr als die Spurensuche nach dem Schicksal ihrer Mutter. Die, aus einer enteigneten großbürgerlichen Familie in Russland stammend, nahm sich noch in der noch jungen BRD das Leben. Natascha Wodin schreibt mit ihrem autobiografischen Roman gegen das Vergessen der ausländischen Zwangsarbeiter und Kriegsgefangenen in deutschen Lagern an.

Von Uli Hufen | 26.02.2017
    Ein erschöpfte russische Zwangsarbeiterin ruht sich im April 1945 in der Sammelstelle für Zwangsverschleppte in Würzburg auf Gepäckstücken aus. Sie war von Einheiten der 7. amerikanischen Armee befreit worden und wartet nun auf ihre Repatriierung.
    Ein russische Zwangsarbeiterin ruht sich im April 1945 in der Sammelstelle für Zwangsverschleppte in Würzburg auf Gepäckstücken aus. Sie war von Einheiten der 7. amerikanischen Armee befreit worden und wartet nun auf ihre Repatriierung. (picture-alliance / A0009)
    Es war ein langer Weg. Ein sehr langer. Der Zweite Weltkrieg ist seit beinahe 20 Jahren vorbei, da erfährt eine namenlose junge Frau von ihrer Schwägerin Gertrud Erstaunliches. Den Krieg zwischen Deutschland und der Sowjetunion habe 1941 nicht Stalin begonnen, so Gertrud, sondern Hitler. Wirklich. Die junge Frau ist erschüttert und kann die Neuigkeit zuerst nicht glauben. Aus heutiger Sicht ist das schwer vorstellbar, aber Mitte der 60er Jahre war es in Westdeutschland oder jedenfalls in Bayern offenbar keine Selbstverständlichkeit zu wissen, wer 1941 wen angegriffen hat. Für die junge Frau ist das nicht ganz unerheblich: Ihr Ehemann ist NPD-Mitglied, ihr Schwiegervater war einst Gauleiter. Ihre eigenen Eltern jedoch kamen 1944 als sowjetische Zwangsarbeiter nach Deutschland. Was das bedeutete, hatte sie in Lagern für Displaced Persons, von liebreizenden deutschen Kindern und Lehrern im fränkischen Forchheim gelernt:
    "Ich stammte von Barbaren ab"
    "Ich stammte … von Barbaren ab. Von den Kommunisten, den Bolschewisten, vom Antichrist, wie unsere Lehrerin in der Schule die Russen nannte. Ich war schuld am Unglück der Lehrerin. Ihr Mann war in Russland gefallen, die Russen hatten ihn ermordet. Die Russen hatten zahllose deutsche Männer ermordet und zu Krüppeln gemacht. Dann waren sie nach Deutschland gekommen und hatten deutsche Frauen vergewaltigt. Die Russen hatten den Deutschen ihr halbes Land weggenommen, und sie hatten vor, auch den Rest in Besitz zu nehmen.
    Ich hasste meine russischen Eltern. Ich wollte nicht ihr Kind sein." (Zitat)
    In dem Roman "Die Ehe" von 1997, aus dem das Zitat stammt, hat Natascha Wodin beschrieben, wie aus einem schwer traumatisierten Mädchen ein denkender junger Mensch wurde. Ein Mensch, der allmählich begreift, dass sein Leid nicht selbst verschuldet ist, sondern das Ergebnis fataler historischer Zusammenhänge. "Die Ehe" ist ein Roman, aber die massiven Parallelen zur Biografie der Autorin legen nahe, dass die namenlose Hauptfigur in Wahrheit Natascha Wodin heißt. Beziehungsweise: Natalja Nikolajewna Wdowina. Das ist Natascha Wodins eigentlicher Name.
