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Romankritik
Leichtfüßige Prosa über die Liebe

Als luftigen Tagtraum inszeniert Jo Lendle in seinem neuen Roman "Was wir Liebe nennen" eben diese. Darin verliebt sich ein junger Zauberer, obwohl er bereits in einer festen Beziehung lebt.

Von Heidemarie Schumacher | 23.12.2013
    Der Roman erzählt von einem jungen Zauberer namens Lambert, der auszieht, um mit anderen Zauberern zu wetteifern, dem dann aber unverhofft die Begegnung mit einer Frau widerfährt, in die er sich zu verlieben meint. Im Weiteren gibt es eine an Überraschungen reiche Geschichte mit der neuen Liebe, bis sich der Held am Ende entschließt, zu seiner alten Liebe zurückzukehren und die neue aufzugeben. Was wie ein Melodram klingt, ist von Titel und Struktur her als Märchen angelegt, ein Märchen, in das der Leser in Lendles poetischer Sprache durch den Prolog eingestimmt wird:
    "Was wir Liebe nennen, ist anfangs nur ein Zittern. Ein Schauer, den wir kaum bemerken, der uns nicht frieren lässt, aber daran erinnert, beizeiten nach etwas zu suchen, das uns wärmt. Irgendetwas gerät aus der Ruhe, ein winziges Teilchen nur, wie man es vom Schütteln alter Uhren kennt.
    Zwischen den Schulterblättern löst es sich und treibt, weil es leichter ist als wir, langsam den Nacken hinauf."
    Um sich dann im Gehirn als Erinnerungsspur im Hippocampus abzulagern, einem Teil des Gehirns, dem man aufgrund seiner Form den lateinischen Namen des Seepferdchens gegeben hat. Lambert beginnt seine Heldenreise einen Tag nach der Beerdigung seines Vaters, indem er in einem Molkereifahrzeug zum Flughafen trampt und dabei von dem Fahrer sexuell belästigt wird. Er kann den Mann abschütteln und fliegt zu einem Zauberer-Wettbewerb nach Montreal. Auf dem Flug weckt eine hübsche Stewardess sein Interesse und es kommt zu einer erzwungenen Verzögerung: Das Flugzeug muss wegen eines Defekts in Irland notlanden, die Passagiere werden in einem Hotel untergebracht und notgedrungen muss Lambert Zimmer und Bett mit Viola, einer schwangeren Mutter und deren kleiner Tochter teilen, die im Flugzeug neben ihm saßen. Das Thema Kleinfamilie wirft bedrohlich seine Schatten voraus und nachts fragt Lambert sich:
    "Warum lag er hier neben dieser Frau? Und warum gab es so viele davon auf der Welt? Hatte er nicht bereits eine?"
    Verspätet kommt er in Montreal, dem Ort der Zauberkonferenz, an. Und hier wartet eine weitere Verzögerung auf ihn: Er wird von einer schönen Frau mit dem sprechenden Namen Felicitas Touchburn fast überfahren. Fe führt im Pferdeanhänger ihres Wagens drei Exemplare einer ausgestorbenen Wildrasse, sogenannte Przewalski-Pferde, mit sich. Es handelt sich um Nachzüchtungen, die in Kanada wieder ausgewildert werden sollen.
    Eine seltsame Liebesgeschichte nimmt ihren Lauf. Schon die Erstbegegnung der beiden geht nicht ohne Aggression ab: Sie fährt ihm unachtsam in die Kniekehlen, er reißt sie im Gegenzug an den Locken, um jedoch, nachdem er ihr in die Augen gesehen hat, als Zauberer selbst verzaubert zu sein. Lambert meint, sie schon immer zu kennen, und Felicitas, das Glücksversprechen, fährt den Verspäteten zu seiner Veranstaltung. Das Dilemma der Verliebtheit bei bereits bestehender Bindung, wer kennt es nicht.
    Die Begegnung der beiden steht allerdings von vorneherein im Zeichen der Ambivalenz: Der mit Illusionen und Tricks so vertraute Lambert wird mächtig angezogen, bleibt Fe gegenüber aber skeptisch. Denn zu Hause wartet seine Freundin Andrea, die Restauratorin, auf ein Lebenszeichen von ihm. Frauen, lernen wir von Lambert, sind bezaubernd, halten einen aber auch auf und sind darüber hinaus gefährlich. So verwickelt Circe beziehungsweise Fe ihn zweimal in einen Autounfall. Und beim gemeinsamen Zoobesuch hat sie bald den abgefallenen Schwanz eines Salamanders in der Hand. Folglich belässt der Held es zunächst beim Händchenhalten, als die beiden sich im Schmetterlingshaus des Zoos auf dem Boden niederlassen.
