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Ronald Reng zur Fußball-WM
"Im taktischen Bereich ein großer Stillstand"

Nach dem Aus der deutschen Nationalmannschaft bei der WM können die Zuschauer hier nach Ansicht des Sportjournalisten Ronald Reng auf deutlich entspanntere Art Fußball schauen, sagte der Sportjournalist Ronald Reng im Dlf. Zum Ausscheiden der Mannschaft hätten sehr viele Faktoren geführt.

Ronald Reng im Gespräch mit Stefan Heinlein | 10.07.2018
    Jonas Hector und Leon Goretzka nach dem 0:2 gegen Südkorea bei der Fußball-WM 2018 in Kasan
    Am Ende bleibe großes Staunen darüber, dass die deutsche Mannschaft so früh aus der WM ausgeschieden sei, sagt Ronald Reng (imago sportfotodienst)
    Stefan Heinlein: Am Telefon ist nun der Schriftsteller und Sportjournalist Ronald Reng, Bestseller-Autor unter anderem mit der Robert-Enke-Biographie "Ein allzu kurzes Leben" oder mit dem Buch "Spieltage. Die andere Geschichte der Bundesliga". Guten Morgen, Herr Reng.
    Roland Reng: Hallo! Guten Morgen, Herr Heinlein.
    Heinlein: Herr Reng, ist es für einen Fußball-Fan möglich, die WM zu genießen, auch wenn die eigene Mannschaft schon früh nicht mehr dabei ist?
    Reng: Ja, und obwohl es viele vergessen haben, haben wir Deutschen durchaus schon Gewohnheit und Übung darin. Ich erinnere mich an die Europameisterschaft 2004, als Deutschland auch in der Vorrunde ausschied und alle trotzdem weitergeschaut haben und gespannt waren, ob die Griechen mit Otto Rehhagel als Trainer tatsächlich Europameister werden können. Ich glaube, es eröffnet eine ganz neue Perspektive für die Leute. Man muss nicht mehr angespannt sein, man muss nicht mehr die ganze Zeit nervös Chips in sich reinhauen, sondern man kann einfach nur Fußball schauen und dabei auch noch herrliche Teams entdecken und vielleicht auch Sympathien für andere Länder – eine deutlich entspanntere Art, Fußball zu schauen.
    Heinlein: Konnte man denn schon nach dem ersten Spiel gegen Mexiko merken, dass es diesmal nicht funktioniert mit der Mannschaft?
    Reng: Absolut! Aber das Erstaunlichere, fand ich, war, dass man nach dem zweiten Spiel, oder ich zumindest nach dem 2:1 gegen Schweden das Gefühl hatte, jetzt sind sie doch da. Sie haben ihre Lektion aus dem trägen Auftritt gegen Mexiko gelernt und sie sind physisch, sie sind athletisch gut genug vorbereitet, taktisch sowieso, umzuschalten. Das war für mich dann das Frappierende und völlig Überraschende, dass man nach so einer, für mich tatsächlich sehr guten Leistung gegen Schweden im zweiten Spiel wieder eingebrochen ist und auch als Bundestrainer wieder ins alte Fahrwasser zurückgekommen ist, ein Spieler wie Sami Khedira, der im ersten Spiel wirklich im Schlafwagentempo über das Spielfeld gelaufen ist, dass der im dritten Spiel wieder in die Mannschaft kam. Dieser Rückfall war für mich das Frappierende eigentlich.
    "Spieler hatten mit sich selbst zu kämpfen"
    Heinlein: Haben Sie eine Erklärung, warum es nicht Klick gemacht hat bei der Mannschaft, nach diesem sagenhaften Freistoß-Tor von Toni Kroos? Warum ist die Mannschaft offenbar nicht zusammengewachsen?
