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Ruhrfestspiele
Annäherung an rechtsradikale Gedankenwelten

Erst Volksfest, dann Hochkultur: Bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen zeigt "Das Heerlager der Heiligen" nach Jean Raspail ein gelähmtes Europa. Das Stück geht mit den Mitteln derber Satire der Frage nach, wie rechtsradikales Denken entsteht.

Von Stefan Keim | 05.05.2019
Szenenausschnitt der Aufführung "Das Heerlager der Heiligen" von Jean Raispail bei den Ruhrfestspielen 2019 in der Regie von Hermann Schmidt-Rahmer, bei dem auf der Bühne vier Männer und zwei Frauen in einem Raum mit gedeckter Tafel stehen und Gewehre im Anschlag haben. Vorne im Bild liegen unzählige rosafarbene Miniplastikbabys auf dem Boden. Über der Szene prangt ein Banner, auf dem in alten Lettern steht: Once upon a time in Europa.
Szene aus der Aufführung "Das Heerlager der Heiligen" nach Jean Raspail zum Auftakt der Ruhrfestspiele (Robert Schittko)
Eine alte Frau steht an einem riesigen Tisch. Sie bereitet ein Essen für tausend Leute zu. Einige Tänzer und Musiker helfen ihr. Die Performance "Beytna" des libanesischen Choreographen Omar Rajeh beginnt ganz unspektakulär.
Schließlich greifen die Musiker zu ihren Instrumenten, und es gibt einige Tanzszenen, während die Köchin weiter arbeitet. Besonders originell sind die Choreographien nicht, eine Stunde lang wirkt das Stück belanglos und folkloristisch. Dann laden die Tänzer das Publikum auf die Bühne ein. Das Essen wird verteilt und nun ändert sich die Stimmung. Es entsteht eine fröhliche Party, dann drängeln sich die Tänzer durch die Besucher und schaffen sich Raum. Der Tisch wird verschoben, die Musiker spielen. Der Titel "Beytna" bedeutet im Libanon eine Einladung. So ist die Eröffnungspremiere der Ruhrfestspiele zu verstehen, als Geste der Gemeinschaft.
Parade der Vielfalt
Der neue Intendant Olaf Kröck will das Festival öffnen für partizipative Formen. Gestern Nachmittag gab es auf dem Rathausplatz eine weitere Performance. In "What is the City but the People" spazierten über 150 Bürgerinnen und Bürger über einen großen, gelben Laufsteg, während einige Sätze über sie auf Projektionsflächen zu lesen waren. Leider passierte das bei strömendem Regen und geöffneten Schirmen, die den Blick versperrten. Eine Parade der Vielfalt, die vom Publikum begeistert angenommen wurde.
Die Zahl der Aufführungen, die bei den Ruhrfestspielen Premiere haben, ist im Gegensatz zu den Vorjahren stark reduziert. Das Festival ist eine Woche kürzer, weil einer der Hauptsponsoren sein Engagement zurückgefahren hat. Dafür ist das Profil des Programms schärfer und hat einen klaren politischen Akzent.
So auch die erste Schauspielpremiere, eine Bühnenfassung des umstrittenen Romans "Das Heerlager der Heiligen". Der heute 93-jährige französische Monarchist Jean Raspail hat 1973 eine derbe Satire auf ein handlungsunfähiges, von seinen Selbstzweifeln gelähmtes Europa veröffentlicht. Hundert Schiffe voller Geflüchteter landen in Südfrankreich, die Armen überfluten das Land. Die meisten Franzosen fliehen in den Norden. In einem Herrenhaus an einem reich gedeckten Tisch sitzen vier Männer und zwei Frauen. Sie wollen auf die Fremden schießen und das Abendland verteidigen. Empathie und Mitleid lehnen sie ab.
Politisch unkorrekt und geschmacklos
"Leichtfertige Nächstenliebe ist in erster Linie eine Versündigung gegen sich selbst. Wenn man etwas hergibt, wenn man diesen Elenden, Armen, Ausgehungerten etwas spendet, dann fühlt man sich nicht besser. Nein. Man fühlt sich erniedrigt und beschämt."
Regisseur Hermann Schmidt-Rahmer und Dramaturgin Maron Tiedtke bringen nur Ausschnitte des Romans auf die Bühne. Sie konzentrieren sich auf die Frage, wie rechtsradikale Gedankenwelten entstehen. Jean Raspail beschreibt die Sexualität der Fremden und einige Kampfszenen mit stark erotischen Untertönen und im Tonfall einer hemmungslosen Landser-Kolportage. Der Roman "Das Heerlager der Heiligen" ist keine realitätsnahe Satire, sondern eine triebgesteuerte Fantasie, politisch unkorrekt und oft geschmacklos. Das nutzt die Aufführung, um zu zeigen: Mit rationalen Argumenten oder Fakten haben diese Leute nichts zu tun. Auch als am Ende eine Frau sagt, es gebe gar keine Armada der Geflüchteten, lässt sich davon niemand beeindrucken.
"Das Volksempfinden muckt auf. Haha. Deftig, primitiv, ungerecht. Ein Wort: gesund!"
Das kraftvolle Ensemble des koproduzierenden Schauspiel Frankfurt erspielt mit starker körperlicher Präsenz immer wieder Momente, in denen etwas von der Verführungskraft einer Gemeinschaft zu spüren ist. Weil sie scheinbar einen Ausweg aus der Bedeutungslosigkeit und Lächerlichkeit bietet. "Das Heerlager der Heiligen" ist einer der bisher überzeugendsten Annäherungen des Theaters an das Denken und Fühlen der radikalen Rechten. Und der erste künstlerische Höhepunkt der Ruhrfestspiele.