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Roman über einen Völkermord
Die Welt der Überlebenden, die Welt der Täter

Als der ruandische Autor Gilbert Gatore seinen Roman "Das lärmende Schweigen" über den Völkermord an den Tutsi 2008 in Frankreich veröffentlichte, entbrannte eine Debatte: Denn im Mittelpunkt von Gatores Werk stehen zwei Figuren - die eine ist ein Täter. Sein Roman ist gerade auf Deutsch erschienen.

Von Gaby Mayr | 02.11.2015
    Gilbert Gatore hat ein forderndes, verstörendes Buch geschrieben. Ohne Kompromisse, spannend zu lesen.
    Das Vorwort und alle folgenden dreizehn Kapitel von "Das lärmende Schweigen" sind zweigeteilt. Der erste Teil jedes Kapitels erzählt die Geschichte von Niko, einem jungen Mann. Seine Mutter starb bei der Geburt. Niko ist stumm und wenn er lacht, wirkt sein Gesicht entstellt. Im zweiten Teil der Kapitel geht es um Isaro. Sie studiert und scheint im Leben gut zurechtzukommen. Als wir sie kennenlernen, ist ihre größte Sorge ein Referat über strategisches Marketing, das sie halten muss.
    Nikos Geschichte wird in Absätzen erzählt, die Nummern tragen - von 1 bis 251. Vielleicht soll die Nummerierung das Bemühen um Ordnung symbolisieren - denn Nikos Existenz ist aus den Fugen geraten. Als wir ihm das erste Mal begegnen, lebt er in einer Höhle auf einer Insel inmitten eines ruandischen Sees. Er wird von einer Affenhorde überwacht, die ihm geringe Mengen an Nahrung zuteilt. Die Höhle ist eigentlich ein verbotener Ort, Niko nutzt sie dennoch als Zuflucht. Denn Niko flieht vor Verfolgung. Vor allem aber flieht er vor sich selber. Niko ist ein Völkermörder.
    Isaro dagegen ist in Frankreich aufgewachsen, liebevoll umsorgt von ihren Adoptiveltern. Ihre früheste Kindheit liegt verborgen wie hinter einer Nebelwand. Sie weiß nur, dass sie in Ruanda geboren wurde, aber sie hat es bisher immer vermieden, mehr über ihr Herkunftsland und ihre eigene Geschichte zu erfahren. Bis sie eines Morgens beim Verlassen ihres Zimmers auf dem Weg zur Uni den Lautstärke-Regler ihres Radios aus Versehen hochschiebt, statt das Gerät auszustellen.
    "An jenem Morgen brüllte das Radio ihr zu, dass in einem Land, dessen bloße Erwähnung sie vor Angst erstarren ließ, die Zahl der Inhaftierten so hoch war, dass es beim aktuellen Tempo der Verurteilungen zwei oder drei Jahrhunderte brauchen würde, um den Fall jedes einzelnen Häftlings zu untersuchen."
    Die Nachricht aus Ruanda wirft Isaro aus der Bahn. Sie erstarrt, verlässt ihr Zimmer nicht mehr, bricht ihr Studium ab. Erst später, da wird sie schon in Ruanda sein, erfährt sie, was 1994 genau passierte, bevor sie nach Frankreich kam: Die Völkermörder töteten ihre Eltern und ihre ältere Schwester. Sie selber überlebte in einem Versteck. Die damaligen französischen Nachbarn, die ihre Familie nicht retten konnten, nahmen sie als Tochter an.
    Gilbert Gatore beschreibt das äußere Geschehen von Niko und Isaro in knappen Worten. Sein Ton ist ruhig, nüchtern. Das heißt nicht, dass es seinen Schilderungen an Empathie fehlt. Vielmehr vertraut Gatore auf die Wirkung seiner unaufgeregten Sätze, die keine Ausrufezeichen und nicht viele Adjektive brauchen.
    Dem inneren Erleben der Figuren widmet der Autor vergleichsweise viel Raum. Ihre Zweifel kleidet er oft in Fragen. Nach und nach versteht man ihre Gedanken- und Gefühlswelt, deren Wurzeln in der Vergangenheit liegen. So entstehen auf nicht einmal zweihundert Seiten komplexe Porträts der beiden Figuren. Auch von Niko, dem Mörder.
    "126. Hat Nikos Einsamkeit etwas damit zu tun, dass er sich der anderen nicht würdig fühlt? Oder ist er bloß hinter den Mauern seiner Stummheit gefangen? Oder hinter den noch höheren seines entstellenden Lächelns?"
