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Roman
Versteck Hiddensee

Ed flüchtet vor seinem eigenen Leben, seiner Arbeit und seiner Trauer nach Hiddensee. Er bricht mit seiner Vergangenheit, um sie gegen eine ungewisse Zukunft einzutauchen. Er beginnt in einer Gaststätte auf der Insel im Sommer 1989.

Von Ulrich Rüdenauer | 01.10.2014
    Hiddensee war zu DDR-Zeiten ein fast unerreichbarer Ort: ein bisschen im Schatten der Wahrnehmung, eine Rettungs-Boje auf offener See, in Sichtweite zu einer anderen Welt. Aussteiger machten sich dorthin auf, von den Grenzposten zwar strengstens beäugt, aber doch geduldet an einem seltsamen Nicht-Ort. Die Insel schien schon nicht mehr innerhalb des Territoriums des Landes zu liegen. Nur wenige Kilometer sind es von Hiddensee nach Dänemark; für einen guten Schwimmer machbar, zumindest keine Unmöglichkeit. "Wer hier war", heißt es in Lutz Seilers Roman "Kruso", "hatte das Land verlassen, ohne die Grenze zu überschreiten."
    Einen Ort verlassen, ohne die Grenze zu überschreiten: Das trifft ganz gut, was die Hauptfigur in diesem ersten Roman des Lyrikers und Erzählers Lutz Seiler vorhat. Edgar, genannt Ed, flüchtet vor seinem Leben als Germanist in dem Moment, als ihm eine Arbeit zu dem expressionistischen Dichter Georg Trakl angetragen wird; mehr noch aber flüchtet er vor seinen Erinnerungen und der Trauer über den Tod seiner Freundin. Er bricht ganz radikal mit der Vergangenheit, um sie gegen eine ungewisse Zukunft einzutauschen - und ihr gleichwohl in transformierter, verzerrter Form wiederzubegegnen. Er macht sich auf an den äußersten Rand des Möglichen, gelangt zum Zitat "Vorhof des Verschwindens", heuert auf einem Schiff an, von dem er noch nicht ahnt, dass es schon in Schieflage geraten ist in diesem Sommer des Jahres 1989.
    Diese Barkasse ist in Wahrheit eine traditionsreiche und, im Übrigen, tatsächlich existierende Gaststätte auf der Insel: der "Klausner". Seine Besatzungsmitglieder sind Flüchtende und flüchtige Wesen, Dichter und Intellektuelle wie Ed selbst. Das wird ihm bewusst, als sein neuer Chef Krombach die Klausner-Crew reihum vorstellt:
    "Seine Hand zeigte auf das Obergeschoss, dann begann sie ihre Reise rund um den Tisch. ‚Chris, Mirko und Rimbaud aus dem Service, unsere Kellnerschaft, hervorragend, ich möchte sagen, unschlagbar. Sowohl in Schnelligkeit und Ausdauer als auch in Klugheit und Weisheit, gastronomisches und philosophisches Wissen sind hier aufs Schönste vereint.' Krombach lächelte. Keine Spur von Ironie oder Zynismus in seinem glatten, glänzenden Gesicht. ‚Mirko, promoviert in Soziologie, er kommt wie du, Edgar, aus Halle an der Saale und wird hier bei uns Cavallo genannt. Und hier, vom gleichen akademischen Grad, sein Freund Rimbaud, unser Philosoph – hab schon fast vergessen, wie du wirklich heißt, mein Lieber, einmal geheißen hast, meine ich...' Einen Moment lang stockte seine Hand auf ihrer Wanderung. ‚Kruso kennst du inzwischen, Schirmherr dieses Eilands, möchte man sagen, und auch Koch-Mike aus Samtens auf Rügen, mit dem du deine ersten Tage gearbeitet hast, ich habe darüber nur Gutes gehört."
    Kruso, der Namensgeber und das Kraftzentrum dieses Romans, heißt eigentlich Alexander Krusowitsch. Kruso aber passt viel besser zu diesem Robinson. Ed wird in den folgenden Wochen zu seinem Freitag, die beiden zu einer Schicksalsgemeinschaft auf dem sinkenden Kahn, in dessen Eingeweiden sie wie Galeerensklaven schuften. Kruso nimmt den Benjamin an Bord des Klausners sofort unter seine Fittiche, leitet ihn durch die stürmischen Monate dieses Sommers:
    "Lächelnd nahm er Ed das Kleinespitze aus der Hand und führte ihn wie einen Blinden über die Rampe ins Innere des Klausners. Deutlich spürte Ed den leichten Druck am Oberarm. Eine längere andauernde Berührung war er seit G. (seit über einem Jahr also) nicht mehr gewöhnt, genauer gesagt, er war ihr nicht mehr gewachsen, weshalb er sich beinah wie verloren fühlte, als der Mann ihn wieder freigab."
    Der große Zampano
    Kruso ist nicht nur Lehrmeister, er ist der große Zampano auf der Insel, ein geistiger Führer, ein Sektenguru. Er gibt die Richtlinien vor für die SKs - die Saisonkräfte - und organisiert das Verschwinden der stetig auftauchenden "Schiffbrüchigen" aus dem Innern des Landes. Kruso herrscht über die raren Schlafplätze auf Hiddensee, er predigt eine synkretistische Freiheitsphilosophie, ist ein Utopist, der Thomas Morus ebenso zitiert wie er mit esoterischen Beschwörungen seine "Kruso-Energie" auf die ganzen angeschwemmten Genossen überträgt.
