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Romantisch zugekleistert

Der Zugang des Literaturwissenschaftlers Dieter Borchmeyer zu Mozart ist ein historischer. Seine These lautet: Mozart ist im 19. Jahrhundert romantisch zugekleistert worden, befrachtet mit Mythen und Interpretationen, hinter denen das Werk allmählich verschwunden ist wie eine gotische Portalfigur unter Taubendreck. Diesen Dreck will Borchmeyer entfernen, damit uns der wahre Mozart in unverstellter Schönheit begegnen kann.

Von Martin Ebel | 22.01.2006
    An Mozart kommt niemand vorbei im kommenden Jahr, ebenso wenig wie am Fußball. Der 250. Jahrestag seiner Geburt bringt die Plattenteller zum Rotieren - und ebenso die Plattenfirmen, Konzertveranstalter, Buchverlage, die Wiener und Salzburger Hotellerie mit all ihren Event-Managern. Ein großer Teil der Aktivitäten wird sich auf Mozarts Heimatland konzentrieren, in der Hoffnung, dass auch ein entsprechender Teil des Geldsegens dorthin fließen möge - und als kleiner Trost dafür, dass Österreich nicht Fußballweltmeister werden kann, weil es gar nicht für das Turnier qualifiziert ist. Aber Mozartweltmeister ist auch ganz schön.

    Gegen Mozart hat niemand etwas. Der Goldknabe aus dem 18. Jahrhundert gilt den einen als Inbegriff des Schönen und Reinen schlechthin, und wer es etwas rebellischer und punkiger mag, der hört halt statt Mozart - Amadeus. Mozart begriffen, erklärt, ausgeschöpft zu haben darf indes niemand behaupten. Im Gegenteil: Dieser Komponist bewahrt, wie kein anderer sonst, sein Geheimnis, seine Aura. Bei keinem anderen verfallen auch Kenner so leicht in verzücktes Stammeln. Ein Begriff aus der Theologie, das "Wunder", fällt unweigerlich früher oder später, wenn von Mozart die Rede ist.

    Auch Goethe gebraucht diesen Begriff, als einer der ersten. Vierzehn Jahre alt war er, als er das siebenjährige Wunderkind Wolfgang Amadeus in Frankfurt hörte. Das war 1763, und mehr als ein halbes Jahrhundert später erinnert er sich im Gespräch mit Eckermann noch genau daran. Goethes Beziehung zu Mozart gilt ein Essay in Dieter Borchmeyers Buch "Mozart oder die Entdeckung der Liebe", ein weiterer den Versuchen der Dichter, das Geheimnis, das Mozart umgibt, mit der eigenen Phantasie auszustaffieren. Von Mörike bis Hanns-Josef Ortheil über zahlreiche Kleinmeister reicht die Galerie der Mozart-Bedichter. Warum ist das so? Warum, fragt Borchmeyer,…

    " ...ist gerade Mozart der am meisten literarisierte Komponist der Musikgeschichte geworden, warum nicht etwa Beethoven oder Wagner, dessen abenteuerliches Leben dazu doch prädestiniert scheint? Der Grund dafür ist wohl die Tatsache, dass Mozarts Leben und Werk vom Geheimnis des vorsentimentalischen Künstlertypus umwittert sind, der sein Schöpfertum noch nicht zum Gegenstand ästhetischer Reflexion macht. Mozarts Vita und Kreativität bleiben rätselhaft, fordern zu immer neuer literarischer Rätsellösung heraus. Der intellektuelle Künstler der Moderne hingegen, der sich selbst zur Literatur und die Literatur zum Spiegel seiner selbst macht, will sich nicht in die Welt der Fiktion eines anderen Künstlers fügen. Ihm fehlt die Aura des Undurchdringlichen, dessen eine literarische Gestalt bedarf. Diese Aura aber zeichnet in besonderem Maße Mozart aus, der sich nicht in seinem Werk und das Werk nicht in sich spiegelt, als Person durch einen undurchsichtigen Schleier von seiner Musik getrennt bleibt wie kaum ein anderer großer Künstler; er bleibt deshalb bis über die Schwelle des neuen Jahrhunderts ein literarisches Faszinosum. "

