Donnerstag, 28. März 2024

Archiv

Rückblick und Ausblick
Saisonschluss (3/3)

Wehmut, Wut und Widerstand: Über die Seele im Zeitalter von Epochenwenden macht sich Mathias Greffrath im letzten Teil seines essayistischen Jahresrückblicks Gedanken. Wenn moralische Leitplanken und politische Loyalitäten nicht mehr als Orientierungshilfe dienen, greift dann die Realitätsverweigerung?

Von Mathias Greffrath | 22.12.2019
Screenshot des Spiels "Fortnite"
Worauf zurückgreifen, wenn man sich nicht durch Ohnmacht lähmen lassen will? (igdb)
Wenn eingespielte Formen des Lebens nicht mehr funktionieren, Weltbilder zerfransen, greifen Zynismus oder Verzweiflung um sich. Optimismus ist oft genug nur "Mangel an Information", eine realistische Beurteilung der Lage verleitet zum Rückzug ins Private.
"Alles kann man machen und nichts kann ich ändern", sagte der Systemtheoretiker Niklas Luhmann. Auf welche kulturellen Bestände und welche beständigen Gefühle und Haltungen kann zurückgreifen, wer sich nicht gegen Erkenntnis immunisieren und nicht durch Ohnmacht lähmen lassen will?
Mathias Greffrath, Jahrgang 1945, ist Soziologe und Journalist. Er lebt in Berlin, arbeitet unter anderem für die "taz", die "ZEIT" und den Rundfunk. In den letzten Jahren hat er sich in Essays, Hörspielen und Kommentaren mit den sozialen und kulturellen Auswirkungen von Globalisierung und Klimawandel beschäftigt.

Als ich diesen Text begann, musste ich an Jacques Dutronc denken. Die Älteren werden sich erinnern, an diesen hämmernden Beat, unter den Versen, die versuchten, sich einen Reim auf eine Welt in Unordnung zu machen.
"Sept cents millions des chinois, et moi et moi et moi. 700 Millionen Chinesen und ich, ich, ich, mit meinem Leben meinem kleinen Zuhause, meinen Kopfschmerzen… Ich denke an die, und dann vergesse ich es wieder. So ist eben das Leben." Und so geht es weiter: "400 Millionen Indonesier und ich: mit meinem Auto und meinem Hund und seinem Lieblingshundefutter; 400 Million Schwarze und ich: im Solarium und in der Sauna, um dünner zu werden… 900 Millionen Menschen hungern grade und ich, ich, ich: bin auf vegetarischer Diät, 50 Millionen Behinderte, auch da denk' ich kurz mal dran, und schau mir meine Lieblingsnachrichtenmoderatorin an und warte auf den Scheck am Monatsende…ich denke dran und dann vergess ich’s wieder. So ist eben das Leben."
Halt im Wirbel des Weltgeschehens
Das war 1966, als Jacques Dutronc mit diesem Lied in die Charts kam, diesem Versuch, eine Haltung, einen Halt zu finden im Wirbel des Weltgeschehens, im Taumeln zwischen Rückzug in die Idylle, Empathie für das Leiden und Empörung über das Unrecht, zwischen dem alltäglichen Zynismus des Wegsehens und der Hilflosigkeit, die das Hinsehen erzeugt, über das Gefühl der Ohnmacht im kleinen Ich, die kurze Verzweiflung über eine Menschheit, die auf den Mond fliegen, aber den Frieden auf der Erde nicht schaffen kann.
2019 sprach die polnische Literaturnobelpreisträgerin Olga Tokarczuk über das Nebeneinander einer Flut von Dummheit, Grausamkeit, Hasstiraden und Gewaltbildern, und, dazwischen und daneben alle möglichen guten Nachrichten. Es sei eine Bilanz, die den schmerzbereitenden Eindruck nicht auslöschen könne, dass etwas mit der Welt nicht in Ordnung ist, ein Grundgefühl, das wie eine Epidemie um sich greife. Sie schreibt: "Wir beginnen die Welt nur noch in Stückchen zu sehen, alle getrennt voneinander, in kleine Teilchen, getrennt voneinander, und die Wirklichkeit in der wir leben, bestätigt dies Gefühl: Ärzte behandeln uns nach Fachgebieten, die Steuern, die wir zahlen haben nichts zu tun mit dem Pflug, der den Schnee räumt auf der Straße zur Arbeit, unser Mittagessen hat nichts zu tun mit der industriellen Farm, und mein neues Top mit einer schäbigen Fabrik irgendwo in Asien. Alles ist getrennt, alles lebt getrennt, ohne Verbindung. Olga Tocarczuk drückt ein verbreitetes Lebensgefühl aus: Alles dringt auf mich ein, aber ich habe kein Bild, kein Gefühl für das Ganze mehr und nichts kann ich ändern.
