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Rückkehr nach Jahrhunderten

Oliver Cromwell (1599 bis 1658) war Lordprotektor von England, Schottland und Irland. Er gilt als Königsmörder, Diktator, Begründer der Englischen Republik und rigider puritanischer Tugendwächter. Ihm war es aber ein besonderes Anliegen, die Juden, die im 13. Jahrhundert aus England vertrieben worden waren, auf die Insel zurückzuholen.

Von Kirsten Serup-Bilfeldt | 06.09.2013
    "An Seine Hoheit, den Lord Protector des Commonwealth von England, Schottland und Irland: Ergebenes Gesuch des Menasseh Ben Israel, Rabbiner und Arzt, für die Sache der jüdischen Nation."

    Das "Gesuch" für die "Sache der jüdischen Nation", das Menasseh Ben Israel dann in London vorträgt – das ist die Bitte an Oliver Cromwell, sich für eine Wiederaufnahme von Juden nach England einzusetzen. Vielleicht einigermaßen überraschend bei einem Mann, dessen Image für viele Menschen nicht unbedingt dem eines Vorkämpfers für Toleranz entspricht:

    "Das ist zum Teil ein Zerrbild Cromwells: Er war am Ende wider Willen eine Art Militärdiktator, aber man darf ihn nicht nur an seinen Feldzügen in Irland messen. Er war sicherlich keiner, der nun auf massenhafte Unterdrückung seiner Gegner aus war. Es gibt tatsächlich bei ihm eine persönliche Toleranz und einen tiefen Glauben, der sich mit diesem Ideal der Toleranz verbindet. Das darf man nicht unterschätzen."

    Sagt Ronald Asch, Professor für Neuere Geschichte an der Universität Freiburg.
    Und so kommt es, dass nach dem Ende der hohen jüdischen Feiertage Anfang November 1655, eine kleine Delegation Amsterdamer Juden voller Hoffnung auf diese Toleranz nach London reist. Ihr Oberhaupt, der Rabbiner der Amsterdamer sephardischen Gemeinde und enger Rembrandt-Freund Menasseh Ben Israel, hat auf dieser Reise etwas ganz Besonderes im Gepäck: eben die auf steifem Pergament verfasste Petition an den Lord Protector Oliver Cromwell und das englische Parlament.

    Aus England waren die Juden im Jahr 1290 von König Eduard I. nach einer langen Serie von Verfolgungen vertrieben worden. Das Land wurde so zum ersten europäischen Staat, der seine Juden auswies. Zwar blieben etliche von ihnen – ursprünglich spanischer oder portugiesischer Herkunft – dennoch im Land, ließen sich aber taufen und lebten fortan als eine Art "Scheinchristen".
    Die Ausweisung der englischen Juden, der in den folgenden Jahrhunderten auch ihre Ausweisung aus anderen Ländern folgte, bildete den Auftakt für ein ruheloses Umherwandern jüdischer Flüchtlinge quer durch Europa – immer auf der Suche nach Zuflucht, nach einem Auskommen:

    "Cromwell lag eben eine Petition von Menasseh Ben Israel vor, die ihn bat, die Juden wieder zuzulassen. Das Interessante ist, dass Menasseh Ben Israel recht selbstbewusst da auftrat und etwa hervorhob, die Engländer oder die englischen Protestanten glaubten ja an denselben Gott wie die Juden. Und alle die, die die Juden geschützt hätten, seien auch von Gott belohnt worden in der Geschichte und die, die es nicht getan hätten, seien eher bestraft worden – also, eine leise Drohung, wenn man so will. Und diese Petition und andere Bemühungen haben dann Cromwell bewogen, als Lord Protector sich beraten zu lassen in dieser Frage."

    Diese "Beratungen" finden auf der Whitehall-Conference statt. Im Dezember 1655 versammelt sich eine erlauchte Gesellschaft von Politikern, Theologen, Juristen und Kaufleuten, um sich mit Menasseh Ben Israels Petition zu befassen, und um das Für und Wider einer Wiederzulassung von Juden in England eingehend zu diskutieren.

    Die Gespräche der sogenannten Whitehall Conference beginnen am 18. Dezember 1655 im Palast von Whitehall, seit 1530 Hauptresidenz britischer Monarchen. Ein Augenzeuge von damals notiert:

    "An diesem Tag wurde in einem der Wohnräume in Whitehall unter dem Vorsitz Seiner Hoheit eine Konferenz über die Juden abgehalten. Vor fast 400 Jahren waren sie verbannt worden; sollen ihnen nun wieder Wohnsitz und Handel zugestanden werden?"

    Die Antwort auf diese Frage fällt keineswegs eindeutig aus. Einwände kommen zunächst von einigen Theologen und dann vor allem – und sehr massiv – von den Londoner Kaufleuten, die eine mögliche jüdische Konkurrenz fürchten. Sie wissen genau, dass viele ihrer jüdischen Kollegen über weitreichende Handelsverbindungen bis hinein in die Neue Welt verfügen.
    Menasseh Ben Israel ficht das nicht an. Er stellt klare Forderungen: die Einrichtung öffentlicher Synagogen, freie Religionsausübung, eigene Begräbnisstätten und die Abschaffung der alten antijüdischen Gesetze. Juden, so bittet er in seiner Schrift, sollten künftig die Freiheit haben, mit ihren Familien und ihrem Besitz in England so zu leben wie die Engländer auch:

    "Graunting them libertie to come with their families and estates, to bee dwellers here with the same eaquallnesse and conveniences which your inland subjects doe enjoy ... "

    Doch bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Und einer der mit Stolpersteinen gepflastert ist – etwa in Gestalt eines gewissen William Prynne, eines rigiden Calvinisten und Presbyterianers.
    Der war bereits unter König Karl I. unangenehm aufgefallen, weil er dessen Frau Henrietta Maria, eine Katholikin, scharf angegriffen hatte. Ihm hatte nämlich missfallen, dass die Königin eine modisch gekräuselte Lockenfrisur trug und bei höfischen Maskenspielen als Schauspielerin auftrat. Wegen Beleidigung der Königin hatte man ihn folglich nicht nur zeitweilig verbannt, sondern ihm auch die Ohren abgeschnitten.