    Auch der Literatur- und Theaterwissenschaftler Borchmeyer, Ordinarius in Heidelberg und einer der bekanntesten seiner Zunft, ist fasziniert. Sein Zugang zu Mozart in den sieben Essays seines neuen Buches ist ein historischer, um nicht zu sagen historisierender. Seine These lautet: Mozart ist im 19. Jahrhundert romantisch zugekleistert worden, befrachtet mit Mythen und Interpretationen, hinter denen das Werk allmählich verschwunden ist wie eine gotische Portalfigur unter Taubendreck. Diesen Dreck will Borchmeyer entfernen, damit uns der wahre Mozart in unverstellter Schönheit begegnen kann. Auf seine Weise tut der Autor damit nichts anderes als die Vertreter der historischen Aufführungspraxis. Beanspruchen diese, die Werke so zu spielen, wie sie damals erklungen sind - indem sie zu den originalen Tempi, der Artikulation, den Instrumenten, ihrer Stimmung und Aufstellung zurückkehren:

    So will Borchmeyer uns begreiflich machen, auf welchen Erwartungshorizont die Opern Mozarts trafen, als sie zum ersten Mal aufgeführt wurden. Welche Art von Opern Mozarts Zeitgenossen gewohnt waren und was das Neue, Überwältigende, auch Befremdende der Mozartschen Werke war. Dabei geht es gar nicht zentral um die Musik; Borchmeyer ist kein Musiker und kein Musikwissenschaftler und beansprucht auf diesen Gebieten auch keine Kennerschaft. Deshalb kommt er auch ohne jegliches Notenbeispiel aus, was all die Leser freuen wird, denen die einschlägige Kennerschaft ebenfalls abgeht. Das zentrale Interesse des Autors gilt vielmehr einem Sachgebiet, auf dem jeder wenn schon nicht als Experte gelten, so doch eigene Erfahrungen beisteuern kann: Es geht um die Liebe.

    "In Mozarts sieben, im Verlauf eines einzigen Jahrzehnts entstandenen großen Opern - "Idomeneo", "Die Entführung aus dem Serail", "Die Hochzeit des Figaro", "Don Giovanni", "Cosi fan tutte", "Die Zauberflöte" und "Titus" - bilden ein einzigartiges Panorama der sich überlagernden, kreuzenden, befehdenden und versöhnenden Liebesdiskurse des späten 18. Jahrhunderts, wobei der empfindsame unverkennbar die anderen Diskurse dominiert, die Empfindsamkeitsgemeinde den Goldgrund bildete, von dem sich die Liebenden galanter, taktischer oder empfindsamer Provenienz, Zärtliche und Rasende, Treue und Treulose, Schwärmer und Zyniker, Verführer und Verführte, Liebesmetaphysiker und Liebesnihilisten, Passionierte und Entsagende, Spiritualisten, Sensualisten und Sexualisten leuchtend oder dunkel abheben. "

    Was versteht Borchmeyer nun unter dem "empfindsamen Diskurs"? Genau das, was wir heute unter Liebe schlechthin verstehen: Dass wir intensive Gefühle für einen anderen Menschen entwickeln, die nach Nähe, nach geistigem, seelischen und körperlichem Austausch drängen, und dass wir diesen anderen auswählen nicht nach objektiven, sondern subjektiven Kriterien: Weil er so ist, wie er ist. Weil er das "gewisse Etwas" hat, etwas Unerklärliches. In der romantischen Vorstellung, sozusagen der emphatischsten Form des empfindsamen Diskurses, finden zwei füreinander bestimmte Menschen in Liebe zueinander, binden sich auf ewig und "erden" ihre Liebe durch die Ehe. Diese uns so vertraute Vorstellung ist aber weder natürlich noch selbstverständlich. Bis zum 18. Jahrhundert standen bei der Eheschließung im Vordergrund die Interessen der beiden Familien, die ihren Besitz wahren oder vermehren, den Namen erhalten und weitergeben wollten. Mit Liebe hatte das nichts zu tun. Wenn über Liebe geredet wurde, etwa in Gedichten oder auf der Bühne, handelte es sich um die "galante Liebe", die eine eigene, hochelaborierte Formensprache entwickelt hatte. Im Lauf des 18. Jahrhundert trat nun eine neue Gefühlskultur auf: die Empfindsamkeit, und ein neues Ziel: die Liebesheirat.