Das ist die eine Wahrheit. Und die andere? Nun, ein Jahr, nachdem Jacques Dutronc seinen ironischen Weltschmerz spazierenführte, brach in Paris, Berlin, Tokyo und Berkeley eine Jugendrevolte aus, sprach der Mentor der Studentenbewegung, der Heidegger‑Schüler Herbert Marcuse vom Ende der Utopie: Es seien alle Voraussetzungen gegeben für eine Welt frei von Gewalt, Hunger, Unterdrückung und Ausbeutung. Kolonien kämpften sich in die Freiheit, in den reichen Ländern suchten die Menschen nach neuen Lebensformen.
Ein paar Jahre lang lag aufgeklärter Zukunftswillen in der Luft. Die Entfremdungsdebatte der jeunesse dorée in den Sechzigern, die ökologischen Aufbrüche der 70er, die Friedens- und Demokratiebewegungen der 80er, das New-Age-Denken haben folgenreiche soziale Initiativen begründet und spirituelle Ausweichbewegungen motiviert, aber keine politische Gegenkultur begründet. Nur Absatzkrisen oder Spekulationswellen lassen den Motor der Grossen Maschine Kapitalismus gelegentlich stottern, aber der Sprit wurde umweltfreundlicher und es gab einen Dauerton der Kritik, der zu kleinen Veränderungen führt. Der Wohlstand nahm immer noch zu, und in den Mittelschichten entwickelte sich die Koexistenz von Managerjob und Yogakurs, Öko-Food und Zweitwagen, Patenschaft für brasilianische Kinder und Nestlé-Aktien-Besitz.
Kräfte der dynamischen Beharrung
In den 80er-Jahren bekamen die Kräfte der dynamischen Beharrung wieder das Übergewicht, eine neue lange Welle der Bereicherung, des Konsums, des Weltverzehrs verband die entferntesten Regionen der Welt miteinander, setzte Menschen und Rohstoffe in Bewegung. Vorm Reichtum des Westens kapitulierte der falsche Sozialismus, in England rief eine Premierministerin das Gesetz der kapitalistischen Spätzeit aus: So etwas wie "die Gesellschaft" gibt es nicht. Es gibt nur Familien und Individuen. Und in dem Theaterstück "Shoppen und Ficken", das um die Jahrtausendwende zum Kultstück der intellektuellen Großstadtjugend wurde, sagte Robbie, der Bewohner einer schäbigen Wohngemeinschaft von Teilzeitjobbern: "Ich glaube, wir brauchen alle Geschichten, wir erfinden Geschichten, damit wir zurechtkommen. Und ich glaube, vor langer Zeit gab es große Geschichten. Geschichten, die so groß waren, dass man sein ganzes Leben in ihnen verbringen konnte. Aber sie sind alle gestorben, oder die Welt ist erwachsen geworden oder vergreist oder hat sie vergessen, also erfinden wir jetzt alle unsere eigenen Geschichten. Kleine Geschichten. Aber wir haben jeder eine. Das macht einsam."
Etwa um die Zeit von 9/11, die Arbeitslosigkeit war hoch und die ersten Vorläufer der große Wanderung aus dem Süden waren zu spüren, da sagte mir ein aufgeklärter Konservativer: "Wir können die Menschen nicht mehr über Arbeit integrieren." Jetzt gehe es nur noch mit Kultur. Aber was sollte das sein?
Und es begann die Suche nach einer "Leitkultur".
