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Rudolf Borchardt: Sämtliche Werke
Vom elitären Meisterdichter zum Gesellschaftsromancier

Minne-Dichter, Kritiker der Republik, Leugner der eigenen Herkunft, auch ein wenig Hochstapler und Frauenheld: Rudolf Borchardt steht immer mit einem Bein im Parnass - und mit dem anderen im Pornografischen. Ein erschütterndes Zeugnis.

Von Katharina Teutsch | 16.08.2020
Rudolf Borchardt in einer historischen Porträtfotografie
"Ich lasse mich nicht zu dem Niveau meiner Leser hinab, sondern setze das meine", ist ein überliefertes Wort von Rudolf Borchardt. Doch dann erschien ein Band mit Ehe- und Gesellschatsnovellen des Minnedichters. (picture-alliance / akg-images)
"Was eine richtige Pflanze ist, wenn die blüht, wächst sie nicht mehr anderswo an. Eine gesunde Pflanze macht Wurzeln oder sie macht Blumen. Beides auf einmal kann sie nicht machen. Wenn sie nach unten lebhaft ist, will sie nach oben, blühen und versamen. Wenn sie nach oben lebhaft ist mit Blühen und Versamen, steht sie unten still."
Wurzel oder Blüte. Tiefe oder Oberfläche. Untergründige Verfestigung in der Tradition alteuropäischer Dichtung. Oder oberflächliche Entfaltung dessen, was gegenwärtig so los ist im Leben des homme moderne – und was der von Borchardt so lauthals verachtete französische Gesellschaftsroman schon länger erfolgreich abarbeitete.
Das Zitat eines passionierten Gärtners, der Rudolf Borchardt (Jahrgang 1877) auch war, findet sich in einer Erzählung namens "Der unwürdige Liebhaber". Sie bildet einen Highlight im jetzt neu edierten Prosawerk des Dichters. Und zwar deswegen, weil sie alle Widersprüche des ehemaligen George-Anhängers aufs Schönste abbildet.
Konservativ, aber originell
Zu Lebzeiten galt Borchardt als literarischer Geheimtipp, weil er zwar konservativ war, aber äußerst originell mit seinen literarischen Bildungspfunden zu wuchern wusste. Von Pindar zu Dante verlief eine gerade Linie, die Borchardt für das zwanzigste Jahrhundert fortzusetzen angetreten war. Seine Dante-Übersetzungen gehören in ihrer eigensinnigen Kunstsprache zum wichtigsten Zeugnis dieses Vorhabens. "Schöpferische Restauration" nannte Borchardt sein ästhetisches Programm in Anlehnung an Hofmannsthals "konservative Revolution". Die Formensprache der Antike sollte darin auf den fruchtbaren Acker einer deutschen Kulturnation fallen und von hier aus ewige Früchte ausbringen.
Borchardt, der seit Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts an verschiedenen idyllischen Orten in Italien lebte, lehnte so ziemlich alles ab, was man damals mit modernem Großstadtleben in Verbindung bringen konnte. Die formzertrümmernden Experimente der literarischen Avantgarde, insbesondere die des Expressionismus, waren ihm ein Graus. Die modernen Geschlechterverhältnisse und Bubikopf-Frauen hinter Steuerrädern behagten ihm ganz und gar nicht. Ebenso die Vergnügungen des modernen Menschen wie Kino, das neue Theater, die internationale Kunstszene oder die U-Bahn. Dem allen versuchte Borchardt sich zu entziehen, indem er in Toskana-Villen ein Familienleben nach aristokratischer Manier inszenierte.
Zwischen Parnass und Porno
Noch als Hitler ihm als Juden Publikationsverbot erteilte, hegte er in Italien Sympathien für Mussolini und versuchte diesen mit seiner Dante-Übersetzung zu beeindrucken. Er fühlte sich zum Lebensstil der alten Geschlechter, die seit Ende des Weltkriegs einen schweren Stand hatten, hingezogen. Er selbst entstammte diesem Milieu keineswegs. Borchardts schwieriges Verhältnis zum eigenen Judentum steht in Zusammenhang mit seiner größten Sehnsucht: Er wollte eine Genealogie zwischen den Heroen des Altertums und der Gegenwart herstellen. Das Judentum stand ihm dabei ihm Weg. Es stand in antisemitischer Tradition für parvenuhaftes Bürgertum, Rechnungswesen und Wurzellosigkeit. So sollte Borchardtsche Dichtung nicht sein.
