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Roman von Ugo Riccarelli
Der Sieg der "Antipsychiatrie"

1978 verabschiedete das italienische Parlament ein Gesetz, das die Auflösung der psychiatrischen Anstalten im Land verfügte. 30 Jahre später veröffentlichte der italienische Autor Ugo Riccarelli den Roman "Die Residenz der Doktor Rattazzi", der wie eine literarische Mahnung an die grausamen Zustände in Psychatrien wirkt.

Von Roland H.Wiegenstein | 22.04.2014
    Blick in ein Patientenzimmer im Neubau für verurteilte Straftäter des Psychiatrischen Zentrums Nordbaden in Wiesloch (Baden-Württemberg)
    Nur wenige Kommunen nahmen das Gesetz ernst und gründeten entsprechende Einrichtungen, inzwischen erwägt die italienische Regierung, zur massenhaften Unterbringung der Irren zurückzukehren (dpa / picture alliance / Franziska Kaufmann)
    Am 13. Mai 1978 verabschiedete das italienische Parlament das Gesetz Nummer 180, das die Auflösung der psychiatrischen Anstalten im Land verfügte. Der jahrelange Kampf des triestiener Arztes und Psychiaters Franco Basaglia, der von 1924 bis 1980 lebte, war schließlich erfolgreich gewesen: Die "Antipsychiatrie" hatte gesiegt. Freilich nur halb: Statt die Geisteskranken nun in kleinen psychiatrischen Gemeinschaften unterzubringen und dort besser mit ihnen umzugehen, wie es Basaglia vorgeschlagen hatte, wurden die meisten Kranken zu ihren Familien zurückgeschickt und denen eine schwer erträgliche Last aufgebürdet. Nur wenige Kommunen nahmen das Gesetz ernst und gründeten entsprechende Einrichtungen, inzwischen erwägt die Regierung, zur massenhaften Unterbringung der Irren zurückzukehren.
    Grausame Zustände in den Psychiatrien
    Gerade 30 Jahre später veröffentlichte der italienische Autor Ugo Riccarelli den Roman "Die Residenz der Doktor Rattazzi", der wie ein Echo wirkt auf die politische Entscheidung von damals, wie eine literarische Mahnung gar. Er handelt von Beniamino, der gern Arzt werden möchte, dem ein Schulkamerad bei einem Fußballspiel einen so schweren Knochenbruch zufügt, dass er fortan sich nur noch hinkend fortbewegt. Als dann sein Vater plötzlich stirbt, der die Familie als Textilhändler auf den Märkten durchgebracht hatte, bleibt dem Studenten Beniamino nur, sich bei der Irrenanstalt, deren Mauern an das Haus seiner Familie grenzen, als Pfleger zu bewerben. Er wird angenommen, der erste Eindruck ist grausam:
    "Die Menschen, die durch das Eingangstor der Irrenanstalt gekommen waren, jene, die sich in den Betten seiner vier großen Schlafsäle ausstreckten oder zusammenkrümmten, die in einem langen Hemd durch die Gänge irrten oder auf den Pritschen liegenblieben, von den Armen der Aufseher oder den Lederriemen gezähmt, schienen allesamt mit diesem Eingangstor ihre persönlichen Säulen des Herkules durchschritten zu haben. Es war eine Grenze, hinter der für sie fortan alles verschlossen war: Ihre Gefühle, die kleinen Geschichten ihres Lebens, die Kleider, die sie angezogen und die Gegenstände, die sie besessen hatten, all das blieb draußen, als wäre es am Ufer niedergelegt worden, bevor der Wahnsinn ihnen den entscheidenden Stoß versetzte, der sie in einen Ozean stürzte."
    Riccarelli erzählt die Geschichte dieses Beniamino, der sich eigentlich einen anderen Umgang mit den Kranken vorstellt, als sie einer rigiden Ordnung zu unterwerfen, ans Bett zu fesseln und womöglich mit Elektroschocks zu quälen. Die waren während des Faschismus beliebt unter Ärzten und Obrigkeiten.
    Elektroschocks zur Zähmung
    Die Handlung spielt nämlich während Mussolinis Herrschaft - sein Krieg gegen Abessinien 1935/37 wird erwähnt - bis zur Befreiung von den aus Bundesgenossen zu Feinden gewordenen Deutschen. Dass Beniaminos, nur in größerer Freundlichkeit sich vage äußernder Ahnung einer menschenwürdigeren Behandlung, richtig ist, vermittelt ihm erst der alte Irrenarzt Doktor Rattazzi, der in die Anstalt versetzt wird, weil er anderwärts mit seinen unorthodoxen Methoden Schiffbruch erlitten hat.
    Als nach ruhigen, monotonen Jahren, in denen Beniamino immerhin das Küchenmädchen Marcella kennen und lieben lernt, was Riccarelli in diskreten Pastellfarben eher andeutet als ausdrückt, der Krieg näher rückt, zuerst in Form von Bombenangriffen auf die nahe Stadt, dann als die sich nähernde Front, die "Gotenlinie", die der Irrenanstalt bedrohlich nahe kommt – als Ort haben wir uns die östliche Toscana nahe Arezzo zu denken - werden Beniamino, Rattazzi, sieben Irre und einiges Personal, darunter Beniaminos Freundin Marcella, in einen kleinen Hof, Pianora, ausquartiert, wo sie es zuerst mit Partisanen zu tun bekommen, dann kommt ein deutsches SS-Kommando.