Alte Werte feiern Konkunktur
Am Anfang kam es dabei zu skurrilen bürokratischen Erscheinungen wie den von Länderinnenministerien entworfenen Einbürgerungsfragebögen für Migranten, mit Fragen, was Goethe geschrieben hätte, und was das Wunder von Bern war. In der konservativen Publizistik wurden alte "Werte" wie "Opferbereitschaft", "Patriotismus", und eine "Wende zum Weniger" herbeizitiert, an Familienwerte appelliert, auch an die Gebärfreude, und eine Familienministerin schmiedete gar ein Bündnis fürs Beten.
Eine philosophische Stufe höher ging es den um Bindekräfte bemühten Staatsdenkern um eine "Neubestimmung der Werte" in "schwierigen Zeiten", in denen nicht länger "Wohlstandszuwächse verteilt", sondern "Ansprüche eingesammelt" oder reduziert werden müssten. Um eine neue "Große Erzählung".
Aber eine neue "Große Erzählung" wurde weder von den Denkern noch von den Machern angeboten, nur eine Art heroischer Pragmatismus beim Rendezvous mit der Globalisierung, beim Bewältigen von Arbeitslosigkeit mittels Hartz IV, von Finanzkrisen mittels Neuverschuldung, und bei der Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit mittels einer marktkonformen Demokratie. Und da es uns dabei immer noch vergleichsweise gut ging, konnte man sich einrichten in diversen Formen individueller Melancholie – und die ist ja psychologisch gesehen: die Empfindung eines Verlust bei Verdrängung des Verlorenen. Wir hatten allmählich vergessen, was wir verloren hatten: Kommunismus, Sozialismus, die liberalen Verheißungen der europäischen Aufklärung, nur ab und zu gab es mal ein Jubiläum.
Was die Soziologie, diese Wissenschaft, die nur überlebt, weil sie ständig neue Gesamtdeutungsvokabeln erzeugt – Risikogesellschaft, Abstiegsgesellschaft, Dienstleistungs- , Spaß-, Aufmerksamkeitsgesellschaft, Konsum- und Mobilitäts- und Bildungsgesellschaft – was also die Soziologie "Individualisierung" nannte, das könnte man zutreffender als Verlust des "Wir" bezeichnen. Des "Wir" im Plural: Kein nationales Wir mehr nach Hitler und Holocaust; kein europäisches Wir angesichts der autoritären, klerikalen, korrupten und durch kein Brüsseler Geld auf den rechten Weg zu bringenden osteuropäischen Regierungen und eines in liberal-konservativer Anarchie und sozialem Elend versackenden England; kein freudiges Weltbürger-Wir angesichts der Wanderungsbewegungen aus Kriegen und Krisengebieten.
Kein linkes Wir angesichts der Zerstörung der Sozialdemokratie durch den kapitalistischen Realismus, der zu ihrem Zerfall führt. In eine Facharbeiterpartei, eine ökologisch-intellektuelle Abspaltung und eine für die ökonomisch Abgehängten. Und kein christdemokratisches Wir angesichts der Spannung zwischen weltmarktgetriebenen Erneuerern und veränderungsunwilligen Kulturkonservativen und Wertebewahrern. Ein freudiges Wir gibt es beim Fußball, und ein defensives Wir-alle-Demokraten gegen das deutsche Wir von AfD und ihrem Dunstkreis, der wiederum zerfällt in Besitzindividualisten, denen es um die Schließung der Grenzen, die Rückabwicklung des Euro und der europäischen Demokratie geht; in paranoid-aggresive Untergrundromantiker, die sich für den Volkssturm gegen Fremdes und Feminstisches bewaffnen; dann die alkoholisierten und dumpfen Überflüssigen der Modernisierung; und schließlich die durch Queerness und traditionelle Familienmodule, moderne Kunst und die Schließung der Bäckerei verunsicherten Kleinweltbewohner.
Es gibt kein soziales Wir, wenn die Gesellschaft zerfällt in eine Majorität von Menschen, deren Leben sich von der Wiege bis zur Bahre, von kurzen Flügen in die Wärme abgesehen, in einem Radius von 100 km abspielt und die das Gefühl haben, sie würden nicht mehr gefragt, und einer kosmopolitischen Oberschicht, die von globaler Konkurrenz gepeinigt wird. Weltverlust bei beiden: Die einen verlieren ihre gewohnte Umgebung, weil die Wege länger und die Versorgung dünner wird und die Jungen wegziehen; die anderen leiden unter Realitätsverlust, weil sie sich beschleunigt in den globalen Wertsteigerungsnetzen bewegen und dabei die Bodenhaftung dünner wird. Sesshafte und Mobile, Somewheres und Anywheres. Und dann gibt es noch die Nowheres auf den Abluftgittern der U-Bahnen, auch die werden mehr.