    "Liebe und Empfindsamkeit bilden einen Bund sowohl gegen die herkömmlichen Allianzregeln wie gegen den sie umrankenden, synkopisch überspielenden galanten Code. Beide werden ausser Kraft gesetzt, indem Ehe und Liebe zusammengeführt, Liebe als Voraussetzug der Ehe, Ehe als Institutionalisierung der Liebe bestimmt wird. Im Gefühl der Liebe erkennt das Ich sich selbst und konstituiert sich als Subjekt. "

    Diese Liebe kennt keine Standesschranken mehr und auch keine anderen Grenzen. Sie setzt sich absolut. Darin liegt aber auch eine Gefahr. Ein Gefühl, das sich nur noch auf sich selbst stützt, kann - so überraschend, wie es gekommen ist - auch wieder verschwinden; der Liebende kann sich täuschen, im anderen wie in sich selbst. Die Bedrohung der empfindsamen Liebe kommt also weniger von außen - wie das in traditionellen Liebesgeschichten der Fall war mit ihren Piratenüberfällen, Entführungen und anderen Hindernissen -, sondern von innen. Genau davon handeln Mozarts sieben große Opern, sagt Dieter Borchmeyer: von den Irrungen und Wirrungen, denen die handelnden Personen ausgesetzt sind, weil sie sich in der neuen Welt der Empfindsamkeit zu bewegen versuchen. Weil sie auf abweichende Verhaltensweisen stoßen oder die neue Gefühlskultur ihre eigenen Widersprüche produziert - und, das ist bei Mozart immer so, diese Widersprüche auch wieder versöhnt.

    Am Beispiel der Eröffnungsarie des Belmonte in der "Entführung aus dem Serail" zeigt Dieter Borchmeyer sehr schön, wie sich der Held seiner Liebe versichert, wie er umgekehrt als Liebender zum Helden wird. Die Arie folgt nicht mehr dem klassischen ABA-Schema der Opera seria, sondern entwickelt sich, als folge sie den im Augenblick empfundenen und geäußerten Gefühlen. Belmonte ist kein Rollentypus mehr, sondern ein Individuum, das seine Liebe als einzigartig wahrnimmt und dem Mozart eine entsprechend einzigartige Musik auf den Leib schreibt.

    "Mozarts Liebesarie unterscheidet sich von ihrem deskriptiven Text wie Goethes Sesenheimer Erlebnisdichtung von der "ut pictura poesis"-Lyrik der Aufklärung. Das gilt kaum weniger von den Arien Konstanzes, zumal von der "Martern"-Arie, deren - 60 Takte umfassendes - instrumentales Vorspiel eine beispiellose Herausforderung an die Bühne darstellt, da hier ein rein musikalisches Seelengemälde entworfen wird, bevor die Sprache ihr Werk beginnt; Flöte, Oboe, Violine und Violoncello entfalten sich schon als Partner der Singstimme, bevor diese selber ihnen gegenüber zu Ton und Wort kommt. "

    Im Finale des zweiten Akts derselben Oper zeigt Mozart dann, wie labil eine allein auf Empfindsamkeit gründende Verbindung ist. Belmonte und sein Diener Pedrillo zweifeln plötzlich an der Treue ihrer Geliebten; diese reagieren mit Fassungslosigkeit und Zorn, der Bruch scheint unmittelbar bevorzustehen. Mozart macht diese Gefährdung, die sein Librettist nur angedeutet hat, zum Zentrum des Vokalquartetts.