    Was ihn aber keineswegs davon abhält, nun auch bei der Whitehall-Conference Öl ins Feuer zu gießen, um die Wiederzulassung der Juden zu verhindern:

    "Noch schlimmer war natürlich für ihn der Gedanke, dass sich hier eine nichtchristliche Gemeinde bilden könnte – eine jüdische Gemeinde! Das Schreckbild für Leute wie Prynne war immer Amsterdam, eine Stadt, die nun tatsächlich recht tolerant war, wo es viele Juden gab, wo es Katholiken gab, wo es Lutheraner, Baptisten usw. gab. Das ist nun eigentlich eine Art Babylon, ein Sündenbabel, aber auch eine Stadt, wo eben alles möglich ist, die groteskesten Irrlehren öffentlich verbreitet werden können. Und die Wiederzulassung der Juden – das war aus Prynnes Sicht ein weiterer Schritt in die falsche Richtung."

    Der Judenfeindschaft Prynnes und der misstrauisch-skeptischen Haltung der Londoner Kaufmannschaft steht auf der anderen Seite ein gewisser Philosemitismus gegenüber, der sich auf die intensive Beschäftigung radikal-pro-testantischer Kreise mit dem Alten Testament gründet.

    Aber noch eine Entwicklung begünstigt die jüdische Sache: die Tatsache, dass auf englisch-puritanischer und auf jüdischer Seite zwei eschatologische Naherwartungen zusammenkommen. Ronald Asch:

    "Bei den englischen Puritanern hatte sich die Hoffnung auf ein baldiges Weltende, die direkte Herrschaft Christi in der Welt, zugespitzt – etwa bei den 'Fifth-Monarchy-Men', denen Cromwell zeitweilig nahestand, ohne ihnen zuzugehören. Er war kein Chiliast im eigentlichen Sinne, aber in seinem Umkreis gab es solche Leute, und man ging davon aus, dass für diesen Beginn der Herrschaft Christi auf Erden die Bekehrung der Juden eintreten müsse. Und interessanterweise gab es eine ähnliche Naherwartung auf jüdischer Seite bei Menasseh Ben Israel, der der Ansicht war, dass erst die Juden über alle Länder der Welt verteilt sein müssten, bevor der Messias kommen könne. Also, es ging natürlich um eine Erleichterung des Loses der Juden generell, aber es ging auch um die Erwartung des Kommens des Messias."

    Und einen weiteren, wenn auch reichlich skurrilen Grund gibt es, um für die Rückkehr der Juden nach England zu plädieren. Einen Grund, den die Petition mit dem Schlagwort "lost tribes", also die "verlorenen Stämme" Israels benennt:

    "Menasseh Ben Israel hatte vor dieser Petition die Nachricht erhalten, man habe in Südamerika Indianer gefunden, die Juden seien. Das stimmte natürlich nicht, aber diese Nachricht war ihm zugegangen und man vermutete in diesen Indianern einen der versprengten, verlorenen Stämme Israels. Und er sah darin ein Zeichen, dass sich der Zustand nähere, wo man überall auf der Welt Juden finden könne – nur England fehlte noch. Es steht wirklich in seiner Petition: Es müssten sich nun auch in England Juden ansiedeln, damit der Messias kommen könne."

    Ob Cromwell, der Pragmatiker, sich von solchen Argumentationen wirklich leiten ließ, scheint fraglich. Eher trifft es wohl zu, dass der Lord Protector grundsätzlich ein Befürworter von Toleranz war – auch wenn sein Toleranzverständnis noch ein anderes war als das des 19. und 20. Jahrhunderts:

    "Er misstraute allen kirchlichen Organisationen, die dem Einzelnen irgendeinen Glauben vorschrieben. Die Toleranz, zumindest die innerchristliche, war ihm sehr wichtig – gut, die Katholiken waren ein Sonderfall. Sie wurden aber in England unter Cromwell eigentlich auch nicht so sonderlich heftig verfolgt. In Irland sah das anders aus. Und die religiösen Kreise, denen er nahestand, die 'Independenten' und auch die politische Bewegung der 'Levellers', die nicht auf einer Linie lag mit Cromwell, aber die auch diesem radikalen puritanischen Flügel angehörte, verlangten ausdrücklich individuelle Toleranz. Dahinter steht sicher nicht die moderne Vorstellung von Glaubensfreiheit, aber ein sehr individualistisches Verständnis von Christentum."

    Cromwells Verständnis von Christentum schloss nun die Juden nicht unbedingt ein, erleichterte aber dennoch die Diskussion über ihre Wiederzulassung.

    So legte die "Whitehall-Conference" den Grundstein zu dieser Wiederzulassung: im Jahr 1664 führte sie zu einer offiziellen Charta über den Schutz der Juden in England.

    Da war der Rabbi Menasseh Ben Israel bereits sieben, der Lord Protector Cromwell sechs Jahre tot.