"Ich lasse mich nicht zu dem Niveau meiner Leser hinab, sondern setze das meine", ist ein überliefertes Wort von Rudolf Borchardt. Auch deshalb staunten die zeitgenössischen Kritiker nicht schlecht, als von ihrem Toskischen Minnedichter 1929 plötzlich ein Band mit Ehe- und Gesellschaftsnovellen aus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg erscheinen.
"Rudolf Borchardt war bis vor gar nicht so langer Zeit ein Name, der in Abgeschlossenheit fast sagenhaft dunkel blieb. Lange kannte man von ihm an dichterischen Äußerungen nur das ‚Buch Joram’ und einige verstreute Gedichte. Man kannte auch seine Rede über Hofmannsthal und sein Vorwort zur Übersetzung des Platonischen Lysis. Hin und wieder las man von ihm einen kritischen Aufsatz über Stefan George oder über Dante-Übersetzungen, der das immense Wissen des Mannes verriet und über die Behandlung des Themas hinweg durchaus produktiv anmutete. Erst seit ein paar Jahren hat Rudolf Borchardt sich entschlossen, seine strenge und genaue Zurückhaltung aufzugeben, und seine Werke, die bei Ernst Rowohlt in Berlin erscheinen, zeigten zum erstenmal den vollen Reichtum der Persönlichkeit."
An anderer Stelle drückt der gleiche Kritiker, Peter Hamecher, es weniger freundlich aus. Von Konzessionen an den Zeitgeschmack ist am 1. September 1929 in der Literaturbeilage von "Der Tag" die Rede. Was ist also von dem Wendepunkt in Borchardts Schreiben zu halten, was von seiner Zeitgenossenschafts-Novellistik?
"Kurz nachdem die Franzosen das Sanktionsgebiet wieder geräumt hatten und hinter die alte Besetzungslinie zurückgegangen waren, entdeckte ein mit Frau und Kind auf seine überstürzt verlassenen Güter zurückkehrender Gutsbesitzer, ein Freiherr von Klingen, durch bestochene Dienstboten, eine seit geraumer Zeit fortgesetzte Untreue der Baronin mit einem Offizier des dort kantoniert gewesenen, bunt zusammengewürfelten deutschen Freikorps, dem aus Livland stammenden Hauptmann Konstantin von Schenius, und leitete sofort die Scheidung ein."
Mit Kleistscher Satzperiode beginnt die erste Erzählung aus der Novellensammlung "Das hoffnungslose Geschlecht". Es ist die Geschichte einer Scheidung, wie sie in der Zeit nach 1918 zur bürgerlichen Konvention geworden war. Nicht nur Männer, auch Frauen der hohen Gesellschaft lassen sich jetzt scheiden – einfach, weil es nicht mehr passt. Auch die Freifrau von Klingen geht während des Kriegs kopflos ihren Leidenschaften nach. In Liebe zu dem wendigen Schenius entbrannt, soll dieser nun dem ehrwürdigen Geschlecht der Luttrings angehörig werden. Bruder Moritz als Oberhaupt der Familie Luttring soll ihn prüfen und zur Heirat freigeben. Das große Thema dieser und der drei anderen Erzählungen aus "Das hoffnungslose Geschlecht" ist damit gesetzt: Es ist der Zerfall der alten Ordnung. Borchardt schildert diesen Zerfall weniger durch Analysen des Politischen, sondern durch eine Darstellung des Privaten. Seine Steffi Klingen, geborene Luttring ist eine "formlose Sportsblondine", wie Borchardt herablassend schreibt. Ihr Bruder hingegen ein gerader Charakter, der die Rolle des Stammhalters perfekt ausfüllt, der jedoch auch Realist ist. Er weiß, wo man Konzessionen an den Zeitgeist machen muss:
"Es ist keine Zeit für Neuanlagen. Es ist keine Zeit für ‚Glück’, sondern, wenn ich dir darin wie immer beipflichten darf, für das geringste Übel."
Nun nimmt das Schicksal seinen Lauf. Der mittellose Charmeur Schenius taucht im Hause Luttring auf und macht gleich einen schlechten Eindruck, weil er allen den Kopf verdreht. Ein "deklassierter Parvenü" ...
"... Nach jeder Richtung unbrauchbar und unerwünscht innerhalb der Familie; die klassische Drohne, Schulbeispiel des Mannequin, innen wie außen bagatelladlig, wahrscheinlich unfähig einen Schmerz zu empfinden oder eine Pflicht."