    " Mozarts diskontinuierliche Satztechnik - die antagonistische Gefühlsbewegungen und plötzliche Gefühlswandlungen, Kontraste und Brüche mit einer bis dahin unbekannten musikalischen Evidenz gestaltet - wird mit ihrem wiederholten Wechsel von Tonart, Takt und Tempo im Quartett zum Seismographen der emotionalen Gefährdungen der Empfindsamkeit. Der Allegro-Jubel des Beginns mit Pauken und Trompeten verschattet sich bei dem aufkeimenden Zweifel Belmontes an Konstanzes Treue zu einem Moll-Andante, die Musik gerät ins Stocken, bis hin zum Stillstand, zur Generalpause, die Konstanzes Fassungslosigkeit signalisiert. Wenn die Musik schliesslich zur Ausgangstonart D-Dur zurückfindet und mit ihr zum Jubel des Beginns, ja sich zum Hymnus "Es lebe die Liebe" steigert - dessen ekstatischer Jubel alles hinter sich lässt, was bis dahin in der Operngeschichte der Liebe zu Ton und Ort gelangte -, dann ist der vorhergehende Zweifel doch nicht vergessen. "

    Immerhin sind die Gefühle dann doch stark genug, die Zweifel zu überwinden und eine "Empfindungsgemeinschaft" zu bilden, die sogar den Bassa Selim ansteckt und dazu bringt, auf die Rache am Sohn seines ärgsten Feindes zu verzichten und Konstanze ziehen zu lassen. Nur Osmin, der Haremswächter, ist von dieser Veredelung durch Empfindsamkeit ausgeschlossen; er beharrt auf Rache und bleibt der Fundamentalist dieser Oper, gegenüber dem das Quartett der Liebenden seine moralische Überlegenheit demonstrieren kann.
    Durst nach Rache, ein klassischer Affekt der Opera seria (also jener Opernform, die Mozart mit seinen großen Werken überwindet), dient auch andernorts als Mittel, die neue Empfindungskultur scharf hervortreten zu lassen. Einen ganzen Aufsatz widmet Dieter Borchmeyer den "rasenden Weibern", einem seinerzeit klassischen Rollentypus.

    "Die rasenden Weiber sind anachronistische Figuren, geprägt von einer obsoleten Affektwelt, wie sie auf dem Theater des 18. Jahrhunderts ganz bewusst nur noch als Kontrastfolie zur zeitgemäßen empfindsamen Humanität eingesetzt wird. Sie sind Projektionen des empfindsamen Liebescodes, verkörpern das aus ihm Ausgeschlossene - die durch eben diesen Ausschluss dämonisierte, ins Orgiastische gesteigerte erotische Leidenschaft, die aus dem vernünftig-zärtlich domestizierten modernen Leben herausfällt, hinabfällt in eine mythisch-archaische Tiefe, wo noch ungebändigte Ungeheuer in der äußeren Natur wie im menschlichen Inneren hausen. "

    In der "Zauberflöte" wird Pamina dieser archaischen Welt entzogen und in die Welt des Priesterkönigs Sarastros überführt, in jene "heilgen Hallen", in denen man die Rache nicht kennt und in der sie mit Tamino eine Gemeinschaft bildet, die mehr ist als eine bloße Gefühlsgemeinschaft zweier Liebender; sie ist Teil eines größeren Ganzen. In Sarastros Reich gelten keine Standesunterschiede (das war etwas, was Mozart bei den Freimaurern so gefiel), aber auch keine Rangunterschiede zwischen Frau und Mann. Die frauenfeindlichen Töne, bis dahin in der "Zauberflöte" unüberhörbar, verschwinden jetzt, und Mann und Weib reichen tatsächlich an die Gottheit heran - hier vollendet sich Mozarts Utopie.