    Lernen, mit dem Gefühl der Unzugehörigkeit umzugehen
    Zu Beginn des Romans sieht die Erzählerin in der Ehe mit einem gefühlskalten, gewalttätigen NPD-Mitglied noch die Chance, ihrer russischen Identität zu entkommen. Als der Roman acht Jahre später endet, lässt sie sich scheiden und beginnt eine Dolmetscherausbildung. Wodin weiß, dass sie ihre Herkunft nicht abschütteln kann, so schmerzhaft das auch ist.
    Als Wodin Mitte der 80er-Jahre auf Gedichte von Wolfang Hilbig stößt, fühlt sie sich gemeint:
    "Sie handelten von der Finsternis und der Verdammnis eines Menschen, der der einsamste und verlorenste war, von dem ich je gehört hatte. Zum ersten Mal gab es jemanden, mit dem ich die Unzugehörigkeit zu den anderen teilte." (Zitat)
    Die Unzugehörigkeit bleibt, aber Natascha Wdowina lernt mit ihr umzugehen. Sie wird ihren Nachnamen später zu Wodin vereinfachen, um sensiblen deutschen Lesern und ihren schwerfälligen Zungen den Zugang zu ihren Büchern zu erleichtern. Doch zumindest für sie selbst sind Herkunft und Muttersprache seit Anfang der 70er-Jahre keine Schandmale mehr. Wodin übersetzt aus dem Russischen - die erste deutsche Ausgabe von Wenedikt Jerofejews Klassiker "Moskau - Petuschki" geht zum Beispiel auf ihr Konto. Sie reist häufig in die Sowjetunion und wird schließlich Schriftstellerin. Doch über ihre Eltern und deren Herkunft weiß sie so gut wie nichts. Ihre Mutter Jewgenija hatte Natascha Wodin bereits mit 10 Jahren verloren. Der Vater Nikolaj lebte bis 1989, sprach über die Vergangenheit jedoch nie.
    Internetrecherche bringt eine dramatische Familiengeschichte zutage
    Man muss diese Vorgeschichte im Kopf haben, um als ganz gewöhnliches Wunder zu begreifen, was 2013 geschieht. In einer warmen Sommernacht tippt die 67jährige Natascha Wodin - vielleicht sogar eher aus Langeweile, in jedem Fall ohne besondere Hoffnung - den Namen Jewgenia Jakowlewna Iwaschtschenko in eine Internetsuchmaske, drückt Enter und trifft ins Schwarze.
    "Ich öffnete den Link und las: Iwaschtschenko, Jewgenia Jakowlewna, Geburtsjahr 1920, Geburtsort Mariupol. Ich starrte auf den Eintrag, er starrte zurück. So wenig ich über meine Mutter auch wusste, ich wusste, dass sie 1920 in Mariupol geboren war. Sollte es möglich sein, dass in einer kleinen Stadt wie dem damaligen Mariupol in einem Jahr zwei Mädchen mit demselben Vor- und Nachnamen zur Welt gekommen waren, deren Väter beide Jakow hießen?" (Zitat)
    Natascha Wodin ist in einem genealogischen Forum gelandet, hinterlässt eine Nachricht und bekommt nach ein paar Tagen eine E-Mail von einem gewissen Konstantin. Mit seiner Hilfe gelingt es Natascha Wodin nach und nach, die Geschichte der Familie ihrer Mutter zu rekonstruieren. Nicht ungefähr, sondern in einer Vielzahl farbiger Details. Unbekannte auf alten Fotos erhalten Namen, biografische Rätsel finden Erklärungen. Was dabei ans Tageslicht kommt, ist für den Leser eine dramatischer kaum vorstellbare Familiengeschichte in Zeiten von Revolution, Hunger, Weltkrieg, Bürgerkrieg und Gulag. Lesern von Isaak Babel oder Boris Pasternak, Warlam Schalamow, Boris Pilnjak oder Michail Ossorgin wird manches bekannt vorkommen. Was es aber für Natascha Wodin bedeutet haben mag, diese Geschichte nach und nach als die Geschichte der eigenen Herkunft zu begreifen und ihre Helden als Großeltern, Tanten, Onkel, Cousins und Mutter - es ist schlicht unvorstellbar.