Aufstieg reaktionärer, antidemokratischer Bewegungen
Zusammenzuhalten ist das alles nur durch ausreichende Versorgung mit Konsumrationen für die Massen und Aufstiegchancen für die Ehrgeizigen – aber beides ist nicht mehr sicher. Es ist auf jeden Fall keine gute Voraussetzung für einen gesamtgesellschaftlichen "Ruck" – weder in Richtung Öffnung und Erneuerung, noch in Richtung Grenzsicherung und Disziplin. Auch das führt zu Melancholie bei den liberalen Eliten. Auf der Suche nach Gründen für den Aufstieg reaktionärer, antidemokratischer Bewegungen hat der israelische Psychoanalytiker Carlo Strenger auch die liberalen Eliten auf die Couch gelegt. Wo die Unterschichten mit den materiellen Grundlagen des Lebens kämpfen müssen, sind die höheren Ränge von Konkurrenzangst, Unsicherheit und moralischen Selbstzweifeln gepeinigt. Die Eliten schwanken zwischen dem Zwang zur Selbstbehauptung und der Erkenntnis der eigenen Ohnmacht, den festgehalten Werten der Liberalität und der Einsicht, dass diese Werte nur gelebt werden konnten auf Kosten der Anderen, der Kolonisiserten, der Ausgebeuteten. Ein Zustand, der nur geändert werden kann durch verringerte Ansprüche im globalen Norden oder durch Militär an den Grenzen.
Es gibt nicht nur eine Schere zwischen Armen und Reichen, sondern auch die zwischen den eigenen Überzeugungen und den abverlangten Handlungen, zwischen der Unwissenheit und dem Zwang zu Entscheidungen, dem Begehren und den Möglichkeiten, dem gewussten Guten und seiner Nicht-Erreichbarkeit. Kognitive und moralische Dissonanzen dieser Art drängen zur Auflösung und wenn keine Lösung in Sicht ist, machen sie aggressiv.
Auch im Kleinen. Und auch das ist eine Erfahrung, die in eine Bilanz gehört – auch wenn sie den Methoden einer statistisch gesicherten Sachstandserhebung nicht genügt, und deshalb mit dem Vorbehalt der Subjektivität vorgetragen wird: Auch im Kleinen und nicht nur rechts: rasender Stillstand und aufsteigende Wut.
Es gibt die kleine Wut
Es gibt die kleine Wut. Darüber, dass man überall über diese hunderttausende von Elektrorollern stolpert, die in China gebaut und von US-amerikanischen Vermietern in die Städte gekippt werden. Über die Verspätungen in der Bahn, die alltäglichen Rempeleien auf der Straße, als hätte die Menschheit den Bewegungsradar eingebüßt, den sie ein Jahrhundert lang in den großen Städten eingeübt hatte. Das zunehmende Hupen und Brüllen der Verkehrsteilnehmer. Die Wandschrift in der Drogerie: "Hier bin ich Mensch, hier kauf ich ein", deren Witz keiner mehr merkt, seit der Faust nur noch in Bayern Pflichtlektüre ist. Die Anzeige "Shopping is coming home". Aber das ist nur die kleine, die nostalgische, die kulturkritische Wut von Menschen, die noch das Postamt kennen, die Bäckerbrötchen und die Pünktlichkeit von Dampflokomotiven.
Es gibt die mittlere Wut. Die Wut darüber, dass die Verwirrung zunimmt. Die des Ganzen und die eigene. Ich nenne sie die konfuzianische Wut – weil ich im Abituraufsatz über die Begebenheit schreiben musste, bei der Konfuzius dem Fürsten rät, er solle als erste Regierungshandlung die Begriffe richtigstellen. Denn, so der Weise: "Wenn die Begriffe nicht richtig sind, so stimmen die Worte nicht; stimmen die Worte nicht, so kommen die Werke nicht zustande; kommen die Werke nicht zustande, so gedeiht Moral und Kunst nicht. (…) Das ist es, worauf alles ankommt."
