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Rufe nach neuem Wahlrecht

Siegfried Brugger, Abgeordneter der Südtiroler Volkspartei in der Abgeordnetenkammer, hält eine Wahlrechtsreform in Italien für unabdingbar. Mit dem geltenden Wahlgesetz sei es schwierig, stabile Verhältnisse zu bekommen, analysierte Brugger die Lage nach dem Rücktritt Romano Prodis vom Amt des Ministerpräsidenten. Auch Umberto Ranieri von der Partito Democratio plädiert für ein neues Wahlrecht.

Moderation: Christoph Heinemann | 25.01.2008
    Christoph Heinemann: Die Messe ist gelesen für Romano Prodi. Italiens Ministerpräsident hat gestern erwartungsgemäß die Vertrauensabstimmung im Senat verloren. Seine Regierung verfügt zwar in der Abgeordnetenkammer über eine Mehrheit, aber nicht mehr im Oberhaus des Parlaments.

    Quo vadis Italia? - Am Telefon ist Siegfried Brugger. Er ist für die Südtiroler Volkspartei Mitglied der italienischen Abgeordnetenkammer. Die SVP gehört zwar nicht der Regierungskoalition an. Die drei Abgeordneten und die drei Senatoren unterstützten gleichwohl Ministerpräsident Prodi. Guten Morgen, Herr Brugger!

    Siegfried Brugger: Guten Morgen, Herr Heinemann!

    Brugger: Übergangsregierung oder Neuwahlen. Wie geht es jetzt weiter in Italien?

    Brugger: Schwierig zu sagen. Natürlich wird der Staatspräsident heute die Konsultationen beginnen. Er wird versuchen, eine Übergangsregierung zu machen, denn eines ist ganz klar: Mit diesem Wahlgesetz ist es schwierig, stabile Verhältnisse zu bekommen in Italien. Deshalb versucht man, ein neues Wahlgesetz noch zu verabschieden und dann zu den Neuwahlen zu gehen. Aber der Unterschied ist höchstens ein paar Wochen. Entweder früher oder später geht man zu Neuwahlen.

    Heinemann: Und der Regierungschef einer möglichen Übergangsregierung wäre wieder Romano Prodi?

    Brugger: Das ist eine der Möglichkeiten. Die andere ist, dass es etwa der Senatspräsident ist oder ein anderer hoher Politiker, Kammer- oder Senatspräsident, oder eine von beiden Seiten akzeptierte politische Persönlichkeit. Das ist aber im Prinzip eher einerlei, denn der Weg ist vorgezeichnet: etwa noch ein Wahlgesetz und dann sofort zu Neuwahlen.

    Heinemann: Herr Brugger, rechnen Sie damit, dass Silvio Berlusconi bald wieder Hausherr im Palazzo Chigi sein wird, dem Amtssitz des Ministerpräsidenten?

    Brugger: Aufgrund der Umfragen auf jeden Fall, und die Umfragen sind ja sehr, sehr gut für ihn, dass er sowohl in der Abgeordnetenkammer als auch im Senat satte Mehrheiten bekommen könnte. Aber wie gesagt: Aufgrund des sehr komplizierten Wahlsystems gerade im Senat, im Oberhaus, könnte es wie gesagt auch sein, dass er eine nicht so große Mehrheit im Senat hat. Dann würde es zu denselben politischen Verhältnissen kommen wie jetzt mit Prodi. Das hieße, dass es weiterhin eine nicht gerade große Stabilität in Italien geben würde.

    Heinemann: Was hat Prodi falsch gemacht, dass Berlusconi in den Umfragen so gut dasteht?

    Brugger: Prodi selbst hat sehr wenig falsch gemacht. Prodi ist einer der guten Politiker Italiens. Prodi hat leider eine Koalition um sich sammeln müssen, um eine Mehrheit im Staate zu bekommen. Somit geht der Fehler, wenn man so will, bereits auf das Jahr 2006 zurück. Mit einer bunten Koalition, die von ganz links bis zu moderat rechts geht, ist es natürlich schwierig, immer wieder Synthese zu bilden. Prodi hat alles versucht. Prodi hat ja relativ gute Wirtschaftszahlen in diesem Jahr zu Stande gebracht, und Italien war auf dem Weg der Sanierung, hat viel, viel bessere Zahlen, als es Berlusconi in fünf Jahren zusammengebracht hat. Aber Italien und die Italiener sind ein eigenes Land, und manchmal wird man dafür bestraft, dass man versucht, zumindest den Staatshaushalt zu sanieren.