    "Eine der Fotodateien im Anhang trug, wie ich erst jetzt sah, den Namen "Die Kinder von Matilda Iosifowna De Martino und Jakow Epifanowitsch Iwaschtschenko: Lidia, Sergej und Jewgenia". Mein Herzschlag setzte aus. Ich öffnete die Datei und verstand nicht, was ich sah. Auf Anhieb erkannte ich Lidia wieder, die hier achtzehn Jahre alt sein mochte, der etwa dreizehnjährige Junge war zweifellos Sergej, aber wo war Jewgenia, meine Mutter? Zwischen den Geschwistern nur noch ein fremdes kleines Mädchen mit einer der riesigen russischen Schleifen im Haar, die immer aussahen wie kleine Propeller auf den Köpfen der Kinder. Sehr langsam, in Etappen, begriff ich, dass genau dieses fremde kleine Mädchen meine Mutter war."
    Ein Handelshaus am Asowschen Meer und seine Zerstörung
    Natascha Wodins Mutter Jewgenija wird 1920 in Mariupol am Asowschen Meer geboren. Ihr Vater Jakow ist ein Revolutionär, der zu zaristischen Zeiten zu 20 Jahren Verbannung verurteilt worden war. Die Mutter Matilda stammt aus einer großbürgerlichen Familie italienischer Herkunft. Vor den Revolutionen von 1917 führt die Familie ein internationales Handelshaus, die Iwaschtschenkos exportieren Getreide und Steinkohle. Natascha Wodins Vorfahren leben weitab von den Zentren Moskau, Kiew und Petersburg am südlichen Rande des russischen Imperiums. Und doch denkt man beim Lesen zuweilen an Familien wie sie z. B. Wladimir Nabokov in seinen Memoiren "Sprich Erinnerung, sprich" beschrieben hat. Das Klavier, die Begeisterung fürs Singen, die Sommer auf dem Lande, die Stilmöbel, das Personal, die exzentrischen Verwandten, Gerüchte über Inzest - nichts fehlt.
    Die Oktoberrevolution macht aus der bürgerlichen und zum Teil adligen Herkunft einen lebensgefährlichen Makel. Als Jewgenia 1920 geboren wird, ist abgesehen vom treuen Dienstmädchen Tonja vom einstigen Wohlstand nichts mehr übrig.
    "Meine Mutter … kannte nur die Zerstörung dessen, was ihr selbst nie zugutegekommen war. Sie war mitten hineingeboren in den Bürgerkrieg, den Terror, den Hunger, die Verfolgung. Das stand für sie am Anfang und auch am Ende ihrer Zeit in der Ukraine, etwas anderes hatte sie dort nie kennengelernt. … Sie war nicht erst in Deutschland zum Untermenschen erklärt worden, sie war bereits in der Ukraine einer gewesen, meine arme, kleine, verrückt gewordene Mutter, die aus dem dichtesten Dunkel des blutrünstigen 20.Jahrhunderts kam." (Zitat)
    Aus den Tiefen des Internets tauchen irgendwann auch lebende Verwandte auf: in Kiew, in Klimowsk bei Moskau, in Sibirien. Natascha Wodin erfährt, dass ihr Onkel Sergej ein berühmter Opernsänger war, und treibt eine Schallplattenaufnahme auf. Sie findet heraus, dass ihre Tante Lidia in Odessa Germanistik studiert hat, wegen konterrevolutionärer Umtriebe zu fünf Jahren Lagerhaft verurteilt wurde und den Zweiten Weltkrieg als Lehrerin in Kasachstan überlebte. Ihre Memoiren schrieb Lidia im Alter von 80 Jahren in der Nähe von Moskau. Wodin hätte sie leicht besuchen können - in den 70er, 80er oder 90er-Jahren.