Denn das Gefühl der Unwirklichkeit, der Ohnmacht in einer unüberschaubaren Welt ist nicht nur die Reaktion auf eine Welt, in der die Handlungsketten unüberschaubar lang sind, in der ich nichts über die Arbeitsbedingungen weiß, unter denen mein Hemd genäht wurde, nichts über die Menge der Antibiotika in den Ställen, aus denen mein Frühstücksei kommt, nichts über die geschützten Wälder in Polen, die für meine erneuerte IKEA-Ausrüstung geschlagen werden. Das sind lange Handlungsketten, bei denen ich vertrauen muss – und über weite Strecken auch vertrauen kann – dass die Wahrheit über kurz oder lang ans Licht gebracht wird. Und das gilt verstärkt für die Nachrichten über wissenschaftliche Erkenntnisse. Auch der normale Bürger, der Nicht-Experte, kann Systemvertrauen haben; er muss nicht alles wissen, nicht alles überprüfen.
Er konnte über weite Strecken Systemvertrauen haben, bis vor kurzem. Bis die großartige Erfindung und Installierung des Internets, diese Erfüllung des Traums der alten Aufklärer, dass die Menschheit besser, friedlicher, reicher würde, wenn das Wissen allen zur Verfügung stände – bis diese Erfindung, kaum war sie weltweit durchgesetzt, zu einer Institution der Öffentlichkeit wurde, in die unterschiedslos alles eindringt: die wissenschaftliche Wahrheit wie die absurdeste esoterische Behauptung, die Aufklärung über den Zustand der Welt wie die dreisten Verleugnungen der Wirklichkeit, die subtilste Literatur wie die obszönste Gewalt. Politische Aktivisten ebenso wie skrupellose Betrüger.
Öffentlichkeit ist das Gefäß der Demokratie, schrieb Alexander Kluge einmal; wer sie zerstört ist ein Geschichtsverbrecher. Der Kampf um die Zerstörung der Öffentlichkeit begann nicht erst mit dem Internet.
Fakten waren lange Zeit amtlich
40 Jahre gab es, in der Bundesrepublik die Chance, dass Menschen sehr unterschiedlichen Alters, unterschiedlichen Bildungsgrads, unterschiedlichen Wohnorts und unterschiedlicher politischer Überzeugung zumindest dieselben Fakten kennen konnten. Man musste die Wahrheit über die Welt nicht zur Kenntnis nehmen, dann las man die "Bunte" oder gar nichts, man konnte sich mit seiner täglichen Dosis Klatsch, Erregung und Halbwahrem begnügen, mit der der "Bild" einen versorgte, aber die Fakten, die aus dem Lautsprecher kamen und vom Bildschirm, die waren in aller Regel verlässlich. Man konnte über sie streiten – auch das geschah in den Arenen des Funks und des Fernsehens, nur die Fakten waren sozusagen amtlich.
Aber dann führte die Liberalisierung der Massenmedien, sprich die Zulassung kommerzieller Anbieter von Fernsehen und Radio, Mitte der Achtziger Jahre, hat zum ersten Riss, in diesem Damm gegen die Flut von bloßen Meinungen, Halbwahrheiten, Schmutz und Schund und Lügen, den die Engländer einem von Staatspropaganda verdorbenen Volk mit dem öffentlich-rechtlichen System geschenkt hatten.
Aber wie handwerklich harmlos muten uns inzwischen die Entgleisungen der "Bild"‑Zeitung an, verglichen mit dem, was wir heute erleben. Es gibt keinen inneren Kontrollmechanismus mehr, ob etwas wahr oder falsch ist, die "fake news" suchen sich ihre Kanäle, mit erfundenen Geschichten, mit Fälschungen, mit Montagen, mit Verschwörungstheorien und suggestiven Behauptungen. Die Zerstörung greift um sich und ergreift alles. Zunächst die politische Sphäre, in der Wahlkämpfe mit Lügen gefüttert werden, die über die sogenannten sozialen Medien auch noch zielgenau plaziert werden. Aber der Schaden ist noch größer, die fakes durchsetzen nicht nur die politischen Frontlinien, sondern die Weltwahrnehmung als Ganzes. Ein Gefühl der Ohnmacht und Wut ergriffen mich, als mir eine nahe Verwandte, eine lebenstüchtige, kluge, lesende Frau mittleren Alters neulich, nach einem Jahr, in dem die Zeitungen jede Woche voll waren mit Klimameldungen, eröffnete, sie glaube nicht mehr an den menschengemachten Klimawandel – das habe ein Wissenschaftler mit verständlichen Worten erklärt.