    Heinemann: Die scheidende Regierung war die 61. Nachkriegsregierung in Italien. Wir haben vor dieser Sendung ein kurzes Gespräch geführt mit Umberto Ranieri, dem Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses des Abgeordnetenhauses. Er gehört der Mitte/Links-Partei Partito Democratio an. Ich habe ihn gefragt, wieso es in Italien so viele Regierungskrisen gibt?

    Umberto Ranieri: "Das Beunruhigendste am politischen System Italiens ist die starke Zergliederung, es gibt Parteien und Splitterparteien, kleine Gruppen, welche die Arbeit der Regierung für das Land stark einschränken. Dieses Problem kann nur durch ein neues Wahlgesetz gelöst werden."

    Heinemann: Wäre in Italien eine Große Koalition nach deutschem Vorbild denkbar, wie sie der Christdemokrat Pier Ferdinando Casini vorgeschlagen hat?

    Ranieri: "Der politische Kampf findet in Italien in einer sehr rauen Atmosphäre statt. Ein tiefer Riss geht durch das Land. Es wäre nicht einfach, die politischen Kräfte, die sich seit mehr als zehn Jahren so hart bekämpfen, zu einer Großen Koalition zusammenzufügen. Ich wäre nicht dagegen. Eine Phase der Stabilität, verbunden mit einer großen Mehrheit, könnte für Italien nützlich sein. Man muss aber auch Realist sein. Dies zu erreichen, wäre mit großen Schwierigkeiten verbunden."

    Heinemann: Welche Erklärung haben Sie dafür, dass der frühere Ministerpräsident Silvio Berlusconi in den Umfragen die Nase vorn hat?

    Ranieri: "Wenn man die Opposition führt und mit den Mitteln der Propaganda und des Populismus arbeitet, kann man einen guten Platz in den Umfragen erlangen. Aber ich glaube nicht, dass dies für das Land hilfreich ist."

    Heinemann: Die Zeitung "La Repubblica" beschrieb Italien in diesen Tagen wenig schmeichelhaft: ein Land der Anormalitäten, der politischen Unbeweglichkeit mit Müllbergen und kleinen persönlichen Racheakten. Ist die Zweite Republik am Ende?

    Ranieri: "Italien ist ein großes Land, voller Energie, mit Menschen, die hart und fleißig arbeiten. Nicht von ungefähr gehört das Land zu den hochindustrialisierten. Heute durchlebt Italien eine Krise und Schwierigkeiten und zahlt für einen Fehler: Unser Land vermochte es nicht, für besser funktionierende Institutionen zu sorgen, die den neuen Anforderungen der italienischen Gesellschaft entsprechen. Das ist der Grundfehler, dass keine institutionellen und Wahlrechtsreformen durchgeführt wurden, die unser Land benötigte. Ich bin aber sicher, dass Italien über die Energie und die Fähigkeit verfügt, sich zu erholen und auch wieder eine wichtige Rolle auf der europäischen und der internationalen Bühne zu spielen."

    Heinemann: Umberto Ranieri von der demokratischen Partei, er ist der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des italienischen Abgeordnetenhauses. Und Mitglied dieser Kammer ist ebenfalls Siegfried Brugger von der Südtiroler Volkspartei. Herr Brugger, warum ist es so schwer, den Einfluss der kleinen Parteien zu begrenzen?