    Die Schmetterlinge, die man in trivialen Liebesromanen gerne "im Bauch" ansiedelt, bei Lendle fliegen sie als Falter herum und lassen sich auf Lamberts Körper nieder. Und irgendwo heißt es auch: In der Ferne bellte kein Hund, damit der Leser die ironische Referenz auf eine literarisch verbrauchte Thematik nicht vergisst. Eine gemeinsame Fahrt auf dem Fluss ohne Paddel in Richtung Montrealer Flughafen folgt, doch die Rückkehr unseres modernen Odysseus verzögert sich ein weiteres Mal, diesmal nicht durch ein defektes, sondern ein überbuchtes Flugzeug. Genau eine Nacht bleibt dem neuen Paar, Lambert und Fe. Und Lambert folgt dem Objekt seiner Sehnsucht mit Skepsis:
    "Sein bisheriges Dasein hatte ihn auf so etwas nicht vorbereitet: die Frau seines Lebens zu treffen, obwohl man die Frau seines Lebens bereits getroffen hatte."
    Hier greifen Lambert und sein Autor zu einem Trick: Am Morgen dieser Liebesnacht bleibt nur eine Hälfte Lamberts im Hotel zurück, nackt und bloß zwar, aber bei Verstand, die andere Hälfte ist mit Fe und den Pferden verschwunden. Der hin- und hergerissene Held löst den Konflikt, indem er sich spaltet. In den, der nach Hause in die Sicherheit von Osnabrück will, und in den, der mit Fe in die Wildnis zieht. Die vernünftige Seite Lamberts ist jedoch gezwungen, dem ausgewilderten Paar zu folgen, wenn sie herausfinden will, was er Fe bedeutet hat, als er noch nicht in zwei Hälften zerfallen war.
    Bei den wilden Pferden assoziiert man Freuds kleinen Hans, dessen Pferdeangst eine verschobene Angst vor dem mächtigen ödipalen Vater ist, denn auch Lambert fragt sich, ob ihm das alles mit Fe nur zustößt, weil sein Vater gerade gestorben ist.
    Mehr noch stehen die Przewalski-Pferde für die ausgestorbene Wildheit, auch vielleicht die der Literatur, wenn man sie mit Pegasus, dem geflügelten Dichterpferd verbindet. Der Verlust des Ungezähmten gegenüber einer berechenbaren, sterilen und durchkommerzialisierten Welt ist ein unterschwelliges Thema des Romans. "Putz nicht länger deine Keime. Töte sie mit Lysol", liest Lambert auf einer Reklametafel.
    An zwei Stellen des Romans gibt es einen Perspektivwechsel zu Fe: einmal als sie die Pferde am Flughafen abholt und das zweite Mal, als sie den anderen, den leidenschaftlichen Lambert auslöscht. Lamberts wilde Seite konnte nämlich seinen Hunger in der Wildnis nicht bezähmen und tötet eines der Pferde, wofür er von der zeitweilig zum Kentauren mutierten Felicitas totgetrampelt wird. Hier ist es die Angst vor der furchterregenden mächtigen Frau, die Lamberts Vernunfthälfte gegen Ende seiner Kurzodyssee auf die Auswilderung verzichten lässt.
    "Er wollte sich nicht auswildern, er glaubte nicht an die Folklore der Freiheit."
    Was wohl übersetzt heißen soll, nicht jede Affäre ist auch gleich eine ernst zu nehmende Beziehung. In einer entzauberten Welt beruht der Zauber auf gut kalkulierten Effekten und im Roman des 21. Jahrhunderts hat auch der Zauber der Liebe nur noch einen schwachen Abglanz früherer fiktionaler Leidenschaften. Pegasus, das Cheval mit P, hat seine Flügel verloren und trägt allenfalls noch die borstige Mähne der in Gefangenschaft aufgewachsenen Przewalski-Pferde.
    Am Ende sitzen Lambert und Fe am Fluss und werfen Steine ins Wasser: Viel hat Lambert nicht gewagt. Er wird zurückfliegen zu Andrea, denn die wilde Seite dieser Verliebtheit hat sich bereits überlebt, sein Alter Ego ist tot. Allenfalls hat er etwas über sich erfahren.
    Lendles neuer Roman erreicht weder die Dichte und strenge Geschlossenheit der "Kosmonautin", in dem alles dem Motiv der Flucht einer Frau untergeordnet ist, die ihren Sohn verloren hat, noch die narrative Logik von "Alles Land", den Roman um den Polarforscher Alfred Wegener. In "Was wir Liebe nennen" laufen die Erzählstränge eher ins Leere, die Figuren bleiben schemenhaft, müssen es eventuell sein, wenn sie für eine Parabel herhalten sollen. Dennoch: Lesenswert ist dieser Roman allemal, wegen seiner poetischen Sprache, der Genauigkeit im Detail und seiner leichtfüßigen Prosa. Er hält die Spannung mit unerwarteten Wendungen, schrägen Bildern und skurrilem Witz.
    "Was wir Liebe nennen" ist ein luftiger Tagtraum, eine hellsichtige Fantasie über einen misslungenen Ausbruch und der literarische Versuch, den zeitgenössischen Kern einer kulturellen Stereotype freizulegen.