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Roth fordert Perspektive für einen EU-Beitritt der Türkei

Wolfgan Koczian: Am Telefon in Berlin nun die Vorsitzende deutsch-türkischen Parlamentariergruppe, Claudia Roth, guten Tag, Frau Roth.

16.02.2004
    Claudia Roth: Guten Tag, Herr Koczian.

    Koczian: Interpretiert man das Wort von den in Aussicht gestellten privilegierten Beziehungen der Türkei zur EU richtig, wenn man sagt: alle Rechte, nur nicht die Freizügigkeit? Regiert also die Angst vor der Zahl von 80 Millionen, die eben genannt wurde?

    Roth: Das ist sicher auch ein Hintergrund und es wird natürlich zu Recht als die rote Karte für eine EU-Integration der Türkei interpretiert. Ich halte das wirklich für einen völlig falschen Schritt, denn nicht nur die Türkei hat sich verpflichtet als Voraussetzung, dass Verhandlungen überhaupt beginnen können, die Kopenhagener Kriterien zu erfüllen. Auch die Europäische Union hat gesagt, wenn diese Kriterien erfüllt sind - die Menschenrechte, die Minderheitenrechte, die Zivilisierung der Politik, die Rechte der religiösen Minderheiten, die kurdische Frage - dann beginnen langwierige Beitrittsverhandlungen. Auch die Europäische Union hat sich verpflichtet. Bei vielen in der Türkei wird dieser Vorschlag einer privilegierten Partnerschaft wie eine Ausgrenzung verstanden. Er wird als ein Signal verstanden. Wir wollen zwar Partner, wir wollen zwar ein Verhältnis zur Türkei auf unterschiedlichen Ebenen, zum Beispiel im Rahmen der Nato, aber eigentlich gehört ihr doch nicht gleichberechtigt dazu. Das hat aus meiner Sicht eine falsche außenpolitische Perspektive und es hat auch eine falsche und gefährliche innenpolitische Perspektive. Bei uns leben zweieinhalb Millionen Menschen aus der Türkei. Wenn man ihnen den Eindruck vermittelt, dass sie eigentlich nicht zu uns gehören, dann ist das sicher nicht etwas, was eine friedenstiftende Wirkung im Inneren hat.

    Koczian: Bleiben wir einmal beim Aktuellen: Wenn die türkischen Zyprer demnächst EU-Bürger werden sollten, die Türken aber selbst nicht, müssen sie sich dann nicht betrogen fühlen? Riskiert man nicht, dass neue Widerstände aufgebaut werden?

    Roth: Ich hoffe sehr, dass endlich der Zypernkonflikt und endlich diese Mauer in Europa fällt. Dass diese Halsstarrigkeit von alten Männern, die ja stark die Zypernfrage geprägt haben, überwunden wird und dass der Vorschlag von Kofi Annan umgesetzt wird. Dann ist es ein wichtiges Signal, auch für eine mögliche EU-Integration der Türkei. Eines ist ganz wichtig - und das finde ich auch so problematisch bei der Position der Union, der CDU/CSU in diesem Fall: Dass eine Absage zum heutigen Punkt eine Absage an die Türkei-Integration am heutigen Zeitpunkt den ganzen Reformprozess natürlich nicht verstärkt in der Türkei, sondern ihn eher dämmt. Wir haben doch erlebt, dass es über eine glaubwürdige Perspektive wirklich eine enorme Dynamik der Veränderung in der Türkei gibt. Folter, Todesstrafe, viele, viele Punkte sind verändert worden. Jetzt geht es darum, dass diese Änderungen auch tatsächlich umgesetzt werden. Man kann nicht jetzt hergehen und sagen, ja, ihr könnt zwar Reformen machen, aber eigentlich wollen wir nicht, dass die Beitrittsverhandlungen beginnen. Das würde sicher genau das Gegenteil von dem auslösen, was wir wollen: Dass diese menschenrechtlichen, demokratiepolitischen Fragen in der Tat implementiert sind, dass die Kopenhagener Kriterien ohne Wenn und Aber erfüllt sind. Dann aber muss die Türkei die gleichen Möglichkeiten haben wie die anderen Beitrittsländer sie auch hatten.