Wo? - Im Internet.
Und Du glaubst dem? - Ja.
Eine schnelle Recherche führte zu einem "Europäischen Institut für Klima und Energie", das die Klimapolitk der AfD prägt, ein nicht-wissenschaftliches Institut, betrieben von Rentnern, von denen nicht einer in der Klimaforschung tätig war, das mit einer amerikanischen Organisation kooperiert, die seit Jahren Lobby gegen Klimapolitik macht. Die auch von Exxon finanziert wird, Exxon, in dessen Vorständen seit 30 Jahren wissenschaftliche Erkenntnisse über den Klimawandel und seine Konsequenzen vorlagen – und die Exxon verschwieg.
Unreguliert für die Digitalisierung zu Lüge und Gewalt
Die Digitalisierung und das Smartphone können mächtige Werkzeuge der Kommunikation und Information sein, der Belehrung, der Pädagogik. Unreguliert, haben sie die Tür für Obskurantismus, Lüge und Gewalt geöffnet. Verschmutzen vor allem das Bewusstsein von Heranwachsenden: mit lebenden Litfaßsäulen, Influencer genannt, die einen umsatzkonformen Lebensstil und bizarre Ansprüche propagieren; mit der Gewalttätigkeit und den faschistoiden Pop-Helden in den Spielvideos. Jugendliche sind dem oft hilflos ausgesetzt, merken unberaten oft nicht einmal den Kontrollverlust und den Irrsinn, wenn zum Beispiel ihre Recherche über die Physik des Jupiter für eine Astronomieklausur nur einen Klick entfernt ist von den obskuren Weissagungen einer blinden, längst gestorbenen Bulgarin, die für 2020 den nächsten Krieg und das Ende der EU weissagt.
Eine Kontrolle der Inhalte verstößt gegen das liberale Dogma, der Raubbau an den Gehirnen Heranwachsender offenbar nicht. Zur Wut über diesen Raubbau und die Zeit, die man aufwenden muss, um auch nur die schlimmsten Desinformationen aufzudecken, gesellt sich die Wut über Politiker, die erst dann beginnen, über Möglichkeiten einer Regulierung der kruden Mischwelt von Wahrheit und Lüge nachzudenken, die sich auf Youtube eröffnet hat, wenn aus der Tiefe des Internets ein junger Mann mit blauen Haaren mit einer Art Semester-Fleißarbeit die Unwahrheiten und Unzulänglichkeiten ihrer Klimapolitik kritisiert und damit Wählerstimmen kostet.
In Zeiten des Umbruchs werden neue Claims abgesteckt, so war es auch beim Internet, und eine der Tragödien der Demokratie ist es, dass die Vorstöße – zuletzt des bis Ende 2019 amtierenden ARD-Intendanten Ulrich Wilhelm – für eine europäische, öffentlich-rechtliche Plattform für Medienformen aller Art vergeblich waren. Die typische Antwort von Politikern so Wilhelm, habe gelautet: "Es ist eigentlich notwendig, aber vielleicht ist es schon zu spät. Vielleicht hat Europa den entscheidenden Zeitpunkt in der Vergangenheit verpasst."