    "Das nie endende russische Fatum"
    Die neuen Fakten, Fotos und Dokumente regen Natascha Wodins Fantasie an. Auch die Schallplatte ihres Onkels. Wodin malt sich den Alltag ihrer Mutter aus, spekuliert in der Tradition russischer psychologischer Romane über Motive und Reaktionen, versucht sich in die Lage ihrer engsten Verwandten hineinzuversetzen. Viele Sätze in "Sie kam aus Mariupol" beginnen mit "Vielleicht …", "Womöglich" oder "Ich nehme an". Viele andere enden mit Fragezeichen. Hätte? Wäre? Könnte?
    Wichtiger aber als die Lücken, wichtiger auch als einige historische Ungenauigkeiten, die Wodin unterlaufen, ist irgendwann eine einfache Frage:
    "Was ging mich das alles an, das sowjetische und das postsowjetische Fiasko, das nie endende russische Fatum, das Nichtaufwachenkönnen aus einem kollektiven Albtraum, das Gefangensein zwischen Untertanentum und Anarchie, zwischen Leidensgeduld und Gewalt, diese ganze unaufgeklärte, finstere Welt, diese Familiengeschichte aus Ohnmacht, Besitzergreifung, Willkür und Tod, dieses unselige Russland – die ewige Mater Dolorosa, die ihre Kinder so unerbittlich umarmte?"
    Natascha Wodin schöpft hier tief aus einer Kiste mit uralten Russlandklischees. Aber ihre Frustration ist verständlich: So faszinierend die Biografien ihrer Verwandten sind, so erschütternd die unaufhörliche Kette von Dramen: Ihrer Mutter, die auf den wenigen erhaltenen und im Buch abgedruckten Fotos stets unergründlich traurig blickt, kommt sie kaum näher. Und sich selbst auch nicht. Die Erklärung für den frühen Selbstmord der Mutter, für die Gewalt und Verzweiflung in Wodins Kindheit liegt nicht oder nur zum kleineren Teil in der russischen Revolution oder Stalins Terror, in Mariupol oder Russland. Der eigentliche Grund liegt in dem, was Wodin im letzten Teil ihres Buches schildert. In Deutschland.
    Deportation oder Flucht nach Deutschland
    Am 8. Oktober 1941 wird Mariupol von den Truppen der deutschen Wehrmacht besetzt. Wodins Mutter Jewgenija ist einundzwanzig Jahre alt. Als die Rote Armee die Stadt zweieinhalb Jahre später zurückerobert, sind Jewgenija und ihr 20 Jahre älterer Ehemann Nikolaj bereits auf dem Weg nach Deutschland. Ob die beiden deportiert werden oder freiwillig nach Deutschland gehen, kann Wodin nicht klären. Grund zur Flucht hätte Jewgenija gehabt: Als Mitarbeiterin im Arbeitsamt der Besatzer wäre sie wahrscheinlich der Kollaboration mit dem Feind beschuldigt worden. Sicher ist nur, wo Jewgenija und Nikolaj landen: in einem Zwangsarbeitslager in Leipzig.
    "Jetzt gehört sie den nationalsozialistischen Barbaren. Der berühmte Kopfbahnhof ist bis auf eine Halle zerstört, an einem einzigen Tag getroffen von sechsundvierzig Tonnen amerikanischer Bomben. Was sieht meine Mutter in der Stadt? Vermutlich nur Ruinen, in denen Hakenkreuzfahnen wehen. Ruinen und Lager, überall Lager. Sie weiß längst, dass es nicht ins Paradies gegangen ist, sondern in die Hölle, mitten hinein in den Gulag, dem sie sich für immer entkommen glaubte."
