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Ruhiggestellt mit Ritalin

Das Amphetamins Ritalin soll als Zaubermittel wirken und einen unaufmerksamen Zappelphilipp in einen Musterschüler verwandeln. Doch Ritalin macht Kinder auch lethargisch und gleichgültig. So stören die Kinder zwar nicht mehr in der Schule, aber ihre Persönlichkeit kann sich nicht entwickeln.

Von Susanne Arlt | 11.10.2008
    Biounterricht in der sechsten Klasse der Ulrich von Hutten Gesamtschule. Zwölf Mädchen und Jungen schauen aufmerksam auf die Tafel. Klassenlehrerin Heike Heumann nimmt gerade das Thema Ernährung durch. Auf den Tischen der Kinder stehen Cornflakes, Milchtüten, Tomaten- und Orangensäfte. Die Aufgabe: In welchen Lebensmitteln sind Ballaststoffe?

    "Darf ich das dran schreiben."

    "Nin, nein, Chris, aufpassen, dass er das alles richtig macht, Chris, sprich mal mit mir."

    Chris sitzt in der letzten Stuhlreihe. Sein Platz neben ihm ist leer. Der Junge mit dem schmalen Gesicht ist ein Einzelgänger. Heike Heumann nickt dem Zehnjährigen freundlich zu. Langsam läuft er zur Tafel, nimmt ein Stück Kreide und schreibt mit großen Druckbuchstaben: Cornflakes, Reis, Gemüse. Heike Heumann nickt Chris anerkennend zu. In der Klasse fällt der Zehnjährige sonst kaum auf. Oft sitzt er gedankenverloren auf seinem Platz, starrt verträumt durchs Fenster, kritzelt auf ein Blatt Papier. Vor einigen Jahren diagnostizierte der Arzt bei Paul die Krankheit ADHS. Trotzdem bekommen die anderen Schüler kaum etwas davon mit.

    Seit Jahren nimmt der Zehnjährige Tabletten, die sein Aufmerksamkeitsdefizit und seine Hyperaktivität unterdrücken. Die Folge, sagt seine Lehrerin, seinen oft Lethargie und Gleichgültigkeit. Anders sieht es aus, wenn der Gymnasiast seine Tabletten nicht einnimmt.

    "Der ist dann sehr aggressiv, macht nicht das, was man von ihm möchte, zappelt. Alles, was in seiner Umgebung passiert, wird gleich gewertet. Nicht das, was der Lehrer sagt, wird als das Wichtige erfasst, sondern auch die Fliege am Fenster oder irgendwas anderes, was ihn ablenkt. Sehr zappelig und vor allem sehr langsam."

    Heike Heumann fühlt sich oft wie in der Zwickmühle. Auf der einen Seite tut ihr der Junge leid. Durch die Einnahme des Amphetamins Ritalin sind seine motorischen Fähigkeiten deutlich schlechter geworden. Die Schrift an der Tafel wird mit jedem Buchstaben größer, der Zehnjährige lernt viel langsamer. Auf der anderen Seite sollen die Mitschüler in ihrem Unterrichtsstoff vorankommen.

    "Was glauben Sie, wie oft wir manchmal zusammensitzen und sagen, es ist eigentlich schlimm, was man mit manchen Menschen macht, wenn man Tabletten gibt. Denn es ist ja auch ihre Persönlichkeit, die sich nicht entwickeln kann. Ja aber zum anderen, was will man machen. Für meine Arbeit ist das so besser. Und ich hab es ja auch gemerkt, als sie die Tabletten abgesetzt hat, ich möchte es nicht jeden Tag vor mir haben sechs Stunden. Und dann ist es nicht wie jetzt, dass er sich zurückhält, sondern dass er dann aus sich herausbricht."

    Die Schulleitung hat inzwischen beschlossen, die Leistungen von Chris anders zu bewerten. Bei Klausuren muss der Zehnjährige nicht alle Aufgaben lösen. Er darf sie später mündlich nachholen. Wir gehen auf Chris ein, sagt Heike Heumann, beeinflussen dabei aber nicht wirklich den Unterricht. Und, betont seine Lehrerin, in der Klasse werde der Zehnjährige zum Glück nicht gehänselt.

    Auf die Ulrich von Hutten Gesamtschule gehen insgesamt 770 Schülerinnen und Schülern. Bei fünfzehn von ihnen wurde ADHS diagnostiziert, erzählt Schulleiter Günter Haas. Er unterrichtet seit 30 Jahren in Halle. Aber ADHS, sagt er, sei erst in den vergangenen zehn Jahren zu einem Thema an seiner Schule geworden. Der Leiter glaubt darum, dass die psychologisch begründeten Entwicklungsstörungen vor allem durch Reizüberflutung entstehen. Die Eltern, kritisiert er, fordern, dass man auf ihre Kinder eingehen soll, in den Zeugnissen aber darf davon nichts stehen. Die fachlich gestellte Diagnose kann und will Günter Haas nicht in Frage stellen. Trotzdem beschleichen den Lehrer manchmal Zweifel.

    "Manchmal könnte auch der Eindruck erweckt werden, dass es sehr, sehr leicht gemacht wird, ein Kind diese Beeinträchtigung zuzuordnen, und dass dadurch auch mit dem Feststellen die ganze Sache erledigt ist. Mein Kind hat eine Beeinträchtigung, ich habe das schriftlich, nun bitte nehmt alle Rücksicht."

    Der Verdacht erhärte sich vor allem dann, wenn von den Eltern keine weitern Hilfen wie beispielsweise Entspannungstherapien in Anspruch genommen werden. Darum bemühen sich Klassenlehrer wie Heike Heumann, zu den Eltern dieser Kinder ein besonderes Verhältnis aufzubauen. Denn nur gemeinsam, sagt Günter Haas, könne man den betroffenen Kindern das Lernen an der Schule erleichtern.

    Informationen zur Sendung PisaPlus vom 11. Oktober 2008:
    Liebsein auf Rezept. ADHS - eine Modediagnose?