Und über diesen Defaitismus müssten unverzüglich alle, die noch an Aufklärung glauben, auf die Barrikaden gehen, denn was passiert, wenn wir das Internet nicht mehr reguliert kriegen: Dann wird die Klassenspaltung zwischen den Informierten, den Klugen, den Verwaltenden und Herrschaft ausübenden, den Programmierern und Vorsängern und den mit billigem Ramsch, oder auch mit Disney-Ware stillgestellten, untergebildeten, chancenarmen Konsumentenmassen auf Dauer gestellt. Der Prozess ist in vollem Gang und er wird schärfer mit jeder Bezahlschranke, die sich senkt vor den Qualitätsmedien und den anspruchsvollen Filmen, wird schärfer mit jedem Angriff der privatwirtschaftlichen Medien auf die öffentlichen, jeder kurzsichtig populistischen finanziellen Aushungerung der nicht‑kommerziellen Öffentlichkeit. Auch hier gibt es Kipppunkte und letzte Gefechte. Wer draußen ist, bleibt dumm – und draußen sitzen auch im Internet die Menschenfischer.
"Alles kann man machen und nichts kann ich ändern," sagte Niklas Luhmann. Und was macht man, wenn man sich der Ohnmacht überlässt, wenn man resigniert. Dann denkt man vielleicht noch eine Weile drüber nach, wird ab und zu ein wenig wütend, und dann vergisst man es – wie der junge Mann, den Jacques Dutronc am Anfang dieses Essays besang, oder wie der Soldat, der sich beschweren will, dem in Brechts Stück die Mutter Courage sagt: Hast Du eine lange Wut, oder nur eine kurze? Und siehe da, er marschierte wieder mit im Takt.
Was wäre denn die Alternative zum Mitmarschieren?
Der Aufbruch als Alternative
Der Aufbruch. Es gibt keinen Weg zurück in die gut geordnete sozial- und christdemokratische Welt der Goldenen 30 Nachkriegsjahre, mal abgesehen davon, dass das auch nicht gerade die nivellierte Mittelschichtsgesellschaft war, von der die soziologischen Ideologen sangen. Aber man kann auch die Zwischenzeit, in der wir stecken, nicht auf Dauer strecken. Also Exodus, und zwar in die Heimat. Nicht in die biodeutsche, fremdenfreie, klein- und großkapitalistische, DM-patriotische, kulturell homogene deutsche Heimat, eine Heimat ohne Cevapcici, Pizza, Döner und Pho‑Suppe, sondern in die neue Heimat, in der wir schon leben, und die wir nur einrichten müssen, um in ihr zu wohnen.
"In unserer gemeinsamen Heimat landen" – das ist die Zielbestimmung im "Terrestrischen Manifest" des französischen Philosophen Bruno Latour. Nicht vorwärts und nicht rückwärts, sondern "down to earth". Heimat, das ist der Gedanke des Philosophen aus der burgundischen Weinbauerndynastie, Heimat ist viel weiter als das Lokale. Heimat ist das, von dem ich abhänge, was ich für mein Leben brauche, womit ich leben will. Nicht nur beim Klima fallen inzwischen das Fernste und das Nächste zusammen. Unsere Heimat, der Boden, auf dem wir stehen, ist so weit wie die Weltwirtschaft, und das ganz praktisch und nicht nur metaphorisch. Heimat machen, das hieße, die Lücken zu schließen, von denen Olga Tokarczuk in ihrer Nobelpreisrede spricht: die Bewusstseinslücke zwischen meinen Steuern und dem Mann mit dem Schneepflug in meiner Straße, meiner neuen Hose und der Fabrik irgendwo in Bangladesch, dem iPhone 12 und dem Kongo, dem Elektroauto und den Salzseen auf dem Altiplano von Bolivien – und das ist keine abstrakte Menschheitsverbrüderungsheimatsidee, sondern eine ganz praktische, materielle. Und diese materielle Heimat ist sehr viel weiter als nur lokal; in ihr sind wir mit vielen Orten verbunden, werden die Konservativen merken; und das Leben in ihr ist sehr viel erdgebundener, als die nomadisierenden Progressiven es fühlen. "Wir stehen", sagt Latour, "auf demselben Boden, der Klimaflüchtling, der aus dem Iran kommt, wo man demnächst die Hälfte des Bodens nicht mehr bestellen kann, und wir – die Produzenten von CO2 – wir stehen buchstäblich auf demselben Boden, und er rutscht grade unter uns weg – hier wie dort." Die ehemals Kolonisierten und die ehemals Kolonisierenden: sie stehen vor der Aufgabe, denselben Raum gemeinsam zu besiedeln. Heimat, das ist ein Projekt. Und die Heimatkunde, die hier gelernt werden muss, ist von enormem Umfang, und das Wissen, das sie vermittelt, wird mein Ge-Wissen verändern.