    Koczian: Die türkische Regierung will den EU-Beitritt, die Türken hier wollen nicht Bürger zweiter Klasse sein, aber im produzierenden Gewerbe bei den Teppichknüpfern und Schmuckwerkstätten erzählen die Geschäftsführer jedem Besucher, dass ein EU-Beitritt wegen des Wegfallens des Lohnkosten-Vorteils sich verheerend auswirken müsste. Wo liegt denn das Interesse der Türkei?

    Roth: Also wissen Sie, wenn Sie sich einmal die Umfragen in der türkischen Bevölkerung anschauen, gibt es kein Land, in dem eine so große Mehrheit für die EU-Integration ist. Die Türkinnen und Türken fühlen sich als Europäer. Sie wollen. Sie gehören dazu. Sie möchten integriert werden und sie wissen natürlich auch, dass dieser Integrationsprozess, bis es dann einen konkreten Beitritt geben wird, lange dauert. Wie lange haben die Verhandlungen mit unseren osteuropäischen Nachbarländern gedauert? Da werden ja viele, viele Punkte umzusetzen sein. Die Unterschiede im Lohngefälle, dieses Problem haben wir ja auch mit osteuropäischen Nachbarländern, die Freizügigkeit, da gibt es Sonderregelungen, haben wir auch mit den osteuropäischen Nachbarländern. Wichtig ist nur, glaube ich, dass ernst genommen wird, dass es in der Türkei wirklich eine Dynamik der Veränderung gibt in den letzten Monaten, wie wir sie seit vielen, vielen Jahren nicht erlebt haben und dass man diese Reform-Veränderungsdynamik jetzt nicht stoppen darf, indem man von vornherein sagt: Ihr gehört nicht gleichberechtigt dazu. Übrigens ist es ja nicht nur eine Chance für die Türkei, gleichberechtigtes Mitglied der Europäischen Union werden zu können. Ich glaube, gerade in Zeiten von internationalem Terrorismus, gerade in Zeiten, in denen es doch darum gehen muss, deutlich zu machen, dass es nicht um den Krieg von Religionen, um einen Krieg von Kulturen geht, sondern um den Dialog, wäre die Aufnahme einer demokratischen, modernen Türkei eine unheimliche Stärkung für die Europäische Union.

    Koczian: Liegt das Problem vielleicht in unserem Türkeibild hierzulande, das zum Beispiel von Metin Kaplan geprägt wurde. Er wirkt hier in Deutschland, während es in der Türkei nicht in einer einzigen öffentlichen Schule ein Kopftuch gibt?

    Roth: Natürlich unser Türkeibild oder Teile davon sind auch geprägt von der nicht gut gelungenen Integration von manchen Gruppen aus der Türkei in unserem Land. Aber da müssen sich beide an die Nase fassen. Ich finde es sehr schlimm, dass Menschen bei uns seit Jahrzehnten leben, die zum Beispiel die deutsche Sprache wirklich nicht gut beherrschen, dass es Formen von Fundamentalismus gibt, die so in der Türkei gar nicht möglich wären. Dass sich aber auch unsere Gesellschaft nicht besonders integrationsfreudig gezeigt hat in den letzten Jahrzehnten, und dass wir dringend diese Integrationsbereitschaft auch bei der deutschen Aufnahmegesellschaft brauchen. Aber wir haben in Deutschland ja die Chance, mit so vielen Menschen, die aus der Türkei gekommen sind, die bei uns schon seit Generationen leben, eine Brücke zu bauen zu der Türkei, eine Brücke zu den Menschen zu bauen, und ich glaube, auf der Basis der Erfüllung der Kopenhagener Kriterien muss man diese gleichberechtigte Perspektive für die Türkei offen halten, aus außenpolitischen Gründen und aus innenpolitischen Gründen, die uns in Deutschland besonders betreffen.

    Koczian: In den Informationen am Mittag war das Claudia Roth, die Vorsitzende der deutsch-türkischen Parlamentariergruppe, danke nach Berlin.

    Roth: Ich danke Ihnen, auf Wiederhören.