Hinzu kommt ein warnender Brief, der Schenius als Heiratsschwindler outet. Parallel und parabelhaft wird vom Schicksal des Gutsinspektors Müschler erzählt, der von seiner Frau verlassen wurde. Sie hat die Scheidung eingereicht. Damit steht der nicht mehr junge Mann da, blamiert bis auf die Knochen. Das Ehrengesetz der alten Welt verlangt nun von Moritz Luttring, den entehrten Mann zu entlassen. Dieser bringt sich daraufhin um.
"Autorität, Ordnung, oder Abschied. Wer nicht befehlen konnte, musste das Haupt beugen und noch einmal gehorchen lernen. Die Güter standen auf dem Spiele. Es war das Trauerspiel der mageren Jahre, der Astbruch von sturmgerüttelten Bäumen, die das Mürbe nicht durch den Winter halten konnten. Er war nicht hart gewesen, aber er hatte Ordnung geschaffen. Wer an der Ordnung starb, konnte nur von der Unordnung leben und hing an dem Faden, den der erste Hauch zerriß."
Früher, meinte der Gutsinspektor einmal, hätten die Frauen ins Haus gehört und in die Kirche.
"Familie, Predigt und Schluß. Ehescheidung hats nicht gegeben in unsern Kreisen. Heut hats da neingefegt und hat sie rausgerissen. Wahlrecht, Mitreden, Berufe, was weiß ich. Kameradschaft, Gleichheit der Geschlechter, harmlose Freundschaft. Es kennt sich zwischen Recht und Unrecht keine einzige mehr aus."
Es regnet Göttinnen
Immer dort, wo es bei Borchardt um Politik geht, um den Wandel der Zeiten im Zeichen von Demokratie und Liberalismus, sind es Frauen, die das neue Problem der alten Machthaber personifizieren. Wer Borchardt heute mit wachem Geist liest, liest auch den Glanz und Elend der Frauenemanzipation in der Zwischenkriegsgesellschaft mit. In den Städten war die Dame mit Bubikopf längst angekommen. Die berühmte Reisejournalistin Bertha Eckstein-Diener schrieb unter männlichem Pseudonym in der Zeitschrift "Die Dame":
"Es regnete plötzlich junge Göttinnen." Genauer: "Harte strahlende Kinder, elegant wie Elfen, zäh wie Füchse."
Was sich in und an ihnen zeige, sei vielleicht der erste, durchaus weibliche Stil, den es je gegeben habe:
"Hier definiert endlich eine Frau, was ‚weiblich’ sei, nicht der Mann."
Und das ist ein Problem. Ein Problem in der Welt von Rudolf Borchardt als Privatperson, worüber wir aus seinen hochdramatischen Briefen etwa mit der Münchner Malerin Christa Winsloe wissen. Und ein Problem in der Welt seiner Prosatexte. Denn es sind die Frauen, die von den neuen gesellschaftlichen Freiheiten zuerst Gebrauch machen. Früher, so Moritz zu seiner Frau Tina, da habe sich eine Dame von Rang einen wie Schenius zum Plaisir gehalten. Als hübsches Haustier nach dem Vorbild der Fürsten mit ihren Kurtisanen. Heute, da will die Frau von Rang die Scheidung. Und sie will das, was sie ihr Glück nennt. Das Antichambre für immer. Steffi repräsentiert für Tina und Moritz das, was man neuerdings in den Modezeitschriften "den Typ" nennt. "Undistinguiert", denn
"distinguiert sein heißt außerhalb des Standards stehen, oder oberhalb."
Mit dieser Definition ihres Mannes ist zwar auch Tina einverstanden. Dennoch ergreift sie wenige Seiten später leidenschaftlich Partei für ihre fehlgeleitete Schwägerin.
"Sie haben zusammen eine Ehe gebrochen und gehören zusammen, ob wir sie fördern oder hindern. Zusammengeschmiedet sind sie schon durch die lebendige Gewalt ihrer Sünden – sie sind ja schon ein Paar, Moritz, sieh das doch ein."
Und später fügt sie hinzu:
"Wenn wir einem Menschen bloß helfen wollen, reicht die Vernunft aus. Wenn wir einen Menschen retten wollen, braucht es die Vernunft und die Unvernunft."