    "Das ist Hiddensee, Ed, verstehst du, hidden – versteckt? Die Insel ist das Versteck, die Insel ist der Ort, wo sie zu sich kommen, wo man zurückkehrt in sich selbst, das heißt zur Natur, zur Stimme des Herzens, wie Rousseau es sagt. Niemand muss fliehen, niemand muss ertrinken. Die Insel ist die Erfahrung."
    Edgar durchläuft dabei eine Verwandlung: Die Abwaschbecken im Klausner sind große Taufbecken, jeder Arbeitsgang wird zum Ritus. Gedichte werden rezitiert wie Zauberformeln. Lutz Seiler beschreibt die Arbeit unter Deck mit einer körperlichen, zuweilen Ekelgefühle erzeugenden Sprache, die mitunter an die wortmächtige Prosa Wolfgang Hilbigs erinnert. Immer wieder wird der Morast aus zertretenen Abfällen, auf dem man auszurutschen droht, heraufbeschworen; es gibt olfaktorische Reize in diesem Buch, die einen geradezu bedrängen, man spürt förmlich das Klebrige, den Schweiß, den fettigen Dunst an diesem verborgenen Ort; einmal bergen die Abwäscher ein ungeheuerliches, fauliges Abfall-Fabelwesen aus den vergitterten Abflusslöchern des Beckens, ein mythischer Fang, der später feierlich begraben wird:
    "Das Zopftier musste schwer sein; es zitterte leicht an Krusos erhobenem Arm, Krusos Arm zitterte. Es ähnelte einem Lurch oder seiner riesigen amphibischen Larve, die sich demnächst in eine überdimensionale Kröte verwandelt hätte, um das Gitter zu sprengen mit ihrem schleimigen Buckel und ihnen bei der Arbeit in die Waden zu beißen."
    Seiler erschafft eine merkwürdig verschleierte Unterwelt, deren Verbindungslinien zur Wirklichkeit des Jahres 1989 zunächst weniger offen liegen wie die Stränge ins Verstohlene, Magische, Unfassbare. Diese Atmosphäre bildet den Keim für eine Verwandlung von Seilers Alter ego Ed, für eine Wiedergeburt an einem biographischen und an einem historischen Scheidepunkt.
    "Ed begriff, dass man das eigene Leben immerzu verteidigen musste, einerseits gegen das, was dauernd geschah, andererseits gegen sich selbst und die Lust, aufzugeben."
    Ed lernt diese Lektion und noch einige mehr, während um ihn herum ein Land auseinanderfällt. Das Radiogerät - ein wichtiger Protagonist mit dem Kose-Namen "Viola" - sendet fast unbemerkt das politische Hintergrundrauschen, erzählt von den durchlässig gewordenen Grenzen in Ungarn, von einer beispiellosen Fluchtbewegung, die kein Grenzzaun mehr eindämmen kann. Auch die Insel verändert und leert sich, die Besatzung des Klausners verlässt das untergehende Schiff, bis nur noch Kruso und Ed übrig sind und sich wie in einem Showdown deren Vergangenheiten und die Gegenwart begegnen.
    Geisterhafte, fiebrige, irre Wochen auf der Insel
    Geisterhaft, fiebrig, irre gestalten sich diese Wochen auf der Insel, die letzten Tage der DDR, die Initiation Eds vielleicht zum Dichter. Die Sprache trägt diese Erfahrungen. So wie Hiddensee nicht innerhalb oder außerhalb, sondern mehr auf der Grenze eines Territoriums zu liegen scheint, so rückt auch Lutz Seiler mit seiner Literatur direkt auf diese Linie zu, dringt in dieses Zwischenreich hinein. Der Philosoph Gilles Deleuze sagte einmal, beim Schreiben gehe es unbedingt darum, die Sprache und die Syntax bis zu einer bestimmten Grenze zu treiben.
    Die Grenze bezeichnet eben nicht nur die Trennlinie zwischen Staaten, sondern auch zwischen dem, was auszudrücken und nicht mehr auszudrücken ist, was wahrnehmbar und nicht mehr wahrnehmbar ist, was menschlich ist und animalisch. Genau dorthin begibt sich Lutz Seilers am lyrischen Sprechen orientierte Prosa. Wirklichkeit, Fiebertraum und magische Motive vermischen sich darin auf fulminante Weise. "Kruso" handelt von einer radikalen Welt- und Sprachaneignung als Reaktion auf eine verstörende historische Situation. Die ganz konkrete geschichtliche Folie, auf der "Kruso" spielt, zeichnet Lutz Seiler in einem bewegenden Epilog: In dieser Reportage schildert er seine aufwändige, detektivische Recherche nach jenen "Republikflüchtlingen", die von Hiddensee aus über die Ostsee ihren Weg in die Freiheit gesucht haben - und als Leichen und Leichenteile an die Küste Dänemarks geschwemmt wurden. Viele von ihnen sind bis heute nicht identifiziert worden, und seit der Wende gab es erstaunlicherweise keine ernsthaften Versuche, Klarheit über das Schicksal der Toten zu gewinnen. Sie sind die wahrhaftigen Schiffbrüchigen, von denen Lutz Seilers Roman "Kruso" kunstvoll handelt.
    Lutz Seiler: "Kruso", Suhrkamp Verlag, Berlin 2014, 483 Seiten, 22,95 Euro.