    "In Paminas Wandlung von der Tochter der chthonischen Königin zum Abbild der Göttin des Sonnenreichs erfährt das empfindsame Frauenbild - im Kontrast zu einer furienhaften, von Hass und Rache beherrschten matriarchalischen Weiblichkeit - seine äusserste Steigerung. Pamina ist es auch, die Tamino anleitet, beim Weg durch die mit Vernichtung drohenden Elemente - Feuer und Wasser - die Zauberflöte zu spielen. Diese ist die humanisierende Gegenkraft zur Macht des Elementaren, ob es sich um die Raserei der unbelebten Natur, des wilden Tierreichs oder der Affektwelt des Menschen handelt. Wie sie "der Menschen Leidenschaft verwandeln", seine aggressiven Affekte zu philanthropischen Empfindungen harmonisieren kann, so verwandelt sich unter ihren Tonen alles Bedrohliche ins Wohltätige. Die Musik selbst offenbart sich in Mozarts "Zauberflöte" dergestalt als tönende Humanität. "

    In der "Hochzeit des Figaro" trifft der galante Liebesdiskurs des "ancien régime" auf die neue Empfindsamkeit - in ein und derselben Person. Der Graf Almaviva ist seiner Gattin in echter, zärtlicher Liebe zugetan; zugleich glaubt er sich aber berechtigt, aufgrund seiner ständischen Privilegien, den Frauen seines Herrschaftsbereichs nachzustellen. Der sich daraus ergebende Konflikt treibt die Oper an; er wird gelöst durch die Verwandlung des Grafen - musikalisch ausgedrückt durch eine lange Pause, auf die das berührende "contessa perdono", die Bitte um Verzeihung, folgt. Die Wahrnehmung der edlen Empfindungen seiner Umgebung führen auch zu seiner moralischen Läuterung. Die wahre Empfindung stiftet auch hier eine Gefühlsgemeinschaft, deren Sogwirkung stärker ist als alle destruktiven Kräfte.

    Am Beispiel von "Cosi fan tutte" führt Dieter Borchmeyer nicht nur vor, was der historisierende Ansatz zur Erhellung eines Werks leistet, sondern auch, wie der dominierende Diskurs der Gefühle die Aufnahme und Beliebtheit eines Werkes prägt. "Cosi fan tutte", diese Geschichte von zwei Offizieren, die die Treue ihrer Verlobten dadurch prüfen wollen, das jeder die des anderen zu verführen versucht - "Cosi fan tutte" löste bei den Zeitgenossen Befremden aus, im 19. Jahrhundert fiel das Werk vollends in Ungnade. Ganz einfach, erklärt Borchmeyer: Im 19. Jahrhundert war der Diskurs der Empfindsamkeit zur herrschenden Ideologie geworden, zum romantischen Dogma sozusagen, und die früher übliche Weise des Fühlens unverständlich geworden. Um so mehr Werke, die nach solchen Regeln funktionierten, wie eben "Cosi fan tutte":

    "Die Partnerwahl der Oberschicht richtete sich ganz selbstverständlich auf solche Personen des anderen Geschlechts, die einem vorgeprägten Erscheinungsbild, Tugendkatalog und Verhaltenscode entsprachen, die man also gewissermaßen schon kannte, bevor man sie gesehen hatte. So hat auch das Quartett in "Cosi fan tutte" vor Beginn der Opernhandlung zueinander gefunden, und der Gedanke, dass die eingegangene Beziehung durch irgend etwas gestört werden könnte, fällt aufgrund der Kongruenz von Suchmuster und gefundenem Partner völlig aus dem Horizont der Protagonisten heraus. "

    Durch die Versuchsanordnung des "Philosophen" Don Alfonso geraten die beiden Frauen in eine exotische Situation, in der sie sich so neuen, ihnen selbst unbegreiflichen Gefühlen ausgesetzt sehen. Sie werden sozusagen aus der alten Welt der vernünftig geschlossenen Allianzen in die neue Welt der Empfindsamkeit katapultiert. Experiment geglückt, Patient desillusioniert: Das Quartett kehrt, nachdem es die Unberechenbarkeit der Gefühle am eigenen Leib (oder dem des Partners) erlebt hat, lieber wieder zum "ancien régime" der vernunftgesteuerten Beziehungen zurück. Das konnte einem Publikum, dem der empfindsame Diskurs längst in Fleisch und Blut übergegangen war, nicht gefallen.

