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Ruges DDR-Familiensaga auf der Bühne

Stephan Kimmigs Inszenierung von Eugen Ruges Roman "In Zeiten des abnehmenden Lichts" bleibt fragmentarisch. Das Stück kann die Verschränkung von biografischer Geschichte und Gesellschaftsgeschichte nicht liefern, die im Buch ein schlüssiges Mosaik ergibt.

Von Eberhard Spreng | 01.03.2013
    Alles beginnt mit Amnesie, mit dem greisen Vergessen. Da krallt sich ein alter Mann mit Gewalt an eine Aluschale mit dem Essen auf Rädern, die ihm der Sohn erst auf den Tisch gestellt hatte und nun wieder wegnehmen will.

    Wie im Roman beginnt auch die Theaterversion mit der Retrospektive, denn der DDR-Historiker Kurt Umnitzer ist 2001 nur noch ein 80-jähriges Wrack, das mit klapprigen Schritten über den Bühnenboden schlurft.

    Bernd Stempel spielt den Mann, der in der Familiensaga quasi die mittlere Generation verkörpert. Er muss damit die auffälligsten Alterssprünge vollziehen im Laufe eines Theaterabends, der in Eugen Ruges eigner Bühnenadaption dem im Jahre 1952 beginnenden Roman-Zeithorizont getreulich folgt.

    Kurts Sohn Alexander spielt Alexander Khuon, mit wirrem Bart und wirren Blicken. Seine Augen suchen unentwegt nach einem Anderswo, das auf dem von zwei gewaltigen Schrankwänden eingefassten Spielraum nicht zu finden ist.

    Katja Haß hat in diese Holzwände Schubladen, ein Klappbett und Regale eingebaut. Ein qualmender Herd, ein Plattenspieler, ein Schwarzweiß-Fernseher kommen bei Bedarf zum Vorschein. Er zeigt spanisch kommentierte Bilder vom New Yorker World Trade Center am 11. September 2001. Aber die multiperspektivische Verschränkung von biografischer Geschichte mit Gesellschaftsgeschichte will sich trotz dieser Hinweise auf Anekdotisches nicht einstellen. Der Bühne gelingt nicht der Blick ins historische Umfeld. Kurts demokratischer Sozialismus, die poststalinistische Erstarrung seines Stiefvaters Wilhelms, die konzeptlose Revolte seines Sohnes Alexander, all das erschließt sich anders als im Roman nicht dank historischer Resonanzräume. Es bleiben Behauptungen innerhalb einer kammerspielartigen Situation in einem zeit- und ortlosen Hier-und-Jetzt.

    Bernd Stempel gelingt allerdings mit seinen Erinnerungen an seine russische Lagerhaft ein eindringlicher Moment. Vor allem die von Margit Bendokat verkörperte Schwiegermutter Nadjéshda Iwánowna errichtet mit der ihr eigenen Sprachbeherrschung mit wenigen Worten eine Welt jenseits des Schrankwand-Biedermeiers.

    Und wenn erst mal das Kartoffelkraut brennt, dann, ja – dann beginnt sie: die Zeit des abnehmenden Lichts. Mitte Oktober hat Nina Geburtstag. Der erste Schnee. Dann werden Pelmeni gemacht, dann wird gefeiert. Die
    Deutschen reden ja lieber. Aber in Slawa, da gibt’s auch nicht viel
    zu erzählen. Gesungen haben wir, zuerst die lustigen Lieder, dann
    waren die traurigen Lieder dran, gut für die Seele ... Schön war’s,
    das Leben.

    So wie Kurts Schwiegermutter ihr Leben mit Erinnerungen an die verlorene Heimat zubringt, so bringt dessen Sohn Alexander seines mit der Suche nach dem Ort zu, der Heimat werden könnte. Er flüchtet aus der ersten Ehe in eine verlassene, herunter gekommene Wohnung im Prenzlauer Berg, noch vor der Maueröffnung in den Westen und schließlich, schwer erkrankt, nach Mexiko auf der Suche nach Mythen, die er seit seiner Kindheit Dank in sich trägt und damit zum Ort des einstigen großelterlichen Exils. Immer wieder isoliert sich diese Schlüsselfigur des Roman bei Familientreffen und Weihnachtsfeiern, von denen insbesondere die des Jahres 1991 in einer Katastrophe endet.

    "Ich bin korrumpiert? Du hast vierzig Jahre lang
    geschwiegen! Vierzig Jahre lang hast du es nicht gewagt, über deine
    wunderbaren Jahre zu berichten im Vaterland aller Werktätigen!"
    "Das mache ich schon noch."
    "Ja, jetzt, wo es keinen mehr interessiert!"
    "Was hast du denn getan! Wo waren denn deine Heldentaten!"
    "Scheiß auf eine Welt, die Helden braucht!"

    Kurt und Sohn Alexander, endgültig entzweit nach wiederholten Streitgesprächen, halten sich gegenseitig das Scheitern von Lebenshaltungen vor.

    Altstalinist Wilhelm Powileit verkörpert Christian Grashoff mit ungezügeltem Hang zur großen Pose. Er ist eine Karikatur des Patriarchen, knabbert demonstrativ an den von Nadjéshda Iwánowna eingelegten Gurken und verschluckt sich fast am eigenen Brustton. Gabriele Heinz spielt dessen Frau Charlotte, immer bemüht, trotz ihres herrschsüchtigen Mannes mit eigenen Leistungen in Erscheinung zu treten. Kurts Frau Irina verkörpert Judith Hofmann; sie sucht Trost im Alkohol und angesichts des häufig untreuen Ehemanns in der Nähe zu ihrem Sohn Alexander, dessen Rübermachen in den Westen sie nicht verschmerzen kann.

    Alle Figuren dieser Familie warten im dunklen Bühnenhintergrund unterhalb einer Sammlung von DDR-Lampen auf ihre Auftritt in einer multiplen Familiengeschichte, deren stets hin- und her springende historische Zeitpunkte sie selbst ankündigen.

    Und doch: Ein schlüssiges Mosaik ergibt sich so nicht; zu verschieden sind die Spielkulturen, zu unverbunden die Fragmente auf der familiären Beziehungslandkarte.