    Reng: Wir neigen gerade im Fußball immer dazu, dann eine Erklärung zu finden, einen Punkt, an dem wir uns festhalten und sagen, das war’s. Das ist aber ganz selten so im Leben und noch weniger im Fußball. Es scheinen, sehr viele Faktoren eine Rolle gespielt zu haben. Wenn wir versuchen, die runterzubrechen: Viele Spieler hatten sehr mit sich selbst zu kämpfen. Ich erinnere daran, dass Spieler von Bayern München wie Thomas Müller oder Kimmich schon das Pokalfinale gegen Eintracht Frankfurt ein paar Wochen vor der WM sehr schlapp verloren haben. Andere Spieler wie Mats Hummels hatten mit Verletzungen zu kämpfen. Toni Kroos wirkte nach der langen Saison mit Real Madrid überspielt. Es waren so kleine Faktoren, dass viele Spieler mit sich selbst zu kämpfen hatten.
    Und dann, was für mich völlig neu war, weil ich Joachim Löw in den letzten zehn Jahren als einen Trainer kennengelernt habe, der sich immer persönlich versucht hat weiterzuentwickeln, die Mannschaft weiterzuentwickeln; da war auch im taktischen Bereich ein großer Stillstand. Wenn ich da ein Beispiel geben kann: 2014 bei der WM hatte sein Co-Trainer Hansi Flick erkannt, dass sie durchaus auch die Eckbälle trainieren müssen, auch wenn sie dann lieber den feinen eleganten Fußball spielen wollen, aus dem Spiel heraus Tore erzielen wollen, dass das ein wichtiges Detail ist. Dann hat gegen Frankreich im Viertelfinale der WM 2014 Mats Hummels ein ganz tolles und wichtiges Kopfballtor nach einer Ecke geschossen. Wir erleben bei dieser WM, dass die Standardsituationen, Eckbälle, die ruhenden Bälle, Eckbälle, Elfmeter, wichtiger denn je sind. Es sind fast 50 Prozent aller Tore nach Eckbällen gefallen. Und die deutschen Eckbälle wirkten so, muss man sagen, als ob sich da in den letzten Wochen niemand drum gekümmert hätte, als ob da niemand eine Idee hätte.
    So lassen sich eigentlich im Spiel sehr viele kleine Details finden, wo man denkt, okay, deswegen ging es schief. Aber wenn wir ganz ehrlich sind und wenn wir jetzt die vier Halbfinalisten anschauen, dann habe ich doch das Gefühl, von der Besetzung ist eigentlich Deutschland immer noch die beste Mannschaft. Deswegen bleibt am Ende ein großes Staunen und auch ein Unverständnis, wie das passieren konnte, denn die Mannschaft war, anders als jetzt Spanien, der Weltmeister von 2010 vier Jahre später, oder Italien, der Weltmeister 2006 vier Jahre später, das waren Mannschaften, die waren über ihren Zenit, die waren alt geworden. Das ist diese deutsche Mannschaft eigentlich nicht.
    "Özil hat tolle Pässe gegen Südkorea gespielt"
    Heinlein: Einen Namen, Herr Reng, haben Sie jetzt in Ihren Erklärungsversuchen nicht genannt, der von vielen Seiten, auch vom DFB selbst genannt wird: Mesut Özil und seine Trikot-Affäre. Wird er zum Sündenbock gemacht von vielen?
    Reng: Ich habe ihn indirekt genannt, als ich sagte, wir neigen dazu, uns an einem Punkt oft festzubeißen und zu glauben, der war es, das war der Grund. Und das passiert auf haarsträubende Weise nun mit Mesut Özil. Wir müssen natürlich von vorne beginnen. Haarsträubend war schon: Wie kommt er dazu, Werbung zu machen für einen Präsidenten Erdogan in der Türkei, der jetzt wie ein Despot auftritt, der Lehrer einsperrt ohne große Prozesse, der Oppositionelle einsperrt. Da hat er sich nie erklärt. Man hat offenbar beim DFB gedacht, der Fußball löst das. Der schöne Fuß vom Mesut, wenn der erst mal wieder Tore schießt, wenn der wunderbare Pässe spielt, dann beruhigt sich das alles, dann lieben ihn die Menschen trotzdem. Nun kam es anders. Der Fußball der Deutschen war schlecht. Mesut Özil hat ein schlechtes Spiel wie alle gemacht, das erste Spiel gegen Mexiko. Da war er nicht besser und nicht schlechter als die anderen.