    3,3 Millionen sowjetische Soldaten starben in deutscher Kriegsgefangenschaft
    Es ist eine bittere Ironie, dass Natascha Wodin über die Ereignisse von der Ankunft ihrer Eltern in Deutschland bis zum Selbstmord ihrer Mutter im Jahr 1956 letztlich weniger herausfinden kann als über die sowjetischen Dramen der 20er und 30er-Jahre. Es ist aber kein Zufall. Das Leid und der millionenfache Tod sowjetischer Zwangsarbeiter und Kriegsgefangener gehören zu den dunklen Flecken im deutschen Geschichtsbewusstsein. Die meisten Spuren wurden beseitigt, die Erinnerungen begraben und verschwiegen, bis heute.
    Es gehört nicht zum Allgemeinwissen, dass 3,3 Millionen sowjetische Soldaten in deutscher Kriegsgefangenschaft umkamen. Kaum jemand kann sich vorstellen, dass es in Deutschland nicht ein paar Dutzend oder Hundert, sondern mehrere 10.000 Lager aller Art gab. Der Historiker Ulrich Herbert geht davon aus, dass bei Kriegsende auf deutschem Boden zwischen acht und zehn Millionen ausländische Kriegsgefangene, Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge befreit wurden. Natascha Wodins Eltern waren darunter.
    Wodin als Kind von Zwangsarbeitern
    Im Sommer 1945 fliehen Jewgenija und Nikolaj aus Leipzig nach Bayern. Doch auch hier droht ihnen die Einweisung in ein Lager für sogenannte Displaced Persons und die Abschiebung in Stalins Sowjetunion. Wohl durch einen bürokratischen Irrtum entgehen sie diesem Schicksal und finden am Stadtrand von Nürnberg Unterschlupf in einem Schuppen auf dem Gelände einer Eisenwarenfabrik. In diesem biblischen Setting, vielleicht aber auch in einer nahen Klinik, wird am 8. Dezember 1945 Natascha Wodin geboren.
    "Die längste Zeit meines Lebens hatte ich gar nicht gewusst, dass ich ein Kind von Zwangsarbeitern bin. Niemand hatte es mir gesagt, nicht meine Eltern, nicht die deutsche Umwelt, in deren Erinnerungskultur das Massenphänomen der Zwangsarbeit nicht vorkam. Jahrzehntelang wusste ich nichts von meinem eigenen Leben. Ich wusste nur, dass ich zu einer Art Menschenunrat gehörte, zu irgendeinem Kehricht, der vom Krieg übrig geblieben war." (Zitat)
    Schwer traumatisierte Eltern haben nach Kriegsende keine Chance
    Wodins Eltern hatten deutsche Bomben auf Mariupol, sowjetische Bomben auf der Reise nach Deutschland und amerikanische Bomben auf Leipzig überlebt. Aber mit dem Krieg war ihr Martyrium nicht beendet. Schwer traumatisiert sind und bleiben sie Fremde, sie sind von Abschiebung bedroht, sie leiden unter Hunger, Erniedrigung und Ausgrenzung. Die Familie hat im Westdeutschland der 40er und 50er Jahre kurz gesagt keine Chance. Während Wodins Vater sich in russischen Büchern und Alkohol vergräbt, wird die fragile Jewgenija vor den Augen ihrer beiden Kinder nach und nach verrückt.
    Natascha Wodins Schilderung ihrer zehn ersten Lebensjahre ist mit einem Wort wie erschütternd nur sehr unzureichend beschrieben. Die Armut, die Gewalt, die Verzweiflung von Eltern und Kindern: Es ist unvorstellbar. Und eben darum ist "Sie kam aus Mariupol" ein wichtiges Buch. Gut geschrieben, aufwendig recherchiert und hochdramatisch sowieso. Aber eben auch: Wichtig, vor allem was den letzten, den deutschen Teil des Buches betrifft, die 40er und 50er-Jahre.