Der Leser ahnt hier schon, dass es mit Tina und Moritz nicht gut gehen wird. Dass auch die alte Ordnung in dieser vorderhand glücklichen Ehe auf wackligen Füßen steht. Und dass Schenius nur ein Symptom ist. Die Zeiten haben sich geändert. Und auch Borchardt hat davon ausgiebig gekostet in seinem Annus Mirabilis, das in dieser Werkausgabe mit seinen zahllosen Fragmenten ebenso abgedruckt und detailreich kommentiert ist wie seine Erzählungen aus den späten zwanziger Jahren.
Annus Mirabilis groß über das Buch geschrieben das von mir handelt. Bedeutet genau, was die Worte selber sagen; nämlich dass ich meinem Leben alles von ungefähr zu begreifen und erklären vermag, ein bestimmtes Jahr aber nicht.
Und es gelingt ihm deshalb auch nicht, das in eine Form zu bringen, was ihm in diesem wundersamen Jahr 1901 widerfahren ist. Eine Amour fou nämlich, die alles bisher erlebte überschreibt. Und eine Erweckung zum Dichter. Interessant ist, dass Borchardt schon zu Beginn des Jahrhunderts mit der klassischen Form, der er sich verpflichtet fühlt, hadert. Schon damals glaubt er Konzessionen an die Lesegewohnheiten machen zu müssen, indem er sich der Prosa nicht ganz verschließt.
"Ohne die Erzählung aber kann die Zeit die Gedichte überhaupt nicht verstehen, denn sie versteht Gedichte, wirkliche Gedichte nicht mehr; ich weiß wol, dass sie sich stellt, als wäre sie die alte Zeit und die alte Gesellschaft, die Gedichte las verstand und brauchte, die einen Ton und eine Manier hatte, in der ein Dichter nur zu dichten brauchte um von ihr verstanden zu werden."
Borchardt, der Minne-Dichter, Kritiker der Republik, Leugner der eigenen Herkunft, auch ein wenig Hochstapler und Frauenheld wie der von ihm entworfene Konstantin Schenius steht immer mit einem Bein im Parnass und mit dem anderen im Pornografischen. Als vor zwei Jahren unter Branchengelächter der Fragment gebliebene 1.000-Seiter "Weltpuff Berlin" erschien, zeigte sich die belesene Öffentlichkeit erstaunt. Denn im "Weltpuff" wimmelte es von verderbten Damen, die ohne Ziererei die "Flöte" eines hyperaktiven Ich-Erzählers spielten. Der nannte sich selbstbewusst Rudolf Borchardt und arbeitete effizient Gespielin nach Gespielin ab. Es waren die Cochonnerien eines poeta doctus, die hier zutage kamen. Borchardts Sohn Cornelius hatte sie lange unter Verschluss gehalten. Liest man jetzt vor dem Hintergrund dieser zu Lebzeiten unveröffentlicht gebliebenen Sexorgien im Berlin der zehner Jahre die späteren Erzählungen, wird einem der Konflikt, dem Borchardt das Weibliche schon um die Jahrhundertwende beschert haben muss, noch einmal anders deutlich.
Schwermut und reine Liebe
Dem Annus Mirabilis folgte wohl die Lebensphase, die im "Weltpuff " beschrieben wird. Seinem "Ich lese keine Literatur, ich kann nur alte Dichter lesen" entspricht in Liebesdingen sein Hang zur wortreichen Idealisierung. Borchardt war gleichzeitig Minnesänger und Puffgänger. Er war gleichzeitig unzeitgemäß und nutzte doch auch die Vorzüge der modernen Welt. Diese Zerrissenheit zieht sich durch sein gesamtes Werk. Aus der modernen Frau wird er nicht schlau. Und sie nicht aus ihm!
Es loht sich, um das zu illustrieren, noch einmal zu dem Briefwechsel mit Christa Winsloe zurück zu kommen. Winsloe, die Teil der Schwabinger Boheme war, gehörte zur sogenannten ersten Generation von bildenden Künstlerinnen. Ihre Tierskulpturen von Meerschweinchen, Murmeltieren und Buschbabys wurden erst kürzlich im Berliner Kolbemuseum ausgestellt. Dass die Winsloe ab den zwanziger Jahren offen lesbisch lebte, ist eine Pointe ihrer verwegenen Biografie. Die bereitete auch ihrem Verehrer einige Seelennöte. Das, was ihm an der Winsloe "ein süsser Kerl" dünkte, war ihm gleichzeitig ein Graus: lange Tangonächte in Schwabing; Umgang mit unernsthaften Verehrern; Liebe zwischen Studentinnen.