    Er war im zweiten Spiel nicht dabei und im dritten Spiel gegen Südkorea war er einer der besseren Spieler. Was sein Spiel ist: Er versteckt sich. Das sehen auch viele Leute nicht, dass das Verstecken zu seinem Spiel gehört. Das muss er auch so machen, damit ihn die Gegner nicht entdecken zwischen Mittelfeld und Abwehr des Gegners. Und dann hat er sehr tolle Pässe gespielt gegen Südkorea, aber die Mitspieler waren nicht in der Lage, die zu nutzen. Deswegen: Sportlich gibt es keinen Grund, irgendwas auf ihn zu kaprizieren.
    "Mesut Özil hat sich immer noch nicht erklärt"
    Heinlein: Herr Reng, die Nationalmannschaft war und ist ja eine Multikulti-Truppe. Diese Trikot-, diese Erdogan-Affäre, gibt das einen Riss in der Mannschaft jetzt, dass dieses Miteinander dieser verschiedenen Ethnien durcheinander gerät, anders als bei den Belgiern, Franzosen oder Briten, wo das ja offenbar funktioniert?
    Reng: Ich habe mit zwei Leuten aus der Mannschaft gesprochen, einer aus dem Trainerstab, einer aus der Mannschaft. Die versicherten mir eigentlich glaubhaft: Es gab eine interne Aussprache. Da wurden Mesut Özil und Gündogan, dem anderen Spieler, die bei Präsident Erdogan waren, Fragen gestellt, warum sie das gemacht haben, und offenbar hat die Mannschaft, die jetzt auch kein hoch politisches Konstrukt ist, das auch so akzeptiert, die Erklärungen, dass sie sich natürlich auch weiterhin als Deutsche, aber auch als Türken fühlen, was völlig nachvollziehbar ist, und es als Ehre empfunden haben, den Präsidenten des Heimatlandes ihrer Eltern zu sehen. Das wurde in der Mannschaft erst mal akzeptiert und war in der Mannschaft erst mal kein Thema.
    Aber natürlich: Wenn es nicht läuft, dann sind auch Fußballer Menschen, die dazu neigen, die Schuld immer bei anderen zu suchen, und da war das natürlich ein kleiner Aspekt, der auch innerhalb der Mannschaft als Thema manche genervt hat, aber nicht mehr. Ich glaube, das große Thema ist natürlich für den Deutschen Fußballbund, wie geht man damit jetzt um. Mesut Özil hat sich immer noch nicht erklärt, er hat sich immer noch nicht geäußert dazu, und das wird nicht funktionieren, dass er weiter für Deutschland spielt und schweigt und den Leuten in Deutschland nicht erklärt, warum er den Präsidenten der Türkei, der sich despotisch aufführt, getroffen hat. Deswegen wird dieses Thema in den nächsten Monaten uns durchaus noch begleiten.
    "Menschen, die verschiedene Heimaten haben"
    Heinlein: Reizt den Schriftsteller Ronald Reng diese Geschichte Özil, das Thema Multikulti in Vereinen und der Nationalmannschaft? Ist das Stoff für Sie?
    Reng: Ja, ich arbeite gerade an einer Biographie über einen anderen ehemaligen deutschen Weltmeister, der einen ähnlichen Hintergrund hat. Das ist natürlich ein großes Thema unserer heutigen Zeit, dass wir Menschen haben, die verschiedene Heimaten haben. Viele Leute haben noch diesen alten, längst überkommenen Heimatbegriff, dass das ganz klar definiert ist. Man kommt aus Frankfurt-Schwanheim und ist deswegen ganz klar Deutscher, weil schon fünf Generationen vor ihm Deutsche sind. So ist es nicht. Ich selber habe zwölf Jahre in Spanien gelebt. Ich weiß, dass man durchaus Sympathien und Gefühle für zwei verschiedene Länder hat und sich durchaus in verschiedenen Orten wohl fühlen kann. Deswegen ist das natürlich gerade im Fußball ein ganz großes Thema, weil diese Menschen dann wieder als Nationalspieler hundertprozentig ein Land repräsentieren sollen. Dass sie das innerlich nicht fühlen, ist auch eigentlich selbstverständlich, und das ist ein faszinierender Konflikt, ist schon wieder ein großes Wort, aber ein faszinierendes Thema.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu