Donnerstag, 25. April 2024

Archiv


Rütteln am Dogma

Mit seiner Entdeckung der Quasikristalle biss Dan Shechtman Anfang der 80er buchstäblich auf Stein. Denn damals herrschte in seiner Zunft die Überzeugung: Kristalle sind immer periodisch, alles andere ist Unfug.

Von Volker Mrasek | 05.10.2011
    Wie das oft so ist mit wissenschaftlichen Errungenschaften: Am Anfang steht oft der Zufall. Bei Dan Shechtman war das nicht anders im Frühjahr 1982. Der israelische Materialwissenschaftler, damals 41 Jahre jung, experimentierte mit metallischen Legierungen aus Aluminium und Mangan.

    "Er wollte eigentlich metallische Gläser herstellen durch schnelles Abschrecken."

    Heraus aber kam ein kristallines Material, wie sich Walter Steurer erinnert, heute Professor für Kristallografie an der ETH Zürich.

    Shechtman selbst war hochgradig erstaunt. Im Röntgenstreubild nahm er das Resultat seines Experimentes genauer unter die Lupe.

    "Es war am frühen Morgen. Ich schaute mir das Material an, und es kam mir sehr komisch vor. Ich machte dann eine genauere Aufnahme im Labor. Das sah ganz nach einer fünfzähligen Symmetrie aus. Und ich dachte: Nein, das kann überhaupt nicht sein!"

    Damals herrschte das Dogma: Kristalle sind periodische Anordnungen der immer gleichen Grundbausteine. Und die sind vielleicht drei-, vier- oder sechseckig. Sie können aber niemals fünf Ecken haben. Denn dann bekäme man keine geschlossenen Kristallgefüge ohne Hohlräume hin. Hieß es jedenfalls damals.

    Daniel Shechtman rüttelte an diesem Dogma. Zunächst erfolglos, wie Walter Steurer erzählt:

    "Zwei Jahre hat er gebraucht, bis er das publizieren konnte, weil ihm das niemand geglaubt hat. Von der Seite gab es sehr, sehr viele Widerstände zu durchbrechen, bis das akzeptiert war."

    In dieser Zeit zwischen 1982 und 1984 muss sich der frisch gekürte Nobelpreisträger fast wie ein Aussätziger vorgekommen sein:

    "Einige Jahre lang war ich ganz allein. Man machte sich lustig über mich. Meine Kollegen behandelten mich schlecht. Und der Leiter unseres Labors kam zu mir, grinste verlegen, legte mir ein Lehrbuch auf den Tisch und sagte: Danny, warum liest du nicht das hier? Dann würdest du sehen, dass es unmöglich ist, was du da behauptest. Er hat mich dann aus seiner Gruppe hinausgeworfen. Angeblich, weil ich sie blamiere. Er konnte es nicht ertragen, dass man sagte: Dieser Unfug kommt aus eurem Team!"

    Was es für Shechtman nicht leichter machte: Viele namhafte Forscher wandten sich gegen den jungen Kollegen. Dazu der Physiker und Kristallografie-Experte Michael Baake von der Universität Bielefeld, der Shechtman schon häufiger auf Tagungen getroffen hat:

    "Der berühmteste Gegensprecher war Linus Pauling, selber zweifacher Nobelpreisträger, der also meinte, das sei ein wohlbekannter Effekt, Verzwilligung von Kristallen. Und Shechtman hat also dann den mühsamen Nachweis erbracht, dass dem nicht so ist, dass das eine neue Struktur ist."

    Am Ende setzte sich der in Tel Aviv geborene Rebell durch, die Kristallografie-Lehrbücher mussten zwar nicht komplett umgekrempelt, aber um ein neues Kapitel ergänzt werden.

    In diesem Jahr feierte Daniel Shechtman seinen 70. Geburtstag gleich zweimal unter Forscherkollegen. Im Frühjahr in Israel. Und im Sommer in den USA. Noch heute pendelt der Chemie-Nobelpreisträger zwischen den beiden Ländern. Walter Steurer war bei den Geburtstagsfeiern dabei und hielt jedes Mal eine Festrede.

    "Wir haben einfach uns gefreut über die schöne Zeit, die eben diese Quasikristallforschung mit sich brachte. Das war eine neue Herausforderung für die Kristallografie und verwandte Wissenschaften. Die hat wieder Leben reingebracht in das Ganze und ganz neue Perspektiven eröffnet."