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Rudolf Schlichter
Liebhaber des Exzentrischen

Rudolf Schlichter gehört wie George Grosz und Otto Dix zu den Malern der Neuen Sachlichkeit. In den Goldenen Zwanzigerjahren hielt er das Berliner Nachtleben auf Papier fest. Aber er schuf auch eindrucksvolle Porträts, zum Beispiel von Bertolt Brecht. Am 6. Dezember wäre er 125 Jahre alt geworden.

Von Carmela Thiele | 06.12.2015
    Das Brecht-Porträt von Rudolf Schlichter im Münchner Lenbachhaus
    Das Brecht-Porträt von Rudolf Schlichter im Münchner Lenbachhaus (picture alliance / Markus C. Hurek)
    Er liebte Frauenbeine in Knöpfstiefeln, das Exzentrische, das Antibürgerliche. Kaum in Berlin angekommen, nahm Rudolf Schlichter 1920 an der ersten Dada-Messe teil. Der damals Dreißigjährige, der sich wenige Jahre zuvor dem Kriegsdienst durch Hungerstreik entzogen hatte, steuerte eine Puppe in Uniform mit Schweinsgesicht bei, die unter der Decke der Galerie Burchardt schwebte. George Grosz erinnerte sich in seinen Memoiren:
    "Er ist einer der belesensten Maler, von geradezu enzyklopädischem Wissen. Damals war er von seiner heutigen religiösen Einkehr noch weit entfernt und voller Widersprüche. Er hält seine Kunst für die eines Außenseiters, aber für mich ist er das keineswegs."
    Ein "wunderlicher, wenig liebsamer Geselle"
    Schlichter teilte den schonungslosen Blick der Maler der Neuen Sachlichkeit, von Grosz oder Otto Dix.
    Besonders an Schlichter war sein Hang zum Masochismus. Mit solchen Neigungen fiel der blasse Brillenträger im Berlin der Weimarer Republik jedoch kaum auf. Schlichter rettete sich in die Gefilde von Kunst und Literatur. Der Schriftsteller Paul Alverdes erinnerte sich 1940:
    "Besuch bei dem Maler des Untergangs (...) Wunderlicher, urtümlicher, wenig liebsamer Geselle, aber er kann zeichnen wie kaum einer. Seine Arbeiten bevorzugen kalte Industriefarben: ein fatales Violett, ein giftiges Grün, ein Blei wie von billiger Damenwäsche und ein knallendes mörderisches Rot. Seine Figuren, wo er es ernst meint, sind Nutten-Typen mit einem Schuss großstädtischer Literatur."
    "Kultus der Häßlichkeit"
    Rudolf Schlichter stammte aus der schwäbischen Provinz. Er wurde am 6. Dezember 1890 in Calw als Sohn eines Lohngärtners und einer Näherin geboren. Nach einer abgebrochenen Lehre als Emaillemaler und einer Stippvisite bei der Stuttgarter Kunstgewerbeschule besuchte er seit 1910 die Karlsruher Kunstakademie. Doch zeichnete er damals schon, was er sah. Wenn das Modell alt und abgezehrt war, stellte er es zum Ärger des Professors auch so da. Schlichter in seiner Autobiografie:
    "Der Kultus der Häßlichkeit, der von uns getrieben wurde, ging so weit, daß wir schwere Depressionen bekamen, wenn es einem unserer Professoren einfiel, einmal ein Lob auszusprechen. Ganz davon zu schweigen, wenn gar ein anerkennendes Wort von Seiten eines Mitschülers aus der Reihe der Süßmichel fiel. Wem dieses Malheur passierte, der war für einige Zeit moralisch gerichtet."
    1927 wandte er sich dem Katholizismus zu
    In Karlsruhe kam Schlichter in Kontakt mit dem Nachtleben, produzierte an Beardsley orientierte pornografische Zeichnungen, um zum gemeinsamen Haushalt mit der Prostituierten Fanny etwas beizutragen. 1918/19 bildete er mit Studienkollegen eine Ortsgruppe der linksgerichteten Berliner Novembergruppe, die Gruppe "Rih". Wenig später siedelte Schlichter nach Berlin über. Mitte der 20er-Jahre schuf er eindrucksvolle Porträts von Ikonen der linken Kulturszene wie Bertolt Brecht und Helene Weigel. Doch malte er auch Bildnisse konservativer Schriftsteller wie Ernst Jünger und Arnold Bronnen. Unter dem Einfluss seiner Domina und späteren Frau Speedy wandte er sich 1927 dem Katholizismus zu. Beide lebten Gegensätze, die heute kaum vorstellbar sind. In einem Hörfunk-Gespräch aus dem Jahre 1949 äußerte der fast 60-Jährige:
    "Es gibt keine Kunst, die außerhalb des gesellschaftlichen Raumes lebt, sie widerspiegelt die Strebungen, die inneren Zustände und die Wollungen dieses Raumes. Das ist gar kein Zweifel. Ich meine, der Mensch ist ein soziales Wesen, er ist ein zoon politicon, nicht zu vergessen, und er wird es bleiben, so lang er auf dieser Erde wandelt."
    Porträtist der Getriebenheit
    Schlichter, der 1955 in München starb, war ein Erzähler – in seinen Bildern wie in seinen Schriften. Für ihn sei alles Leben interessant, stelle es sich nur schonungslos genug selbst dar, schrieb er. Schlichter porträtierte die übersäuerte Getriebenheit der Großstadt, die gespenstische Öde der Provinz, die beängstigende Stille der Natur: das Leben in seiner gleichförmigen Banalität wie in seinen radikalen Ausschlägen.