"Lachend und wild belustigt ging ich durch alle die grellen harten Weiber dieses heutigen Deutschlands, mit ihren falschen Stimmen und ihren angeblasenen Phrasen", stöhnt er einmal brieflich. Ausgerechnet in der Autonärrin Christa will Borchardt partout etwas anderes sehen! Winsloe wird damit zum erotischen Pendant einer "Schöpferischen Restauration", die Borchardt sich auf die Fahnen geschrieben hatte. Hier wird mit allerlei Anspielungen auf antike Motive tief in den Raum der Literaturgeschichte hineingeliebt. Christa ist das "schwermütig spielende Geheimnis", der Mythos der reinen Liebe selbst. Die Liebe wiederum, das ist bei Borchardt "die gemeinsam geheimnisvolle Entdeckung einer gesteigerten Welt". Christa ist seine Schöpferin und seine Schöpfung. Gemeinsam sind sie weltfremd.
Letztlich eine manichäische Welt
Naturgemäß konnte das nicht lange gut gehen. Winsloe wurde das Korsett irgendwann zu eng. Die Geschichte spielt noch vor dem Ersten Weltkrieg. Danach steht sowieso kein Stein mehr auf dem anderen. Von diesem Schmerz und dieser Zerrissenheit handelt Borchardts Prosa. Davon, dass das alte Gesetz unweigerlich von den Mechanismen der Liberalisierung überschrieben wird. In der Erzählung "Geschichte des Erben" spricht eine Mutter zu ihrem Sohn:
"Du schlimmer Narr, Du Schwätzer, dass wir die Raison der Welt und der Werte auch da haben, wo wir es mit dem Katechismus halten wie Menschen von Welt. Dein Vater wollte Dir die Werte nicht anvertrauen, weil Du diese Raison nicht hast. Du entwertest die Welt. Was Du berührst wird billig, weil Du billig bist – Geld, Weiber, Schönes, Geschäfte, Sitten, Kopf, Herz."
Ähnliches mag auch Borchardt vom eigenen Vater zu hören bekommen haben, weswegen er 1909 zu Hofmannsthal nach Wien floh, dort aber bald wieder abreiste. Borchardts Biograf Peter Sprengel hat vor einigen Jahren einen Brief im Nachlass gefunden, den Borchardt mit verstellter Handschrift an sich selbst c/o Hofmannsthal geschrieben hatte. Hintergrund war wohl der: Bei Hofmannsthal war durchgesickert, dass Borchardt ein akademischer Hochstapler war. Um der Schmach der Enthüllung zu entgehen, fälscht Borchardt einen persönlichen Brief seines Doktorvaters, der so adressiert ist, dass Hofmannsthal in öffnen und lesen muss. Darin wird einerseits Borchardts immenses Talent beschworen. Aber auch auf eine gewisse Zwielichtigkeit des Autors hingewiesen.
Was bleibt heute von der Prosa dieses originellen Dichters und Übersetzers? Man liest Borchardts Erzählungen mit einiger Faszination. Borchardt verfügt über großes psychologisches Einfühlungsvermögen. Ähnlich wie Fontane oder später Thomas Mann, dessen Literatur Borchardt despektierlich "deutschen Krimskrams" nannte. Gleichzeitig irritiert diese Prosa auch. Ihre Konflikte sind stark idealisiert. Auch wenn am Ende der Erzählung "Der unwürdige Liebhaber" die Frau des Stammhalters schwach wird und alles den Bach heruntergeht, ist Borchardts Welt doch im Ganzen keine komplexe, sondern eine manichäische. Und immer ist die Frau der Sargnagel des "Hoffnungslosen Geschlechts". Man liest das heute besser mit dicker literaturhistorischer Brille. Wenn es in der Erzählung "Der bestrafte Leichtsinn" etwa über eine lebenslustige 40erin heißt:
"Sie ist überhaupt mordsdumm wie alle leichtsinnigen Frauen, vollständig interesselos, gerissen nur für ihre kleinen Pläsiere."
Rudolf Borchardt: "Sämtliche Werke Band XIII (in zwei Teilbänden): Erzählungen 1"
Herausgegeben von Gerhard Schuster
Rowohlt Verlag, Hamburg. 792 Seiten, 98 Euro.