    In Frankreich gab es bei Erscheinen des Buches entrüstete Kommentare, sogar Anwürfe, hier werde die Täterperspektive transportiert. Es wurde gemutmaßt, der zur Zeit des Völkermordes 13jährige Autor sei Sohn eines Täters. Gatore schweigt dazu. Seine Darstellung des Niko gibt jedenfalls keinerlei Anlass zu Vorwürfen des Täter-Lobbyismus.
    Tatsächlich ist es einfacher, die böse Tat von einem bösen Täter exekutieren zu lassen. Und es gibt sie, die bösen Täter. Aber es gibt auch diejenigen, die als Gedemütigte, Gekränkte durchs Leben gehen, die wie Niko vom Vater missachtet wurden. Als dann im April 1994 in Ruanda der Völkermord beginnt, gerät Niko in den Strudel der Gewalt. Er wird Zeuge einer Menschenjagd. Die Völkermörder stellen ihn vor die Alternative, mitzumachen oder getötet zu werden. Niko tötet. Und gerät in einen Rausch des Mordens.
    "176. Inmitten des großen Schlachtens fühlt Niko sich wohl. Er ist in gewissem Maße glücklich. Zum ersten Mal in seinem Leben ist er Teil einer Gemeinschaft, erfährt Respekt und unbegrenzte Macht. Seine Stummheit trägt dazu bei, seine Autorität ... durchzusetzen."
    Isaro, die von ihrer Geschichte eingeholte Studentin, findet schließlich einen Weg aus ihrem Zimmer und aus ihrer Verzweiflung, indem sie nach Ruanda reist. Sie will dort mit den Menschen sprechen, sie will ihre Erzählungen aufschreiben, damit sie nicht vergessen werden.
    Eine europäische Stiftung wird, so scheint es zunächst, ihr Vorhaben unterstützen. Aber die Erwartung zerschlägt sich. Mit sparsamen Strichen zeichnet Gatore eine Skizze der westlichen Wohltäterszene, die das Geld und die Macht hat, Projekte verwirklichen zu lassen oder Hoffnungen zu zerstören. Isaro lässt sich trotzdem nicht entmutigen. Wer heute wie Isaro nach Ruanda reist, erkennt neben der Bürde der Vergangenheit auch viel Energie, Aufbruch, ein Leben jenseits der Bedrückung. Moderne junge Leute, die nach dem Völkermord geboren wurden.
    Bei Gatore ist für Hoffnung dagegen kein Platz. Nicht für Täter. Niko wird von der Affenhorde ausgehungert. Fälschlicherweise haben die Affen den Eindruck gewonnen, Niko sei für den Tod ihres Anführers verantwortlich. Und so steht in der letzten Aufzeichnung zu Niko:
    "251. Nichts."
    Aber auch für Überlebende wie Isaro, so der bedrückende Ausblick von Gilbert Gatores Roman, gibt es keine Hoffnung. Dabei sieht es zunächst anders aus: Isaro hat wieder Kontakt zu ihren französischen Eltern aufgenommen, den sie abgebrochen hatte. Sie lernt einen Ruander kennen, Kizito, der sie bei ihrer Arbeit unterstützt. Sie fängt an, ihn zu lieben. Und dann explodiert ein Gedanke in ihrem Kopf, der ihr den Boden unter den Füßen wegreißt: Und was ist, wenn Kizito Täter war?
    Im letzten Kapitel bringt Gatore noch einen literarischen Kunstgriff an: In "Isaros Teil" erscheint eine "252", eine allerletzte Zahl in der Reihe, die Nikos Erzählung durchnummeriert, und es wird klar: Isaro ist die Autorin von Nikos Geschichte. Das Leben aber hält sie nicht mehr aus.
    "Denkt sie an die Kopfsprünge, die sie als kleines Mädchen im städtischen Schwimmbad so gerne machte, als sie sich in diesem Augenblick nach vorne kippen lässt, während sie den dicken Holzgriff fest umklammert? Was sagt sie sich während der endlosen Sekunde, in der sie im Fallen gegen ihre Reflexe kämpfen muss? Aufrecht bleiben und den auf ihr Herz gerichteten Dolch nicht loslassen?"
    Gilbert Gatore hat ein komplexes Bild gezeichnet von der Welt der Überlebenden und der Welt der Täter. Der in Ruanda geborene Autor hat einen ganz besonderen Roman geschrieben.
    Gilbert Gatore: "Das lärmende Schweigen", aus dem Französischen von Katja Meintel, Horlemann Verlag, 203 Seiten, 17,90 Euro