    Dasselbe Publikum, meint Borchmeyer, musste deshalb den "Don Giovanni" missverstehen. Auch hier rekonstruiert der Autor deshalb den Erwartungshorizont der Entstehungszeit. Das führt zu einer Entromantisierung und Entdämonisierung des Titelhelden und einer Aufwertung seines Gegenspielers Don Ottavio. Dieser erscheint in Mozarts Optik als reinster Vertreter der Empfindsamkeit und Vernunft, der dem feudalen Wüstling Don Giovanni mit dem Gerichtsdiener entgegentritt, wie es das Gewaltmonopol des modernen Staates verlangt. Don Ottavio, nach Borchmeyers Worten ein "Mann der Zukunft", bildet mit dem Komtur und Donna Anna ein ideales Dreieck der Empfindsamkeit. Es ist das 19. Jahrhundert, speziell in der Nachfolge E.T.A. Hoffmanns, das in das Stück Dinge hineinspekuliert hat, die dort nicht zu finden sind: eine vollzogene Vergewaltigung Donna Annas durch Don Giovanni und eine daraus entstandene emotionalen Bindung jener an diesen. Donna Annas Verhältnis zu Don Giovanni muss metaphysisch erotisieren, wer den Verhaltenscode und die Gefühlswelt des Vor-empfindsamen Zeitalters nicht mehr versteht - was, so Borchmeyer, auch für die meisten heutigen Opernregisseure gilt.

    So plausibel aber Borchmeyers Analyse ist: Sie hat eine Schwäche. Don Giovanni verliert durch die Entdämonisierung an dramatischer Kraft, und die Aufwertung Don Ottavios kann dies nicht ausgleichen.

    "Der Sex-Appeal der Hölle ist halt meist stärker als der des Himmels…"

    …weiss Borchmeyer selbst, und ein dämonischer Don Giovanni, wie ihn die Rezeptionsgeschichte geformt hat, ist eine attraktivere Bühnengestalt als der scheiternde Vertreter des abtretenden Feudalzeitalters, den Borchmeyer aus dieser Oper historisch korrekt herausliest. Es ergeht einem mit Borchmeyers Methode wie mit manchen Dogmatikern der authentischen Aufführungspraxis: Sie mögen ja Recht haben, aber Mozarts Klaviersonaten klingen auf einem modernen Flügel eben doch reicher, voller, vielstimmiger und prächtiger als auf einem schwachbrüstigen historischen Instrument.

    So ist "Die Entdeckung der Liebe" eher stark anregend als vollkommen überzeugend. Die meisten Essays des Bandes wurden übrigens bereits andernorts veröffentlicht, und wenn das Buch auch keine bloße Buchbinder-Synthese aus Anlass des Mozart-Jahres ist - ein rundes ganzes ist es eben auch nicht geworden. Hervorhebenswert ist noch das Nachwort über Robert Walsers Mozart-Bild - vor allem wegen der vielen schönen Robert-Walser-Zitate. Rührend Walsers Mozart-Gedichte, verblüffend ein tragisches "rewriting" der "Zauberflöte", die mit einer verzweifelnden Pamina endet, und schlicht unübertrefflich folgende Sätze aus dem Prosastück "Musik":

    "Mir fehlt etwas, wenn ich keine Musik höre, und wenn ich Musik höre, fehlt mir erst recht etwas. Dies ist das Beste, was ich über Musik zu sagen weiß. "