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Ruhrtriennale
Pasolinis "Accattone" als bewegendes Musiktheater

Mit seiner Adapation des Pasolini Films "Accattone" als Musiktheater für die Ruhrtriennale ist Johan Simons eine komplexe und kluge Inszenierung gelungen, die bewegt und zum Nachdenken anregt. Kraftzentrum des Abends ist dabei die Musik von Johann Sebastian Bach.

Von Ulrike Gondorf | 15.08.2015
    Über 200 Meter dehnt sich die Fläche der Kohlenmischhhalle vor der Zuschauertribüne aus. Wie ein Tunnel mit rußigen Wänden. Das seitlich einfallende Abendlicht malt helle Felder auf den steinigen, staubigen Boden. Ein Schienenstrang zieht sich durch den ganzen Raum bis zum gegenüberliegenden offenen Ende. Dort wächst ein Birkenwald. Die Natur holt sich die Ruinen der aufgegebenen Arbeitswelt zurück auf der Zeche Lohberg.
    Die Gestalten, die langsam aus diesem Hintergrund auftauchen, wirken klein und verloren: Accattone und seine Freunde. Arbeitslose, Zuhälter, Kleinkriminelle, Menschen, die längst vom unteren Rand der Gesellschaft noch weiter abgestürzt sind in ein bodenloses Nichts. Mal ein kleiner Einbruch: "Schnell, da kommt wer, ein Lastwagen, das ist genau, was wir brauchen."
    Oder man lebt auf Kosten einer Frau, die auf den Strich gehen muss. Bis sie einem ein anderer wegschnappt. Verlässlichkeit, gar Gefühl gibt es nicht in dieser Welt. "Aber morgen oder übermorgen, braucht bloß einer kommen, der 'n besseres Herz hat, und schon kriegt er sie rum, dann sitz ich im Knast."
    Eine "Accattone-Passion" als Soundtrack für die Verlorenen
    Pier Paolo Pasolini hat die Geschichte von Accattone in seinem ersten Film erzählt, 1961. Schon damals setzte die Musik von Johann Sebastian Bach einen befremdlichen Kontrast zur Gewalt und Verwahrlosung in diesem Drama, das Pasolini an der tristen Peripherie Roms angesiedelt hatte. Auch Johan Simons holt Bach hinein in diese Hölle.
    Auf einem Podest mitten in der Mondlandschaft dieser Industriehalle sitzt eins der weltbesten Ensembles für Alte Musik, das Collegium Vocale Gent unter der Leitung von Philippe Herreweghe. Mit Arien und Chorälen aus verschiedenen Bach-Kantaten entwickeln sie eine Art "Accattone-Passion" als Soundtrack für diese Verlorenen. Mitten in der Wüste eine Insel von Sinn und Ordnung, Hoffnung und Erlösung. Selten hat man die utopische Kraft dieser Musik so eindringlich gespürt wie in der Kohlenmischhalle Lohberg.
    Johan Simons bezeichnet seine Inszenierung von "Accattone" als Musiktheater, und das trifft zu. Denn auch wenn die Musiker des Collegium Vocale in gar keiner Weise szenisch agieren und die Schauspieler auch nicht direkt mit ihnen in Beziehung treten, kann gar kein Zweifel daran bestehen, dass Bach das Kraftzentrum dieses Abends ist. Ein Sinnangebot, das die verrohten und entwurzelten Personen dieses proletarischen Dramas nicht nutzen können und das doch auch für sie da ist und dessen befreiende Verheißung ihnen gilt.
    Gewalt bleibt Kopfkino
    Johan Simons Inszenierung ist komplex und klug. Den filmischen Realismus Pasolinis holt er nicht auf die Bühne. Die Schauspieler erzählen nur aus Accattones kurzem Leben: von seinen Betrügereien und Angebereien, seinen riskanten Aktionen und den vielen Gewalttaten, die so heftig und plötzlich aufflammen - der Regisseur versucht gar nicht, das nachzuspielen. Exzesse von Brutalität wie der Anschlag auf Accattones Freundin Maddalena bleiben Kopfkino.
    Parallel dazu läuft eine zweite Handlungsebene: Sie ist reines Körpertheater, phasenweise nähert sie sich dem Tanz. Dieser körperliche Ausdruck offenbart die inneren Vorgänge. Und je auswegloser die Geschichte wird, umso klarer zeigt sich in Haltungen und Bewegungen die Gebrochenheit, die Trauer, der Selbsthass, die Einsamkeit dieser Menschen, die große Leere, die sie ausfüllt. Die Riesigkeit der Halle, der Staub, den jede Bewegung aufwirbelt, die Dunkelheit, die im Laufe des Abends die Außenwelt ganz verschlingt und den Raum in eine schwarze Unendlichkeit übergehen münden lässt, steigern die beklemmende Wirkung. Der Tod hat da keinen Schrecken mehr.
    Johan Simons blickt mit mehr Empathie auf Accattone und seine Welt, als Pasolini das getan hat. Der Abend bewegt und regt zum Nachdenken an. Künstlerisch ist dem Intendanten der Auftakt zu seiner Ruhrtriennale überzeugend gelungen. Die Bach-Interpretation des Collegium Vocale Gent ist von makelloser Perfektion und Klangschönheit. Und die Schauspielerinnen und Schauspieler um Steven Scharf als Accattone und Sandra Hüller als Maddalena begeistern mit ihrer Ausdrucksfähigkeit, die weit über die Sprache hinausgeht.