    Brugger: Wirklich weil wirklich ein sehr schlechtes Wahlgesetz haben, wo auch eine Kraft, eine politische Partei mit 0,5 oder 0,6 Prozent, wie es jetzt diese so genannte Mastella-Partei war, die ja zur Regierungskrise geführt hat, die hat dann einen Einfluss: Drei Stimmen können den Unterschied machen, und die zählen dann für Mehrheit oder für Opposition. Das ist sicher eines der Grundübel. Mein Kollege Ranieri hat das sicher richtig auf den Punkt gebracht. Es fehlen institutionelle Reformen. Es fehlen Staatsreformen, aber das weiß Mitte/Links und Mitte/Rechts seit vielen Jahren, und es ist ja nicht so, dass nur Mitte/Rechts alles falsch gemacht hat. Auch diese Koalition und diese Mehrheit hat einiges versäumt, gerade auch Reformen zu machen. Jetzt ging es ja darum, ein neues Wahlgesetz zu machen, wie gesagt nach deutschem Modell, wo es zwar große Parteien gibt, aber wo auch kleinere Parteien, Kleinparteien, möglich sind und ein Gewicht haben. Das entspricht in etwa auch den italienischen Gegebenheiten, und insofern wäre das genau das Richtige. Nur wird diesmal wahrscheinlich wiederum die Voraussetzung fehlen. Es fehlt der Staatssinn, diese Reform auch durchzuziehen.

    Heinemann: Nun also Berlusconi ante portas. Seit der Auflösung der ewigen Regierungspartei Democratia Christiana in den 90er Jahren verfügt Italien über keine bürgerliche Volkspartei mehr, jedenfalls nicht neben den Postfaschisten, der Alleanza Nazionale und dieser virtuellen Berlusconi-Partei. Wieso hat es das bürgerliche Italien nicht mehr geschafft, sich politisch zu organisieren?

    Brugger:! Weil in den letzten Jahren natürlich zwei Umstände vorwiegend waren: einmal, dass eine große politische Kraft wie die Democratia Christiana, die sehr stabil war mit all ihren Facetten, plötzlich aufgelöst wurde durch Justizskandale beziehungsweise durch große auch gerichtliche Eingriffe. Und auf der anderen Seite: Die Alternative Berlusconi war, der diesen politischen Bereich oder die politische Mitte in die Hand genommen hat. Nur Berlusconi ist kein normaler Politiker der Mitte, selbst wenn seine Partei in der Europäischen Volkspartei mit dabei ist, sondern er ist natürlich ein Leader, er ist eine Ein-Mann-Partei. Er bestimmt alles, und insofern hat er nicht die Tradition einer normalen Volkspartei, die wohl Pier Ferdinando Casini vom UDC hätte, aber das ist wiederum eine Partei, die ist bei vier Prozent. Insofern gibt es derzeit einfach keine Voraussetzungen auch personeller Natur, eine große starke Volkspartei zu haben - genau das, was Italien heute am meisten notwendig hätte.

    Heinemann: Herr Brugger, andere Länder andere Sitten. Im Senat haben die Berlusconi-Anhänger gestern Abend nach der Bekanntgabe des Ergebnisses die Prosecco-Korken knallen lassen. Zuvor wurde über Handgreiflichkeiten im Hohen Haus berichtet. Fühlen Sie sich manchmal etwas fremd im politischen Rom?

    Brugger: Ja natürlich schon, denn das, was da manchmal abläuft, und das, was gestern geschehen ist, dass Ohrfeigen ausgeteilt werden, dass herumgespuckt wird, das ist natürlich allerschlechtester Stil. Ich muss sagen, wir haben gerade aus der Sicht Südtirols hier sehr wenig Verständnis. Unsere Partei ist ja als Minderheitenpartei der Südtiroler in Rom, und wir versuchen vor allen Dingen die Interessen unseres kleinen Landes wahrzunehmen. Das machen wir mit allen Konsequenzen. Auch aus diesem Grund zählen wir nicht zu einer dieser großen Blockparteien, sondern wir unterstützen höchstens, wenn das Programm stimmt und die Vereinbarungen richtig sind, eine Regierung von außen.

    Heinemann: Siegfried Brugger, Abgeordneter der Südtiroler Volkspartei in der italienischen Abgeordnetenkammer. Dankeschön für das Gespräch und auf Wiederhören.

    Brugger: Danke auch.


    Die Antworten von Umberto Ranieri wurden aus dem Italienischen übersetzt./