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Ruhrfestspiele Recklinghausen
Vom Wahnsinn der Beschleunigung

Die Ruhrfestspiele Recklinghausen melden sensationelle Besucherzahlen und feiern den herausragenden künstlerischen Erfolg des Jahrgangs 2014. Die letzte aufgeführte Premiere war Michel Decars "Jenny Jannowitz" - das den Kleist-Förderpreises 2014 gewonnen hatte.

Von Dorothea Marcus | 13.06.2014
    Halle der Ruhrfestspiele in Recklinghausen, Blick vom Boden auf ein Glasgebäude, im Vordergrund eine Skulptur
    Mit knapp 83.000 Besuchern spielte man 2014 das zweitbeste Ergebnis in der Geschichte der Ruhrfestspiele ein. (dpa/picture alliance/Jan-Philipp Strobel)
    Es ist ein Stück zur heutigen Zeit. Eine atemlose Farce über den Wahnsinn der Flexibilität, die beschreibt, was passiert, wenn wir das Leben immer weiter beschleunigen, unendlich mobil sind, uns die Optionen erschlagen. Wer könnte sich da nicht wieder erkennen.
    Heiter-schnelle Sätze mit absurden Zeitsprüngen
    "Jenny Jannowitz" von Michel Decar erfasst in heiter-schnellen Sätzen und absurden Zeitsprüngen auch formal sehr gut die Tragik heutiger Bewusstseinszerfaserung. Die Hauptfigur, der junge IT-Mann Carlo Collmar, hat gerade den ganzen Frühling verschlafen. Oder: nicht mitbekommen vor lauter Effizienzsteigerung. Als er herausfinden will, was passiert ist, bekommt er keine Antwort: Sein Chef gibt ihm frei, weil die Firma so viel erreicht hat, seine Mutter redet auf ihn ein, seine Freundin war gestern doch noch mit ihm im Kino. Aber welche war es überhaupt? In einer einzigen Szene ändern sich die Namen seiner Begleiterinnen ständig: Sibille, Sabynne, Sabine, Saskia. Austauschbare Amouren mit S. Genauso wenig unterscheidbar sind sie wie die Flughäfen des eigenen Jetlag-Lebens. Die Zeit rauscht, im Bemühen sie immer schneller einzufangen, verpasst man sie.
    "Diese Insel hat überhaupt nichts mit meinem Leben zu tun. Und diese Wohnung hat überhaupt nichts mit meinem Leben zu tun. Und heute Morgen habe ich aus dem Fenster geschaut und diese Stadt angeschrien, was sie denn mit meinem Leben zu tun hat. Und letzte Woche war ich in China beim Schlittschuhlaufen, da hab ich mal direkt gefragt, was die denn mit meinem Leben zu tun haben, aber das wussten sie auch nicht. Und dann bin ich nach Südamerika geflogen, ein Kontinent, der komplett nichts mit meinem Leben zu tun hat. Das wäre ja auch grotesk. Und dann hab ich mir meinen Lebenslauf ausgedruckt, um zu wissen, was da überhaupt los ist, aber der hatte überhaupt nichts mit meinem Leben zu tun! Mutter-Mutter: Jetzt übertreibst du aber."
    Souveränes Spiel und rasante Hamsterrad-Hektik
    Allein Jenny Jannowitz - oder, wie sie im Untertitel heißt, "Der Engel des Todes", geistert als Gegenentwurf durch das Stück, holt Carlo immer wieder ein, guckt mit ihm in den Himmel, hält mit ihm inne – und schickt ihn schließlich in den Tod. Endlich eine Ruhestätte. Das Stück "Jenny Jannowitz" spielt souverän und rasant mit Zeitsprüngen und Ortswechseln, Jahre sind Minuten und Kontinente Zentimeter. Wir können nicht heraus aus der Hamsterrad-Hektik.
    Regisseurin Catja Baumann hat auf die Bühne drei Setzkasten-Regale gestellt, flexibel wie heutige Wohn-Einheiten. Pappschilder bezeichnen Requisiten, Möbel und Orte: Das Leben ist eben zweidimensional geworden, wenn man vor lauter Selbstoptimierung nicht mehr das Jetzt spürt.
    Leider austauschbar
    Doch die Koproduktion der Ruhrfestspiele Recklinghausen mit dem Staatstheater Braunschweig wird dem Wahnsinn nicht gerecht. Michel Decars Selbstentfremdungs-Parabel wird bei Regisseurin Catja Baumann zu einer biederen Glitzer-Revue. Als plappernde Pappkameraden turnen die Figuren durch die Handlung. Sie tanzen Cancan, quetschen sich in die Regale, reden auf Karlo ein. Eine einzige Schauspielerin ist seine austauschbare Freundinnen-Schar, Rike Weniger wirft ein Haarteil nach dem anderen ab und hat stets den gleichen quengelnden Forder-Ton. Man trifft sich für einen Knopfdruck-Orgasmus minutenweise im Flughafen-Hotel - und wenn es zu Ende ist, auch nicht schlimm.
    Carlo Collmar: Dann sag ich's jetzt gerade heraus: Ich trenne mich. Svenja: Von was? Carlo Collmar: Von dir! Svenja: Das überrascht mich etwas. Carlo Collmar: Das tut mir leid. Svenja: So hab es nicht gemeint. Carlo Collmar: Nein? Svenja: Ehrlich gesagt, hatte ich nie das Gefühl, dass wir zusammen sind. Carlo Collmar: Also ich hatte das schon. Svenja: Ich dachte, das ist eher etwas Lockeres. Carlo Collmar: Das stimmt doch gar nicht! Svenja: Ich dachte, wir wollten uns nicht mit irgendwelchen Abhängigkeiten belasten. Carlo Collmar: Doch natürlich, ich belaste mich grundsätzlich gerne."
    Man möge ihm eine zweite Chance geben
    Doch der größte Fehler der Inszenierung ist, dass sie die Figur Jenny Jannowitz nicht genug von den Karikaturen der anderen abhebt. Auch Bea Brocks trägt Step-Schuhe und ist eine Kirmes-Zauberin in schwarz-weiß, sie zappelt auf Carlo Collmars Rücken herum und führt ihn schließlich in den Tod. Eine Alternative ist das nicht: Hinter den Regal-Einheiten warten auch nur künstliche Glitzersterne und blaue Theatervorhänge. „Die Zahl der Erlebnisoptionen zu steigern, ist unsere Antwort auf das Todesproblem geworden", sagt der Soziologe Hartmut Rosa im Programmheft. Doch genau diese philosophische Dimension des Stücks geht im Geplapper unter. Man möge ihm noch eine zweite Chance geben.