Gewissen?
Immanuel Kant bestimmt es so: "In unserer Seele ist etwas, daß wir Interesse nehmen 1.) an unserem Selbst, 2.) an andern, mit denen wir aufgewachsen sind, und dann muss 3.) noch ein Interesse am Weltbesten Statt finden....wenn es auch nicht der Vorteil unseres Vaterlandes oder unser eigener Gewinn ist." Zwei Zugehörigkeiten also: die zu uns selbst und zu unseren Nächsten, und eine Pflicht: das "Interesse am Weltbesten" zu nehmen. Das "Weltbeste", das für Kant mit Ehrfurcht vor dem bestirnten Himmel zusammenhängt, mit dem erkannten Gefühl von der "Verknüpfung unserer Existenz mit Welten über Welten und Systemen von Systemen" noch über den Horizont unserer Lebenszeit hinaus. – Und dieses Interesse am Weltbesten muss sich verändern, muss wachsen, wenn die Welt, in der wir leben, wächst und weiter und komplizierter wird.
Das sei eine Überforderung? Es ist vielmehr eine sehr offene Formulierung, in der Gefühle und Erkenntnisse in der inneren Stimme zusammenkommen. Kant formuliert dieses Gewissen als Pflicht, die sich aus der Verbundenheit unserer kleinen Existenz mit der Welt außer uns bis ins Unendliche ergibt. Pflicht aber, das ist ihre älteste Bedeutung, heißt Pflegen, Teilnehmen, Gemeinschaft haben mit etwas, Verbundensein. Und die geheimnisvolle Kraft, die das in uns weckt, ist die Liebe zu dem was kommt, zu denen, die kommen. Man müsse, schreibt Kant, die Kinderseelen mit diesem Interesse am Weltbesten bekannt machen, damit sie ihre Seelen daran erwärmen.
So gesehen, fallen im Gewissen moralisches Gefühl, Wissen und Lebensform zusammen. Und Gewissen wäre dann das mit Empathie und Selbstachtung ausgestattete vollständige Wissen darüber, was wir sind: Individuen, Gesellschaftsmenschen und Bewohner der ganzen Welt.
Daraus könnte dann eine wirkliche Leitkultur wachsen, der Beginn einer neuen "Großen Erzählung", die in die Zukunft führt, in der Emotionen und Erkenntnisse zusammenschießen zu einer kräftigen Praxis. Während die erschöpften Generationen, ob nun die BabyBoomber oder die 68er oder die überlebenden Kriegskinder, wenn sie nicht schon gestorben sind, noch heute interpretieren und kritisieren, und gelegentlich auf Familienfesten melancholisch mit dem Satz "Ihr seid die ersten, die es nicht besser haben werden als eure Eltern" die Stimmung verderben, während am Ende dieses Jahres der Bundespräsident eine Mail an den Youtuber Rezo schreibt: Bitte engagiert euch in den Parteien, wir brauchen eure Generation – da haben sich die Besten dieser Generation schon auf den Weg gemacht – mit der frischen Absicht, es besser zu machen als ihre Eltern. Unter einem aufgelassenen Krematorium im Berliner Stadtteil Wedding, im ehemalischen Kolumbarium einer Betonkatakombe, in der früher tausende von Urnen aufbewahrt wurden, stehen Ende 2019 acht schwarzgekleidete sehr junge Menschen auf der Bühne.
"Ihr habt keinen Plan", sagen sie, und so heißt ihr Buch. "Deshalb haben wir einen gemacht." Es ist mehr als ein Klimarettungsplan. In zehn Punkten fasst es so ziemlich alle Vorschläge zur Verbesserung der globalisierten Welt zusammen, die seit 1966 gemacht wurden. Und dann sagen sie: Ihr könnt ja mitmachen, wir brauchen euch, euch, die Generation, von der wir viel gelernt haben, auch viele diese Ideen kommen von euch, aber jetzt sagt ihr so oft, viel zu oft für unseren Geschmack: It’s not gonna happen.
Das ist doch eine freundliche Herausforderung, eine, der man sich eigentlich nicht gut entziehen kann.