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Rückkehr der Erzähler

Schlechte Zeiten sind oft gute Zeiten für Literatur. Nur nicht sofort! Denn gute Bücher entstehen nicht im Stundentakt flotter Vorabendserien, sondern meist erst dann, wenn das Schlimmste vorbei ist.

Von Thomas Frahm | 13.10.2009
    In Bulgarien hat die nationale Literatur zwischen 1989 und 1999 weitgehend ohne Bucheinband auskommen müssen: Politische Instabilität, wirtschaftliche Talfahrt, gesellschaftliche Kriminalisierung und massenhafte Verelendung erzeugten bei den etablierten Autoren eine Schockstarre, bei den jungen einen Kreativitätshype. Sie inszenierten Exzesse des Spontanen, die gleichsam das literarische Antidot bildeten zur Skrupellosigkeit, mit der sich alte Parteikader und neue politische Gruppierungen am Volksvermögen bereicherten. Es war – wenn man die zur Selbstrechtfertigung geschriebenen Memoiren kommunistischer Akteure beiseitelässt – ein Jahrzehnt der Lyrik. Mirela Ivanova, damals eine Frau von 30 Jahren, brachte die Lage auf den Vers: Du kannst dir hüpfend die Freiheit erzittern. Oh, der Weg in die Hölle ist gepflastert mit Möglichkeiten.

    Wenn überhaupt Prosa, dann entweder in Form anarchischer Storys, wie sie Alek Popov schrieb, der inzwischen zu einem der erfolgreichen Literaturexporte geworden ist, oder in Form konzeptueller Montagen wie bei Georgi Gospodinov, dessen "Naturroman" ganz bewusst auf eine Welterkundung zwischen Erzählen und Erfassen anspielt, wie ein Alexander von Humboldt sie vor der Ideologisierung der Welterkenntnis im 19. Jahrhundert betrieb.

    Erst nach der Jahrtausendwende kehrten die Erzähler zurück. Zuerst schauten sie auf die Wunden, die ihnen das vergangene Jahrzehnt geschlagen hatte, wagten einen Blick in das zerstörte Antlitz der eigenen Wirklichkeit. Vladimir Zarev eröffnete mit "Verfall" 2003 den Reigen der Wenderomane. Jüngere Autoren wie Kristin Dimitrova – 2005 - und Ludmila Filipova – 2006 - folgten. Filipovas Debüt "Anatomie der Illusionen" macht schon im Titel die Literatur zum Befund gestorbener Zeit.

    Heute lautet die Frage der Autoren eher: Was ist eigentlich passiert?

    Politisch wache Autoren, wie die sephardische Jüdin Lea Cohen, spürten: Wer wissen will, was nach dem Kommunismus kam, muss zurückgehen vor seinen Beginn. Das tut sie in einem Roman, dessen Rahmenhandlung heute spielt, der aber in die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg zurückgeht. An dem Fall eines damals auf halsbrecherische Weise außer Landes geschafften Milliardenvermögens zeigt das Buch auf, dass zwar die Kommunisten nie aufgehört haben, dem Verbleib von "Fabrikantenkapital" mit allen Mitteln ihrer Erkennungsdienste nachzuforschen. Die Enteignungen selbst aber hatten nicht sie, sondern der bulgarische Zar im Verbund mit Hitler bereits 1940 angeordnet. Und die berüchtigten Straflager für politische Gefangene entstanden ebenfalls bereits ab 1940 und nicht erst nach dem Einmarsch der Russen. Nur dass sie eben vorher Arbeitslager für die bulgarischen Juden waren.

    In Büchern wie diesen zeigen sich erste Umrisse einer literarischen Aufarbeitung, die Bulgariens Nationalgeschichte endlich freilegt unter den Trümmern von Monarchie, Ideologie und Despotie.