    "Rattazzi sah, wie Beniaminos Tränen, von allem, was er fühlte, beschwert, ihm über die Wangen liefen, in die Tiefe gezogen wurden, ihm über die Wangen liefen, sich vom Kinn lösten und zu Boden fielen. Und in dieser kurzen Zeitspanne, bevor die Tropfen auf dem Kies explodierten wie die Bomben, die vom Himmel fielen, erkannte Rattazzi, dass der wirkliche Wahnsinn niemals besiegt werden würde, denn er war das innerste Wesen der Normalität, die gerade auf sie zukam."
    Unwertes Leben in märchenhafter Sprache dargestellt
    Diese "Normalität" - das ist der SS-Offizier, der einen der Geisteskranken, den alten, verwirrten, ständig Homer zitierenden Professor Cavani erschießt - einfach so: unwertes Leben. Fosco, einem verwirrten jungen Mann, der ständig Vogelschwärmen zusieht und sie nachahmt, gelingt die Flucht, Beniamino sieht ihn nur einmal wieder: mit Gewehr und rotem Partisanenhalstuch. Erzählt wird die Geschichte von einer jungen Journalistin, die Jahrzehnte später einen alten Arzt, besucht, um diese Geschichte zu erfahren. Der alte Arzt ist Beniamino, der Rattazzi, dem nahe des Hofes Pianoro an Entkräftung Gestorbenen, nachgefolgt und doch noch Psychiater geworden ist. Alle anderen, auch Marcella sind tot.
    Riccarelli erzählt diese Lesebuchgeschichte vom Leben der Irren wie ein Märchen, poetisch, voller Empathie, in lauter kurzen Episoden. Nur das ist ihm wichtig, was auf die Gestörten und ihre Betreuer einwirkt: Wie ein Vogelschwarm, der Fosco in Ekstase versetzt, wie die Trauer der alten Renatina, die nur noch in Ecken hockt, wie der religiöse Wahn eines anderen Häftlings, wie Rattazzis Versuche, die Irren zu verstehen, indem er deren Köpfe und Bewegungen peinlich genau in die Krankenakten zeichnet, wie die zarte Liebe zwischen Marcella und Beniamino, deren Frucht ausgerechnet vor Piero della Francescas "Madonna del Parto" in Monterchi beiden offenbar wird. Damals hing diese Madonna noch in einer Friedhofskapelle ein wenig außerhalb der kleinen Stadt, nicht in einem Sicherheitskäfig in einer eigens umgewidmeten Schule.
    Exzess von Opportunismus und Gewalt
    "Märchen" wäre womöglich wirklich eine bessere Gattungsbezeichnung als "Roman", denn der Autor hat alles weggelassen, was die "geschlossene" Atmosphäre stören könnte; erst mit dem gewalttätigen SS-Offizier bricht die "Realität" unversehens ein: als sinnlose Gewalt, so sinnlos wie die Gebärden, die Laute, die Schreie er Irren. Und da passiert Riccarelli das, was ihm auch in seinem Roman "Der vollkommene Schmerz" passiert ist, dieser ausführlichen Familiengeschichte zwischen einer Sippe von auf Änderung dringenden Anarchisten und einer anderen, die das "Realitätsprinzip" bis zu einem Exzess von Opportunismus und Gewalt treibt: Das Erzähltempo wird rascher, wo die Außenwelt einbricht, haben es die schönen, genauen, bilderreichen Sätze dieses Autors schwer, die von Annette Kopetzki zutreffend ins Deutsche übertragen wurden.
    Haben es auch seine Figuren schwer, die darauf angelegt sind, dass man gut mit ihnen umgeht. Beniaminos letzter Satz, der auch der letzte des Buchs ist, lautet: "Die Befreiung war der reine Wahnsinn". Das ist doppeldeutig, denn für die Irren gab es keine Befreiung, nur einen glücklichen Moment. Wie für Beniamino, der weniger helfen konnte, als er wollte. Riccarellis Buch ist auch eine Parabel – er traut den neuen Zeiten nicht, in denen Neuroleptika die Irren ruhig stellen, damit sie uns nicht an unseren Wahnsinn erinnern. Es ist auch eine Hommage an den großen Arzt Franco Basaglia und seine Antipsychiatrie, die politisch von einer unberatenen radikalen Linken so missbraucht wurde, dass von ihr heute kaum noch jemand spricht. Zu Unrecht, wie Ricarellis Märchen uns nahelegt. "Comallamore" heißt das Buch im italienischen Original: "wie bei der Liebe". Das ist Foscos, des Befreiten, Schlachtruf. Er soll nicht verhallen, meint Riccarelli.
    Ugo Riccarelli: "Die Residenz der Doktor Rattazzi". Roman, aus dem Italienischen übersetzt von Annette Kopetzki, Zsolnay Verlag, Wien 2013, 189 Seiten, 18,90 Euro.