    "Es ist die Zeit, in der in Deutschland alles neu wird, die Häuser, die Möbel, die Menschen, die Zeit der Wiedergeburt, des Vergessens nach dem Krieg." (Zitat)
    Gegen das zielstrebige Vergessen anschreiben
    W. G. Sebald hat dieses erbarmungslose, zielstrebige Vergessen vor Jahren am Beispiel des Bombenkriegs gegen die deutschen Städte beschrieben. Ähnliches - wenn auch auf völlig andere Weise - leistet Natascha Wodin in "Sie kam aus Mariupol" für die Zwangsarbeiter. Mal hoch emotional, mal erstaunlich kühl und distanziert, auf Grundlage historischer Forschung und persönlicher Erinnerung. Und ohne Scheu, Lücken mit Fantasie und Einfühlungsvermögen zu füllen. Der autobiografische Charakter von Wodins Romanen war immer offensichtlich. Trotzdem bezogen sie ihren Zauber auch aus der Unsicherheit darüber, wo die Grenze zwischen Realität und Fiktion verlief. In "Sie kam aus Mariupol" benutzt Wodin anders als in ihren Romanen wirkliche Namen. Und doch ist auch dieses Buch kein Sachbuch, keine wissenschaftliche Biografie mit Fußnoten und Quellenangaben. Aber wahrscheinlich liegt gerade hier eine Chance.
    Natascha Wodin könnte gelingen, was den Historikern nicht zu gelingen scheint: die Geschichte der Zwangsarbeiter und Kriegsgefangenen im Bewusstsein einer breiten Öffentlichkeit zu verankern.
    "Ich stelle mir vor, es ist ein Sonntag, der Tag, den die meisten Arbeiter zum Schlafen nutzen, zum Wäschewaschen, zur Körperpflege. Aber dieser Sonntag im frühen März, der Frühling liegt schon in der Luft, ist ein Festtag für meine Eltern. Sie haben Ausgang bekommen und verlassen gemeinsam das Lagergelände. Man hat ihnen einen Erlaubnisschein ausgestellt, sie dürfen in die Stadt gehen, ohne Aufsicht. … Vielleicht passiert es an diesem Tag, vielleicht finden sie irgendwo in den Ruinen oder hinter Büschen am Stadtrand ein Versteck. Vielleicht bin ich aber auch das Resultat einer gehetzten, atemlosen Umarmung irgendwo im Lager, wo sie jeden Augenblick entdeckt werden können, womöglich gewittert von einem der Schäferhunde, mit deren Hilfe das Wachpersonal nach Flüchtlingen sucht. … Eines Tages jedenfalls bemerkt meine Mutter, dass sie schwanger ist." (Zitat)
    Wodin heute: Mit sich und ihrer Geschichte im Reinen
    Die Schriftstellerin Natascha Wodin in der Berliner Akademie der Künste am Pariser Platz bei einer Jubiläums-Veranstaltung der Zeitschrift Sinn und Form am 22.8.2013.
    Die Schriftstellerin Natascha Wodin in der Berliner Akademie der Künste am Pariser Platz bei einer Jubiläums-Veranstaltung der Zeitschrift Sinn und Form am 22.8.2013. (imago /gezett Literaturwerkstatt Berlin)
    In Porträts über Natascha Wodin, die in den letzten Jahren erschienen sind, aber auch zwischen den Zeilen ihres neuen Buches liest man von einer ruhigen, freundlichen Dame, die nachts arbeitet und tagsüber schläft, viel Tee trinkt und zwischendurch mit ihren Nordic-Walking-Stöcken zu Spaziergängen aufbricht. In Berlin oder an einem See in Mecklenburg. Sie liebt die Natur, beobachtet gern Vögel und das Wetter und verbringt ihre Zeit ansonsten offenbar am liebsten in Gesellschaft von Alexander Puschkin, Tolstoj, Dostojewskij, Lermontow, Anna Achmatowa und anderen russischen Dichtern und Schriftstellern. Es klingt, als sei das eine Frau, die ihren Frieden gefunden hat. Falls das stimmt, so ist es einerseits ein Rätsel, andererseits ein erstaunlicher Nachweis für die Fähigkeit zumindest mancher Menschen, sich über die Umstände zu erheben. Bei diesem Leben. In diesem Land.