Freitag, 19. April 2024

Archiv

Ruhrtriennale
Klingende Kraftzentrale

Von Frieder Reininghaus | 16.08.2014
    Unterm Stichwort der Materie arrangierte das Libretto des Komponisten Texte und Episoden aus verschiedenen Ecken der Historie, vorwiegend der Niederlande. Der Begriff meint - auch hier - zunächst ganz allgemein Stoff, Thema oder Bauholz, dann in weiterem Sinn auch Ursache. Bei den Philosophen und Physikern steht er von Alters her für den Grundstoff aller Dinge dieser Welt, unabhängig von ihrer Erscheinungsform. Gerade Letzteres öffnete der Inszenierung ein weites Feld und ermöglicht dies nun, nachdem das Stück erstmals über die Landesgrenzen hinausgelangt, neuerlich.
    Für den ersten Akt ließ der Ausstatter Klaus Grünberg so etwas wie ein Feld- oder Zeltlager auf die sehr tiefe und breite Spielfläche installieren, über der mittelgroße Luftschiffe schweben. Von Links singt ein Konvent von Deputierten die wichtigsten Essenzen der Niederländischen Unabhängigkeitserklärung von 1588, von rechts agitiert ein Prediger.
    "De Materie" markiert den Übergang von holländischer antibürgerlicher Alternativ-Kunst zu repräsentativer, gleichsam halbstaatlicher. Das Schlüsselwerk von 1989 signalisiert eine Wende - in den Kunst- und auch in den Lebenskonzepten einer überwiegend nicht sonderlich streng idealistisch-marxistisch, sondern eher pragmatisch geprägten holländischen Linken.
    Ein erratisch schönes Bild eröffnet sich in der surrealistischen Landschaft des zweiten Akts: Auf der vordersten von vielen einfachen, tief gestaffelt aufgestellten Sitzbänken zelebriert Hadewjich, eine Nonne des 13. Jahrhunderts, ein hoch erotisches und durchaus körperbetontes Liebesgedicht. In dunkles Tuch gehüllte Statisten formieren sich hinter der weit ausholenden Ariensängerin zu Säulen oder sonstigen kleinen Monumenten - im Prinzip uniform und doch jeweils ein bisschen individuell. Aufs weite Feld der in den Industriekunstraum geholten Natur führen Grünberg und Regisseur Goebbels insbesondere mit dem Beginn des vierten und letzten Akts: Hundert Schafe und ein Schäfer aus dem Raum der Landeshauptstadt Düsseldorf wurden aufgetrieben und verbreiten zu dem in hohem Maß von den nordamerikanischen Minimalisten Philip Glass, Terry Riley und Steve Reich inspirierten Tonsatz stoisch-bukolische Ruhe.
    Eingeschrieben sind der Szenenfolge als Kontrast zur Freiheitsdeklaration eine Bauanleitung für die Handels- und Kriegsschiffe ums Jahr 1600, Textpassagen von und zu Piet Mondrian, den Perfektionsgrad der graden Linie im Unterschied zur Kreislinie betreffend, und der mit dem Nobelpreis ausgezeichnete Chemikerin Marie Curie. Auch diese elegische Szene wurde durch eine von den Bläsern dominierte, höchst gestische und immer wieder hörbar querständige Musik ausgezeichnet, die Peter Rundel tadellos dirigiert. "De Materie" hätte durchaus verdient, in den Kanon der bedeutenden europäischen Opern aufgenommen zu werden.
    In scharfem Kontrast zur Andriessen-Musik vom Ende des kurzen heftigen 20. Jahrhunderts wurde die berühmteste vom Anfang der gebeutelten Moderne aufgeboten: Romeo Castellucci präsentierte eine Installation zu Igor Strawinskys "Le Sacre du printemps". Die Musik kommt aus den Lautsprechern – tough und prägnant. Vom Plafond der Gebläsehalle rieselt aus Kästen bzw. Tonnen feines staubiges Granulat – Knochenmehl von Rindern, das als landwirtschaftlicher Dünger Verwendung findet. Vielleicht sollte man doch endgültig Vegetarier werden.